Sonntag, 27. Mai 2012

Buch der Wandlungen

Schimären

Der Leser wird die Schwindelgefühle, auf die sich einzustellen der Titel - die Frage seiner eigenartigen Schreibweise beiseite gelassen – ihm nahelegt, vor allem anderen der eingestandenen schlechten Allgemeinverfassung des Selysses zuschreiben. Schwindlig könnte dem Leser aber schon werden, bevor er noch den Selysses trifft, nämlich als Stendhal, der mit der vermutlich fiktiven Mme Gherardi ohnehin aus der Realität ausgetreten ist, in Riva am Gardasee Zeuge wird, wie zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen gerade eine Bahre an Land trugen, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. Schwindel wird den Leser allerdings nur dann so recht ergreifen, wenn er Kafkas Schriften gut genug kennt, um in dem Mann auf der Bahre den Jäger Gracchus zu erkennen, von dem niemand bislang für möglich gehalten hätte, daß Stendhal ihm leibhaftig, wenn auch im fiktiven Raum, begegnet ist.
Immer wieder treffen wir in den Schwindel.Gefühlen auf Gestalten, Wieder- oder Doppelgänger, an Stellen, wo sie fehl am Platz sind. In Wien, in der Gonzagagasse, glaubt Selysses den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante zu erkennen. Längere Zeit ging er, um einiges größer als die übrige Passanten und doch ganz unbeachtet von diesen, ein Stück weit vor ihm her mit der bekannten Kappe auf dem Kopf. In Venedig besteigt Selysses ein Vaporetto und trifft dort auf Ludwig II. in Begleitung einer Zwergin, wahrscheinlich durch das Wasser hierhergekommen, in die città inquinata Venezia merde.

In diesen beiden Fällen handelt es sich um literarisch harmlose Formen des Wiedergängers, die sich auf der realistischen Erzählebene mühelos auflösen lassen. Offenbar liegt nur eine äußerliche, wenn auch frappierende Ähnlichkeiten zugrunde, die Annahme einer geisterhaften Verwandtschaft zwischen Original und Double wird dem Leser nicht zugemutet. Im Falle der Kafkazwillinge im Bus nach Riva wird nicht einmal der sprachlichen Form nach suggeriert, sie seien Kafka: Kurz vor Abfahrt stieg ein Junge von etwa fünfzehn Jahren ein, der auf die unheimlichste Weise, die man sich denken kann, den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm, soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied.

Weitaus intrikater ist naturgemäß die überwiegend subkutan verlaufende Entwicklung der Geschichte vom Jäger Gracchus. Kafka selbst hält auf dem Dachboden einen Doppelgänger in Gestalt des Jägers Hans Schlag bereit, der sich völlig unverändert auf dem Dachboden der Tante Mathild in der Ortschaft W. wiederfindet: Eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf. Ein starker Schurrbart breitete sich steif aus. Gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt. Auf dem Schoß lag ein gebogener kurzer Säbel im mattleuchtender Scheide. Die Füße staken in gespornten Schaftstiefeln, ein Fuß war auf eine umgestürzte Weinflasche gestellt, der andere auf dem Boden war etwas aufgerichtet und mit Ferse und Sporn ins Holz gerammt – so stellt er sich auf beiden Dachböden dar. Bald darauf finden wir ihn, vom Dachboden herabgestiegen, in der Gaststube des Engelwirts, wo ihn der Knabe Selysses kennenlernt, und wiederum wenig später nur stürzt er in einem Tobel außerhalb seines Reviers zu Tode. Eine bei der Leichenschau entdeckte, am Oberarm eintätowierte Barke gibt ihn als den Jäger Gracchus zu erkennen. Das alles erschließt sich aber nur dem, der Kafkas in den Tagebüchern verborgenes Prosafragment (Oktavheft A, 1:17) vom Jäger Hans Schlag auf dem Dachboden kennt.

