Dienstag, 8. Mai 2012

Lesegefährten

Stumme Solidarität

Denkt man sich aus dem Personal der Bücher die flüchtigen Reisebekanntschaften fort, die Mitreisenden etwa oder die Empfangsdamen, so wäre Sebalds Werk gründlich verändert und das nicht zum Besseren hin. Eine zahlenmäßig kleine Gruppe unter den Reisebekanntschaften bilden die Lesegefährten.

In Verona sucht Selysses eine Bibliothek auf, die an sich geschlossene ist, ein Umstand, der das Arbeiten in ihr in keiner Weise behindert, sondern vielmehr befördert. Selysses ging durch die Gassen der Stadt und fand sich auch sogleich vor der Biblioteca Civica. Obzwar eine Notiz am Portal dem Publikum avisierte, daß die Bibliothek während der Ferialmonate geschlossen sei, stand die Eingangstür doch weit offen. Freilich lag drinnen alles in einem so tiefen Dämmer, daß er sich zunächst nur tastend vorwärtsbewegen konnte. Auf einen Bibliotheksangestellten traf er erst, nach dem ich bereits eine Anzahl der mir seltsam hoch vorkommenden Türklinken vergeblich probiert hatte, in dem von einem milden Morgenlicht durchfluteten Lesesaal. Es war ein alter Herr mit sorgfältig gestutzten Haupt- und Barthaar, der sogleich von seinem Schreibpult aufschaute und sich nach seinem Begehren erkundigte. Nachdem er den Wunsch erfüllt hatte, saß er wieder ruhig über seine Arbeit gebeugt und füllte mit gleichmäßigen Schriftzügen die Zeilen, die er zuvor gezogen hatte. Offenbar hatte er sämtliche Einzelheiten, die er zur Erstellung der zusehends länger werdenden Liste benötigte, in seinem Kopf, denn ohne Zögern oder je in eine Vorlage zu sehen, schrieb er in einem fort. Die Blicke der beiden begegneten sich, als er einmal, da er wieder einen Bogen vollgeschrieben hatte, von seiner Arbeit aufsah und eine Streusandbüchse zur Hand nahm. Diese Geste, über die Selysses sich nicht wenig verwunderte, schien ihm in diesem Augenblick doch so vollkommen richtig und so sinnfällig, daß er seinerseits die unterbrochene Lektüre wieder aufnehmen konnte. – Offensichtlich haben wir es mit einer besonderen Form von Arbeitsgemeinschaft oder gar Symbiose zu tun, denn auf eine geheimnisvolle Weise ist es gerade die penible Vorgehensweise des Bibliotheksangestellten, die es Selysses ermöglicht fortzufahren mit dem eher planlosen Sichten der Veroneser Zeitungen aus dem Jahre 1913, eine Beschäftigung, die fortwährend Phantasiegebilde aus der Vergangenheit vor seine Augen zaubert, korrekt gekleidete Herren die heimlich zum Haut- und Geschlechtsarzt Dott. Ringger hineinspringen, eine blasse Patientin, die sich biegt und windet im Behandlungsstuhl des Zahnarztes Dott. Pesavento, ein Löwe, der mit seinem Gebrüll zehn Millionen Flaschen des Tafelwassers Ferro-China zerspringen läßt.

