Montag, 13. August 2018

Alleen

Warszawa Centralna

Szedłem ulicą szeroką, ich ging eine breite Straße entlang, oder, besser gesagt, ich ging auf einem breiten Trottoir, ungefähr fünf Meter breit, zwischen wohlgepflegten Alleebäumen, die daneben verlaufende Straße war fünfmal so breit. – Diesen Eingangssatz der Erzählung Nie zlęknę się, Ich fürchte mich nicht, verwendet Stachura wortwörtlich ein zweites Mal in der Erzählung Pragnienie, Durst. In Nie zlęknę się fährt er fort: Denn ich war in einer großen Stadt. Einer sehr großen. Ich war, kurz gesagt, in der sogenannten Hauptstadt. – In Warschau also. Für Nie zlęknę się ist der Auftritt der breiten Straße im Text damit beendet. In Pragnienie ist der Erzähler unterwegs zum Bahnhof, Warszawa Centralna vermutlich, nach seiner Einschätzung der einzige Ort in der sehr großen Stadt, wo es um diese Zeit, kurz vor Mitternacht, noch Bier zu kaufen gibt, um den Durst zu löschen. Unterwegs zum Bahnhof, das erlaubt die Annahme, bei der sehr breiten Straße handele es sich um die Aleje Jerozolimskie, die Jerusalemer Alleen, die während der sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zumindest in einigen Abschnitten der Beschreibung durchaus entsprachen. Der Name der Straße erinnert an die jüdische Siedlung Neujerusalem, die im 18. Jahrhundert außerhalb des damaligen Warschauer Stadtgebietes errichtet wurde. Mit dem Satz von dem breiten, von Alleebäumen gesäumten Trottoir und der um ein Mehrfaches breiteren Straße entledigt sich der Dichter eines Faszinosums, daß auf den Leser überspringt, ohne daß er sagen könnte, worin es besteht. Das Faszinosum der Großstadt ist es nicht, wenige Tage zuvor war der Erzähler noch in einer Kleinstadt gewesen, da gingen die Leute mit den Hühnern schafen, und die Katzen liefen guten Gewissens auf der Straße herum. In diesen Verhältnissen fühlt er sich wohl, oft verweilt er in noch kleineren Ortschaften oder gar als Eremit in einer Gartenlaube, Koniec miesiąca marzec, oder einsam in einer Art Tipi am Fluß, Jasny pobyt nadrzeczny.

In der ersten Erzählung werden keine Passanten oder Fahrzeuge erwähnt, die große Straße scheint so leer wie die Straßen in Manchester. Ludzi spacerorało sporo heißt es dagegen in Pragnienie, viele Leute waren unterwegs, obwohl es schon sehr spät und die Sonne seit langem untergegangen war. Auf beiden Seiten ergingen sich die Menschen, zu zweit, zu dritt, auch in größeren Gruppen, die Männer außen, die lachenden Frauen in der Mitte. Man stellt sich vor, der einsame Erzähler ist von der Weichsel herkommend unterwegs zum Bahnhof, alle anderen bewegen sich vom Bahnhof her zur Weichsel. Die große Straße in der Mitte zwischen den Gehwegen ist offenbar unbefahren, das war wohl von der Realität in den frühen sechziger Jahren nicht allzu weit entfernt. Einsam auf einer belebten Straße, Leere und Fülle zugleich im Schutz der Bäume, unbedrängt und doch geborgen in einer Menge. Irgendwo in diesem Geviert ist der Kern des Faszinosums verborgen.

Ci vediamo a Gerusalemme, do zobaczenia w Jerozolimie, Neujerusalem bei Warschau ist verschwunden, niemand spricht mehr von Manchester als dem Jerusalem der industriellen Neuzeit, zu welchem Himmlichen Jerusalem können die Alleen uns führen?

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