Eine vergleichbare teilweise unterirdische Existenz führt auch der Heilige Georg. Einerseits tritt er in den Bildwerken Pisanellos klar und hell die Oberfläche, wenige aber sind darauf vorbereitet, ihn in Wartezimmer des Deutschen Konsulats in Mailand anzutreffen und auch wohl eine Minderzahl nur wird ihn dort überhaupt erkennen. Zwar hat San Giorgio seinen Namen nur einer schlichten Metathese zu Giorgio Santini unterzogen, das eigentliche Erkennungszeichen, das er in den Händen hält und einmal links herum, einmal rechts herum dreht, ist dem Leser an dieser Stelle noch gar nicht vorgestellt worden als der wirklich wunderbare formvollendete weitkrempige Strohhut, der Pisanellos Bild San Giorgio con cappello di paglia seinen Namen gegeben hat.
Es ist immer eine besondere Lesefreude, solche unter der Textoberfläche verlaufenden Bezüge zu entdecken, man kann sich aber nicht darauf verlassen, daß der Text dadurch in jedem Fall klarer wird und das Dunkel sich lichtet. Der an sich schon rätselhafte Jäger Gracchus wird durch die Fusion mit dem Jäger Hans Schlag nur noch rätselhafter, und daß San Giorgio in der Neuzeit sein Brot als Hochseilartist verdient, stellt zusätzliche Anforderungen an das Verständnis. Zugleich wächst mit jedem aufgedecktem Versteck dieser Art die Sorge, andere übersehen zu haben. Diese Sorge ist aber insofern unnötig, als es gar nicht darauf ankommt, alle Verstecke zu finden, entscheidend ist das Gefühl, auf reichem Boden zu gehen. Fortwährend im Untergrund rumort, um nur das noch zu nennen, die Zahl Dreizehn, die von 1813 zu 1913 und schließlich zu 2013 mutiert entlang einer Zündschnur, die unsichtbar wie eine Natter durch das hohe Gras läuft.

Selysses, der zentrale Held des Buches ist keineswegs frei vom Doppelgängertum, auch wenn es bei ihm in dezenter, nicht gleich wahrnehmbarer Weise auftritt. So setzt er sich mithilfe einer recht weithergeholten, den 31. Oktober betreffenden Koinzidenz in Beziehung zu Casanova, nicht so sehr, was dessen beeindruckenden Leistungen auf dem Gebiet der Erotik als vielmehr was die beabsichtigte Flucht aus Venedig anbelangt. Nachhaltiges Doppelgängertum aber entwickelt Selysses erst, als ihm in Limone der Paß und damit die Identität abhanden gekommen ist. Ihm selbst scheint es mit der Wiedergewinnung der Identität nicht eilig zu sein, er wendet ein, daß er sich später auf dem Mailänder deutschen Konsulat einen neuen Paß und daß man sich nicht weiter um ihn bemühen solle. Als er dann sozusagen zwangsweise zum Polizeiposten gefahren wird, nutzt er geistesgegenwärtig die Situation und läßt sich, als der niemand, der er ist, mit Luciana Michelotti trauen. Die beiden können nun miteinander hinfahren, wo sie wollen. Auch mit dem neuen Paß versehen findet er nicht zu sich selbst zurück, und weiß bald nicht einmal zu sagen, ob er noch in der Landschaft der Lebendigen oder bereits an einem anderen Ort weile. Die unbeirrt mit sich selbst identischen Mailänder werden ihm zum Angelpunkt in einer taumelnden, kreisenden Welt, und es rettet ihn der Gedanke, daß es sich bei den kreuz und quer über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. In der Goldenen Taube in Verona dann trägt er sich als Jakob Philipp Fallmerayer ein und wir können nur rätseln, warum er den Historiker und Orientalisten zu seinem Doppelgänger oder, besser, sich zum Doppelgänger Fallmerayers erklärt. Von einer Aufhebung des Spuks wird nicht berichtet, und so hat Selysses wohl die kompletten ausgehenden Sommermonate in Verona als Fallmerayer verbracht.

Das Doppelgängermotiv verbreitet sich über das Buch ausgehend vom Erleben und Dichten Kafkas, wie in der Badereise vor Augen geführt: In der Gestalt Balduins, der Titelfigur des Films, würde er zweifellos seinen Doppelgänger erkannt haben, wie dieser ihn erkennt in dem unabweisbaren Bruder im dunklen Kleid, dem er niemals und nirgends entkommen kann. Schon in einer der ersten Szenen stellt sich Balduin, der beste Fechter von Prag, seinem eigenen Spiegelbild, und bald schon tritt dieses zu seinem Entsetzen aus dem Rahmen, um fortan als Gespenst seiner Friedlosigkeit mit ihm umzugehen. Mußte das Dr. K. nicht erscheinen als die Beschreibung eines Kampfes, in welchem, wie in jenem anderen auf Laurenziberg, die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält.

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