Dienstag, 24. September 2019

W.G. Sebald: Schwindel.Gefühle.

Eine Empfehlung

Das Buch hat keine Romanhandlung, keinen Plot. Es bündelt vier, dem ersten Anschein nach separate Reiseberichte, Berichte von Reisen, die Oberitalien und zumal den Gardasee als Ziel haben, eine Reise Stendhals, eine Reise Kafkas und zwei Reisen des Icherzählers, der große Ähnlichkeit mit dem Autor, Sebald, hat, mit ihm aber nicht identisch ist. Der schöne Fluß der Sätze trägt uns schwere- und mühelos bis ans Ende des Buches, wir schließen das Buch und fragen: Was haben wir da eigentlich gelesen? Was war das denn mit dem Jäger Gracchus, eine, wie jeder weiß, von Kafka ersonnene mythologische Gestalt, die aber, wie wir lesen, fast hundert Jahre vor ihrem Entstehen auch bereits Stendhal begegnet war, und die wir, verwandelt in den ebenfalls von Kafka ersonnenen Jäger Hans Schlag, im Heimatort des Erzählers im Allgäu wiedertreffen. Was war das mit dem heiligen Georg, San Giorgio, den wir auf verschiedenen Bildern Giottos und Pisanellos betrachten dürfen, und den wir dann, wenn wir aufmerksam sind, unter dem Decknamen Giorgio Santini als lebendigen Hochseilartisten in Fleisch und Blut im deutschen Konsulat zu Mailand antreffen. Was ist mit der Zahl 13, die, zumeist verkleidet als Jahreszahl 1913, ständig wieder auftaucht. Was ist mit der seltsamen Schreibweise des Titels &c., in Wien läuft dem Erzähler Dante über den Weg, &c. Die Reiseberichte verwandeln sich keinesfalls in eine Fantasyroman, aber unter der realistischen Oberfläche tut sich mehr und mehr ein unüberschaubares, Schwindelgefühle auslösendes Motivgeflecht auf, wir lesen immer erneut im Buch und finden immer Neues. Der Autor selbst hat uns geholfen in unserer Not und, auf den ersten Blick überraschend, kundgetan, das Buch handele von der Liebe, sei aber keine vermaledeite sogenannte Beziehungsgeschichte, das um alles in der Welt nun wirklich nicht! Es ist freilich Sergio Chejfec, der ausspricht, was als erstes gesagt werden muß, wenn man sich Sebalds Texten zuwendet: Sebald führt den Leser zurück zu einer seit langem so gut wie verlorenen Position: Bewunderung und schiere ästhetische Freude.

Geschlossene Fenster

Persiana

Wenn von einem geschlossenen oder verschlossenen Fenster die Rede ist, weiß man nicht ohne weiteres, was geschlossen ist, ob die Fensterflügel, wenn das Fenster denn Flügel hat, oder aber nur die Fensterläden oder Jalousien, wenn das Fenster denn entsprechend ausgerüstet ist, oder sowohl die Flügel als auch die Läden, oder ob die geschlossenen Läden vielleicht nur geöffnete Flügel verbergen. Bei verschlossenen Fenstern geht man zusätzlich von Sicherheitsvorkehrungen an den Flügeln oder Läden oder an beiden aus. Als der Dichter in seinem Hotelzimmer in Venedig erwacht, ist es ein anderes Aufwachen als man es sonst gewohnt ist. Wie oft hat er, die Hände unterm Kopf, mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehört, hier aber bricht der Tag still an, nur einzelne Rufe, das Hinauflassen eines blechernen Rolladens. Die Fensterstellung wird nicht erwähnt, bei geschlossenen Fenster aber, zumindest bei moderner Dreifachverglasung, wäre die von wenigen Geräuschen nur akzentuierte Stille kaum aufgefallen. Am wahrscheinlichsten sind offene Flügel mit einer ausgestellten Persiana - una persiana discretamente socchiusa -, die das Sichtbare filtert, akustische Eindrücke aber kaum beeinträchtigt.