Nicht viel anders als in Verona geht es zu in Selysses’ bevorzugter Bibliothek in seiner englischen Wahlheimat, in der so gut wie nie ein Lesender anzutreffen ist. Es gibt hier ein kleines Häuschen oberhalb der Promenade, in dem der sogenannte Sailors’ Reading Room untergebracht ist, eine gemeinnützige Einrichtung, die, seit die Seeleute am Aussterben sind, in erster Linie als eine Art maritimes Museum gilt. An den Wänden hängen Barometer und Navigationsinstrumente, Galionsfiguren und Schiffsmodelle in Glaskästen und Flaschen. Auf den Tischen liegen alte Register der Hafenmeisterei, Logbücher, Abhandlungen über die Segelschiffahrt, verschiedene nautische Zeitschriften und Bücher mit Farbtafeln auf denen legendäre Hochseeklipper und Ozeandampfer wie der Conte di Savoia und die Mauretania abgebildet sind. Der Reading Room ist fast immer leer, bis auf ein, zwei der noch überlebenden Fischer und Seefahrer, die wortlos in einem der Lehnstühle sitzen und die Zeit verstreichen lassen. Am Abend spielen sie bisweilen im Hinterzimmer eine Partie Pool miteinander. Man hört dann das Klicken der Kugeln zu dem von draußen leise hereindringenden Rauschen des Meeres. Wenn Selysses in der Gegend ist, ist der Sailors’ Reading Room bei weitem sein liebster Ort. Besser als sonst irgendwo kann man hier lesen, Briefen Schreiben, seinen Gedanken nachhängen oder, während der langen Winterszeit, einfach hinausschauen auf die stürmische, über die Promenade hineinbrechende See. Beiläufig blätterte er zunächst in dem Logbuch des Wachschiffs Southwold, das ab Herbst vor dem Pier vor Anker lag. – Nach der geschlossenen und gleichwohl geöffneten Biblioteca Civica in Verona jetzt also der Sailors’ Reading Room in Southwold, in dem so gut wie nicht gelesen wird. Und doch fehlt es auch hier nicht an Lesegefährten, und es sind die emeritierten Seeleute, die wortlos in einem der Lehnstühle sitzen und die Zeit verstreichen lassen, die Selysses die Unerträglichkeit der Welt erträglich machen und den Mut, weiterzublättern in den Folianten und zu lesen von jeglicher Form des gewaltsamen Todes, vom Absturz eines einzelnen Luftpioniers über der Mündung der Somme bis zum Massensterben in den galizischen Sümpfen. Was ist das Lesen selbst anderes als eine allerdings sehr besondere Weise, die Zeit verstreichen zu lassen.
Normale Bibliotheksarbeit in einem offiziell geöffneten Bücherei inmitten einer Vielzahl von Lesern findet in Paris statt. Unter der Woche ging er tagtäglich in die Nationalbibliothek in der rue Richelieu, wo er meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an meinem Platz gesessen ist. Neben ihm saß meist ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllte er, ohne je zu zögern oder etwas durchzustreichen, eine seiner kleinen Karteikarten nach der anderen aus und legte sie in einer genauen Ordnung vor sich aus. Von seinem Arbeitsplatz in der Manuskripten- und Dokumentensammlung im ersten Stock blickte er herüber auf die hohen Fensterreihen des jenseitigen Traktes, in denen die dunklen Schieferplatten des Daches sich spiegelten, die schmalen ziegelroten Kamine, der strahlend eisblaue Himmel und die blecherne schneeweiße Wetterfahne mit der aus ihr ausgeschnittenen, blau wie der Himmel selbst aufwärts segelnden Schwalbe. Die Spiegelbilder in den alten Glasscheiben waren etwas gewellt und gekräuselt, und bei diesem Anblick sind ihm aus irgendeinem ihm unbegreiflichen Grund die Tränen gekommen. – Die Ähnlichkeit zwischen dem Bibliotheksangestellten in Verona und dem Lexikographen in Paris ist überdeutlich, bei beiden die gleiche metikulöse, unbeirrte Art des Vorgehens, beim Lexikographen auf eine nicht erreichbare Ewigkeit zugeschnitten. Wem das Lesen als die vielleicht tiefste Form des Erlebens erscheint, dem mag das Bild seiner Vergeblichkeit, gespiegelt in einer alten Glasscheibe, die Tränen in die Augen treiben.

Die verschiedenen Gruppen von Reisebekanntschaften sind nicht scharf voneinander getrennt, Mitreisende können Lesegefährten sein: Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerin hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Ich versuchte mich also selber zu üben in einer ähnlichen Bescheidenheit und holte den Beredten Italiener heraus, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache. – Hier ist man zum Reisen zusammengekommen und nicht zum Lesen, das Lesen dient nur der Überbrückung der Fahrzeit, Selysses zückt überdies den Beredten Italiener erst, nachdem es ihm nicht gelungen ist mit den beiden jungen Damen ins Gespräch zu kommen. Und doch ergibt sich ein besonders frohes Bild der Solidarität vielleicht nicht der Geistesarbeiter aber sehr wohl der Lesenden, und der Dichter tritt den Beweis an, daß in einem solch förderlichen Beisammensein auch eine Lektüre minderen Anspruchs einen schönen Ertrag abwerfen kann.

