Silberne weibliche Züge
Les deux sexes mourrons chacun de son côté
Les deux sexes mourrons chacun de son côté
Das ist also der offizielle San Giorgio und das Siegel seiner Identität. Kaum ein Leser aber wird sich mit dieser einen Abbildung zufriedengeben, und Christian Wirths sorgfältige und umfängliche Dokumentation macht es ihm leicht, sich die anderen im Text abgehandelten Erscheinungen San Giorgios vor Augen zu führen. Die szenische Abfolge der Auftritte San Giorgios ist uns vertraut, und wir haben bereits versucht, ihr eine Geschichte abzulesen. Hier soll es um Evidenzen und Geheimnisse seines Erscheinungsbildes gehen. Erstmalig begegnet und Georg auf Grünewalds Altarbild in der Pfarrkirche von Lindenhardt: Georgius Miles, Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen.
Indem Sebald sich an bildliche Vorgaben bindet, ist er in der Deutung Georgs nicht frei, ohne diese Vorgaben aber hätte er sich vielleicht mit der Figur nie beschäftigt. Eines der aufgegriffenen Erscheinungsmerkmale sind die weiblichen Züge des Helden. Im Kreise der heiligen Nothelfer sind die Frauen deutlich in der Unterzahl. Die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe stecken am Rand Tafel hinter dem Rücken des Georg ihre gleichförmigen orientalische Köpfe zu einer Verschwörung gegen die Männer zusammen. San Giorgio steht dicht bei den Frauen, zwischen ihnen und ihm geistert im Hintergrund nur der Heilige Blasius. Den Kopf freilich steckt er mit den Frauen nicht zusammen, sein Blick ist nach vorn gerichtet, denn er schickt sich an, über die Schwelle des Rahmens herauszutreten aus dem Bild. Wie auch auf den anderen Bildern schaut er keine Frau und auch sonst niemanden an.
In der Mitte des Bildes in der Chiesa Sant' Anastasia zu Verona die Principessa in einem Federkleid und San Giorgio, von dessen Rüstung das Silber abgeblättert ist, den aber der Glanz seines rotgoldenen Haupthaars noch umgibt.– Erneut, wie schon bei Grünewald, wird Giorgio rotgoldenen Haupthaar bestätigt, offenbar zur Bekräftigung seiner Identität, denn während man in Lindenhardt ohne weiteres zustimmt, würde man sich, nicht geleitet vom Dichter, in Verona eher auf fahl verständigen wollen oder gar auf semmelblond, wenn man nämlich zusätzlich berücksichtigt, daß Pisanello das die Haarfarbe deutlicher wiedergebende Bild San Giorgio con cappello di paglia offensichtlich nach demselben Modell oder Vorbild, diesmal im Profil, gemalt hat.
Der heilige Georg steht im Begriff, gegen den Drachen auszuziehen, und nimmt Abschied von der Principessa, die beiden stehen aber, getrennt durch den mächtigen Pferderücken, überraschend weit entfernt voneinander. Das Unglück selbst der androgynen Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter, und verbunden damit kommt nun auch das Spiel der Blicke ausdrücklich zu Sprache: Zum Erstaunen ist es, wie es Pisanello verstanden hat, den jäh heraustretenden, seitwärts schon auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges. Georg sieht die Principessa so wenig, wie er die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe gesehen hat; sieht die Principessa ihn, oder ist ihr Blick ganz nach innen gekehrt?
Wenden wir uns San Giorgio con cappello di paglia zu: Die obere Hälfte des Bildes ist fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist. - Das Thema der Weiblichkeit scheint gleichsam entwichen, es hat sich in die oberen Himmelsgefilde und damit hinter die Grenzen des alltäglichen Zugriffs verfügt. Der Heilige Antonius schaut, wie zu sehen und auch ausdrücklich vermerkt ist, den Ritter an, der aber schaut nicht zurück auf ihn. Sein Blick gleicht in seiner Beschlossenheit jetzt dem der Principessa zuvor, und was nach außen dringt an Sehvermögen, scheint an dem Eremiten vorbeizuzielen. Georgs Haupthaar wird nicht erwähnt, denn niemand könnte behaupten, es sei rotgolden.
