Mittwoch, 22. August 2018

Daheim

Der Mann aus Chéruy

Weder Sebalds Erzähler, Selysses, noch der Erzähler Stachuras - nennen wir ihn Szerucki, den Mann aus Chéruy, so wie er im Roman Cała jaskrawość heißt - empfängt uns in seinem Heim. Selysses enthält uns sein Heim vor, Szerucki hat keins. Einen Eisenbahnwaggon auf dem Abstellgleis, einen selbsterrichteten Unterstand am Fluß, eine im Frühjahr illegal genutzte Gartenlaube, die Unterkunft bei der alten Maria Potęgowa für die Zeit der Saisonarbeit, das wird man nicht als Heim bezeichnen. Gleich als wir Selysses kennenlernen, in Wien, scheint es, als würde er sich in die gleiche Richtung bewegen. Deutliche Spuren der Verwahrlosung waren nicht länger zu übersehen, er begann in einer aus England mitgebrachten Plastiktüte allerlei unnütze Dinge mit sich herumzuführen, die ihm immer unentbehrlicher wurden. Der Anblick des inwendig schon gänzlich in Fetzen aufgelösten Schuhwerks entsetzt ihn, es würgt ihm im Hals und die Augen trüben sich. - Er hat dann aber noch im letzten Augenblick, wie die Rede geht, die Kurve gekriegt. Auch weiterhin wird er auf seinen Reisen nicht in Eisenbahnwaggons oder Gartenlauben übernachten, sondern in Hotels und Pensionen, nicht immer den besten. Meistens wird er schlecht bedient, mit wenigen Ausnahmen nur. In der Goldenen Taube in Verona wird er empfangen wie ein Staatsgast, ohne daß der Grund dafür ersichtlich gewesen wäre. Die Nachtruhe wie auch das Frühstück am nächsten Morgen grenzten ans Wunderbare. Im Guesthouse Ithaca überwältigt ihn ein Himmelfahrtsgefühl, wortlos begleitete der Portier ihn über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er ihm ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies.

Der Mann aus Chéruy muß Wonnen dieser Art nicht entbehren, er hat sogar ein Hotelerlebnis, das Verona und Ithaca gleichsam übergreift, Empfang, glückseliger Schlaf, wundersames Frühstück und Levitation. Für den tendenziell Obdachlosen und unter den kargen Bedingungen der Rzeczpospolita Ludowa, in diesen gigantischen Zeiten, wie Szerucki an anderer Stelle sagt, unter diesen Bedingungen also ist der Aufenthalt im Hotel ein großes Fest, Moje wielkie swiętowanie. Ein älterer Herr bat mich in den anheimelnd ausgestatteten Aufzug, unter anderem ausgezeichnet durch ein mit rotem Plüsch überzogenes Bänkchen. Die Stockwerke zogen anmutig vorbei, wie Berggipfel, die man nicht mühsam erklimmen muß, zu denen man gleichsam emporschwimmt, wie im Wasser, aber mit offenen Augen und ruhig atmend, oder wie zu den Wolken auffahrend, an den Haaren gezogen von einem Schlittenhundegespann, aber ganz sanft, man spürte nichts, still war es im Aufzug, niemand warf mit Messern. Dann öffnete der ältere Herr die Tür, wir sind schon im vierten Stock, proszę bardzo, die Ferien gehen weiter, jetzt auf dem Korridor, über den Teppich stapfe ich wie im Winter in warmen Stiefeln, im Sommer barfuß am Strand, ich lese die Zimmernummern, 133, 134, 135, das ist mein Zimmer, ich öffne die Tür zu meinem Zimmer, der Schlüssel paßt, einen Dietrich brauche ich nicht, was soll mir hier ein Dietrich, ich trete in das Zimmer und bin geblendet, ein Tisch, Stühle aus Metall, wunderbar und schön, zwei Sessel, man kann sich fallenlassen, ein Schrank, Fenster, Vorhänge, mit Schüren an den Seiten zum Auf- und Zuziehen, und die Betten, drei Betten, mein Gott, zu einem der Betten werde ich am Abend zurückkehren, jetzt aber heißt es sich waschen und dann zum Essen, zum Wasserkran also, zu den Wasserkränen besser gesagt, denn es sind zwei: einer mit einem roten Ring und einer mit einem blauen: warmes Wasser und kaltes Wasser, ich liebe den Wechsel, einmal warm, einmal kalt, einmal Sommer, einmal Winter und das Handtuch wie Frühling und Herbst zugleich. Nun aber zum Essen! Ich überprüfe noch einmal den Briefumschlag mit den Gutscheinen für Frühstück, Abendbrot und Mittagsmahl, ich eile jetzt zum Mittagstisch, denn dazu ist es die Zeit, zwischen dreizehn und vierzehn Uhr essen die Leute zu Mittag, so kommt es mir vor, und ich werde jetzt auch essen, denn für zwei Tage bin ich ein normaler Mensch und werde regelmäßig essen: Frühstück, Mittagsmahl, Abendbrot, und dann gehe ich schlafen, mein Gott, ich werde mir keine Schlafstelle bei Bekannten suchen, ich kehre zurück in dieses Zimmer, das für zwei Tage meins ist, vielleicht wähle ich das mittlere Bett aus, das Bett zwischen den Betten, und bedecke meinen armen, erschöpften Körper mit der Bettdecke, und gut wird es mir gehen, für mich jedenfalls ist das ein Dampfschiff, ein Hochzeitshaus, in dem Menschen gestorben sind, und auch meine Stirn wird langsam abkühlen, das Kissen wird kühl und frisch werden, die freundliche Zeit wird herrlich werden für mich. Am Morgen werfe ich die Decke zurück, ausgeschlafen wie eine Zieselmaus, ich gehe zum Fenster, ziehe an der Gardinenschnur, schaue auf Posen von der Höhe des vierten Stockwerkes, auf das gute, gastfreundliche Posen, dann zu den Wasserkränen, Wasser aus den Kränen, kalt und warm, Sommer und Winter, ich liebe diesen Wechsel, dann gehe ich hinunter zum Frühstück, später dann zum Mittagstisch, ich ertrinke im Frühstück, später dann im Mittagsmahl.

Ein normaler Aufenthalt im Hotel würde mancher sagen, für den Mann aus Chéruy ein Fest, ein Traum, so stellt er es dar, so erzählt es uns – ist es wirklich das, was er uns erzählt ?

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