Salvatore, den Selysses mit einem Buch auf der Piazza Bra in Verona trifft, ist ein Leser, aber, zumindest in diesem Augenblick kein Lesegefährte. Rosalind Dakyns und Michael Parkinson sind, wenn man so will, langjährige Lesegefährten des Selysses, aber man liest nicht gemeinsam in einem für das Lesen bestimmten Raum, die katalysierende Wirkung simultaner Beschäftigung mit dem Buch bleibt aus. Man mag sich vorstellen, Selysses habe Rosalind Dakyns unbekannterweise bei einer Zugfahrt durch Frankreich getroffen, sie mit einem Band Flaubert, er mit einem Band Claude Simon in der Hand, in der Schweiz dann, nachdem er Simon gegen Keller ausgetauscht hat, trifft er Michael Parkinson vertieft in die Herrschaft des Bösen.
Marie de Verneuil tritt heraus aus der Reihe der Lesegefährten in die der Protagonistinnen, bei Sebald, der Hauptdarstellern und den Komparsen dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuspricht, kein so großer Schritt: An diesem Tag sei es auch gewesen, daß Marie, die wie er in der Dokumentensammlung arbeitete und seine seltsame Traueranwandlung bemerkt haben mußte, ihm einen Kassiber zuschob, mit dem sie ihn einlud auf einen Kaffee. In dem Zustand, in dem er sich befand, gab er sich keine Rechenschaft über die Ungewöhnlichkeit ihrer Handlungsweise, deutete vielmehr nur mit wortlosem Kopfnicken sein Einverständnis an und ging mit ihr durch das Stiegenhaus und über den inneren Hof auf die Bibliothek hinaus, durch einige der an diesem frischen Morgen von einer angenehmen Luft durchwehten Gassen bis hinüber zum Palais Royal, wo die beiden dann lange unter den Arkaden gesessen sind, unmittelbar neben einer Schaufenstervitrine, in der Hunderte und Aberhunderte von Zinnsoldaten in den bunten Monturen der Napoleonischen Armee in Marsch- und Schlachtformationen aufgestellt waren. - Ähnlich tritt Luciana Michelotti aus der Gruppe der Empfangsdamen und Wirtinnen heraus, als sie mit Selysses durchbrennt, um sich mit ihm vom Brigadiere in Desenzano trauen zu lassen, und die Winterkönigin, auch eine Leserin, tritt hervor aus der Gruppe der Mitreisenden, denn seitdem sie in Bonn aus dem Zug ausgestiegen ist, forscht Selysses nach dem Buch Das Böhmische Meer, das sie in der Hand gehalten hat, das aber, obschon für ihn von größter Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, ja, absolut nirgends verzeichnet ist.
Das tröstende Wort, es sei nur gut, daß ein Verstorbener dieses oder jenes nicht mehr habe erleben müssen, ist ein Zeichen unserer Hilflosigkeit gegenüber dem Tod, aber auch das Eingeständnis, daß wir nicht geschaffen sind für die Ewigkeit. Wollte man bei Sebald in diese Richtung denken, wäre vor allem anderen wohl an den drohenden Aufmarsch der elektronischen Bücher zu denken. Elektronisch ausgerüsteten Lesegefährten wäre seine Sprache wohl nicht gewachsen gewesen, jedenfalls nicht in friedlicher Form, die hier zusammengetragenen Szenen hätten entfallen müssen. Schon in der den Bedürfnissen eines jeden wahren Lesers kompromißlos entegegengesetzten Gebäude der neuen Pariser Nationalbibliothek hatte sich ein Lesen unter Gefährten als unmöglich erwiesen. Die kostbaren Augenblicke von Stille, Wehmut und Weltempfinden wären uns genommen.

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