In allen drei Bildwerken ist die Gestalt des Ritters von lichtem Glanz und Helligkeit geprägt, und das wird in der sogenannten realen Welt bei Giorgio Santini nicht anders sein. In ganz besonderem Glanz steht Giorgio auf dem Bild Con cappello: Von der glorreichen Erscheinung des Ritters geht etwas herzbewegend Weltliches aus. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat.
Beim sprachlichen Nachzeichnen eines Bildwerkes werden immer zahlreiche unbestreitbare Dinge aufgegriffen, andere ergeben sich aus der Deutung, die bei jedem Betrachter anders ausfallen kann. Unbestreitbar ist hier etwa, daß Antonius auf der einen und Georg auf der anderen Seite steht, und die Heilige Jungfrau über beiden schwebt. Unbestritten ist auch die helle, das Licht anziehende Erscheinung des Dichters. Wenn wir aber dem Eindruck der Schuld- und Schutzlosigkeit zustimmen, so ist das auch der Überzeugungskraft des Dichters geschuldet, dem diese Merkmale offenbar ganz besonders am Herzen liegen. Auf dem Veroneser Fresko, das Giorgio vor dem Drachenkampf zeigt - der Nacken ist nicht zu sehen, den schützenden Helm wird er noch anlegen, bevor er ausrückt - hatte er diese Merkmale nicht feststellen können. Der jetzt geradezu im Übermut getragene Strohhut besagt denn auch, daß in den Augen des Helden und Heiligen die Gefahr ausgestanden und mit neuer Gefahr nicht zu rechnen ist. Die Verwunderung des Dichters über die extravagante Kopfbedeckung ist zumindest teilweise gespielt mit dem Ziel, uns aufmerken zu lassen, denn den Hut hatten wir bereits zuvor kennengelernt und sollen ihn jetzt wiedererkennen: Giorgio Santini trug einen weißen Sommeranzug aus überaus elegante steifleinene Schuhe mit Lederbesatz. In den Händen drehte er, einmal links herum, einmal rechts herum, einen wirklichwunderbaren formvollendeten weitkrempigen Strohhut. Man sah es einen wenigen Bewegungen an, daß das Kochen einer Eierspeise auf einem Hochseil, wie Blondin es bei seinen Auftritten sensationellerweise vollführt hatte, für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre.
Gerade in Fall des San Giorgio Santini, wo wir auf kein ergänzenden Bildwerk zurückgreifen können, verzichtet der Dichter auf alle Merkmale persönlicher Beschreibung wie Gesichtszüge, Blick und Haarfarbe. Schon bei der ersten noch unbedarften und unbedachten Lektüre ergibt sich ein Eindruck des Geisterhaften, einer mit extremer Gelenkigkeit und extremen Gleichgewichtssinn ausgestatteten Kleiderpuppe. Wer kann auch wissen, wie der ewig junge San Giorgio heute aussehen würde oder besser, wie er gegen Ende der Neuen Zeit ausgesehen hat, denn die Artisten entstammen einer Zeit, die, von 1987 aus gesehen, nicht weniger und eher mehr als fünfzig Jahre zurückreicht. San Giorgio Santini ist ausschließlich von Frauen umgeben, wie erfahren aber von keinem Wort und keinem Blick, der zwischen ihnen gewechselt würde, so wie ja auch der San Giorgio der Bildwerke stumm ist und niemanden anschaut. Auch die Verwandtschaftsverhältnisse sind so eindeutig nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, Rosa Santini mag Giorgios Schwester sein und die drei Mädchen deren unehelichen Töchter, und die Nonna ist ohnehin nicht klar zuzuordnen.
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