Auf dem Kopf
Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg, auf der Liste der gelungensten Eingangssätze sollte dieser ganz oben stehen. Die Schwindel.Gefühle sind ein Gebirgsbuch beginnend mit dem Satz: Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36 000 Mann über den großen St. Bernhard. Zweimal, auf dem Weg von Wien nach Venedig, überwindet der Erzähler selbst das europäische Hochgebirge, im Zug und bei Nacht, so daß er sich nicht anstrengen muß und auch wenig zu sehen bekommt. Die erste Fahrt hatte, wie er sagt, kaum eine Spur in seinem Gedächtnis hinterlassen, die zweite noch weniger, geschwinder als er es je für möglich gehalten hätte verging ihm über seinen Aufzeichnungen die Zeit, und er kam erst wieder zu Bewußtsein, als der Zug von Mestre aus auf dem Eisenbahndamm die Lagune überquerte. Das sah für den Maler Tiepolo sicher anders aus, als er in bereits vorgerückten Alter 1750 von Venedig über den Brenner gezogen ist, um dann über Tels hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durch das Illertal ins Unterland zu nehmen. Tiepolos Reise geht dem Erzähler durch den Sinn, als er sich selbst, nachdem er die Höhe von Oberjoch mit dem Bus erreicht hatte, auf den Abstieg nach W. begibt, zunächst den Alpsteigtobel hinab nach Krummenbach. Im Tobel standen gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten die Hänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Ähnlich erlebt Lenz den Gang durch’s Vogesengebirge. Das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel hingen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Erleben ist nicht das richtige Wort, er geht gleichgültig dahin. Es war ihm unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Das geht, man spürt es gleich auf dieser ersten Seite, über bloße Schwindelgefühle weit hinaus.
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