Kirchenbann
Im neunzehnten Jahrhundert, im Vormärz, trieb die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag schöne Blüten und es schien, als könne alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Ist es die Ungläubigkeit, daß tatsächlich geschehen ist, was geschah, die uns immer wieder zur Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zurückkehren läßt, so als ließe sich, wenn wir nur recht hinschauen, die Sache noch wenden, und das trotz augenfälliger Schwächen mancher Autoren? Sebalds Austerlitz diagnostiziert kolportagehafte Züge bei Balzac, Benn unangebracht Pläsierliches bei Fontane. Tolstoi allerdings, der Gigant der Erzählliteratur des Jahrhunderts, bietet kaum ernstliche Angriffsflächen. Zumal in Krieg und Frieden, Война и миръ, ist es, als ginge er sorgfältig und unter Vermeidung aller schriftstellerischen Sperenzchen in einer Prosa mit herbem Ewigkeitsklang die Schöpfung, the playground of the Lord, noch einmal durch, vor allem, aber nicht ausschließlich die den Menschen, dem vermeintlichen Protagonisten, betreffenden Passagen. Er erkennt das Herrliche, das Schlechte und das Ambivalente, festgemacht etwa an Natascha Rostowa und den anderen Rostows, an Pierre Besuchow, Marja Bolkonskaja und den anderen Bolkonskis als den Guten, an Anatole Kuragin und den anderen Kuragins als den Schlechten, an Dolochow als dem Zwiespältigen. Immer wieder wird das Seelenleben Einzelner sorgfältig buchstabiert, sei es nun das reiche Herz der Fürstin Marja, als es zur Liebe erwacht, sei es das gänzlich leere Gemüt der Gräfin Elena. Die Wege der Einzelnen lassen sich also recht gut verfolgen, auch wenn sie nicht ohne Überraschungen sind, ergeben sie doch Sinn, der Weg der Menschheit aber ist dunkel. Schon bei der Zahl zwei wird es unübersichtlich, Adam und Ewa, dann Kain und Abel, Mord und Todschlag, offenbar passen die Menschen nicht zueinander. Noch undurchsichtiger die größeren Gruppierungen bis hin zur Gesellschaft der Gesellschaft. Das Gesellschaftsleben der Elite, exemplarisch verkörpert von Anna Pawlowna Scherer und dem Fürsten Wassili Kuragin, ist nichts als sinnloser Leerlauf, Pierre Besuchow nimmt eifrig teil an dem Treiben, versteht aber rein gar nichts, er ist ein Meister des Nichtverstehens dort, wo es nichts zu verstehen gibt. Daneben verläuft, so notiert Tolstoi, ungerührt das reale Leben der Menschen mit ihren wesentlichen Interessen wie Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Ausruhen, mit ihren Interessen am Denken, an der der Wissenschaft, der Poesie, der Musik, der Liebe, Freundschaft, Haß und Leidenschaft. Die Menschheit hat ihr Geschick keineswegs in der Hand, sie wird von unsichtbaren Kräften geleitet, Krieg ebenso wie Frieden ist ihr Geschick. Tolstois Revision der Schöpfung hat einen sichtbaren Erfolg im Kirchenbann, der über ihn, den Revisor, verhängt wird. Was die Entwicklung anbelangt, so hätte vieles kommen und anders kommen können, eine auf immer mehr Warenproduktion, Handel und Akkumulation sich ausrichtende Gesellschaft war im weitgehend agrarisch orientierten Rußland noch nicht erahnbar, noch weniger das Intermezzo der zu Sowjetbürgern gewordenen Russen, die auf eine Entfesselung der Produktionskräfte setzen würden.
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