Ist das geöffnete oder das geschlossene Fenster literarisch ergiebiger, der Blick des Bewohners aus oder der Blick des Passanten auf das Fenster? Nicht immer eröffnet sich den Passanten ein ergiebiges Blickfeld. Die Schließung der grünen Fensterläden in der Wohnung der Eheleute Zufrass im Dorf Steinach bei Kissingen ist eine jeweils nur kurze aber sich ständig wiederholende Episode. Immer nämlich, wenn die Regina Zufrass am Abend oder in der Nacht das volltrunkene Jofferle heimgeholt hatte, blieben anderntags die grünen Läden der Wohnung geschlossen. Die geschlossenen Fenster sollen das Elend verbergen, aber das Leben geht weiter, das Jofferle muß wieder ausfahren mit seinem Pferdegespann, und eher über kurz als über lang wird der betrunkene Kutscher wieder im Straßengraben liegen.

In Deauville ist die Lage weitaus weniger episodenhaft. Die Häuser sind scheinbar sämtlich unbewohnt, tatsächlich aber von einer offenbar ausschließlich zur femininen Seite hin orientierten Gattung unbekannter Geistwesen besetzt. Bleibt man eine Zeitlang vor einem der Häuser stehen, tut sich seltsamerweise schon bald einer der geschlossenen Fensterläden etwas auf, und es erscheint eine Hand, die mit auffallend langsamer Bewegung ein Staubtuch ausschüttelt, so als wolle sie dem Passanten mit ihren Staubfetzen ein Zeichen geben. Türen oder andere Vorrichtungen, die es den Geisteswesen erlauben würden, die Häuser zu verlassen oder den Passanten, sie zu betreten, gibt es offenbar nicht, eine genauere Erkundigung der Lage ist insofern nicht möglich.

In Terezín wird man von einer völligen Verhärtung ausgehen. Niederdrückend war das Abweisende der stummen Häuserfronten, hinter deren blinden Fenstern, man mochte noch so oft hinsehen, nirgends ein einziger Vorhang sich rührte. Unmöglich war es sich vorzustellen, wer oder ob überhaupt jemand in diesen öden Gebäuden noch wohnte. Alles scheint auf eine endgültig verlorene Stadt hinzuweisen, deren Fenster sich nie wieder öffnen werden. Auffällig sind allerdings die vielen Aschenkübel, an der Wand entlang aufgereiht, so als seien sie noch im Betrieb.

In Amerika steht ein einsamer Mensch am Fenster. Seine letzten Monate, Wochen und Tage verbringt Cosmo Solomon damit, aus dem Fenster zu schauen. In seinem Geburtshaus stand er mit bewegungslos herabhängenden Armen auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren nach Boston oder Halifax. Zur Genesung und Wiederherstellung seiner psychischen Stabilität schickt man ihn mit Adelwarth in das berühmte kanadische Banff Springs Hotel. Auch hier sah er nur viele Stunden lang zum Turmfenster hinaus auf die ungeheuren, ringsherum sich ausdehnenden Tannenwälder und den gleichmäßig aus unvorstellbarer Höhe herabfallenden Schnee. Die Fenstersituation in der Nervenheilanstalt Samaria in Ithaca, in die er schließlich eingeliefert wird, bleibt verborgen.

Nicht jeder, der allein an einem Fenster steht, ist einsam und verloren. Das kleine Haus mit seinem geschindelten Walmdach sah einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleich. Und jedesmal, wenn jemand vorbeikam, schaute gerade der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fenster heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen. Man stellt sich vor, die Fensterläden sind nach außen, die Flügel nach innen aufgeschlagen

Freitag, 20. September 2019

Photowelt

Erschrecken


Der Charme der den Text begleitenden Photos in Sebalds Prosawerken liegt in ihrer schlechten Qualität, nicht immer kann man ohne Hilfe des Textes entschlüsseln, worum es sich handeln soll. In den Schwindel.Gefühlen und den Ausgewanderten sind die Photos eher klein und übersteigen jedenfalls ein gewisses Größenmaß nicht. In den Ringen des Saturn und vermehrt in Austerlitz stoßen wir auf Bilder, die eine textlose Doppelseite komplett ausfüllen. Was ist zu dieser Entwicklung zu sagen, abgesehen von der Frage, ob man sie gutheißt? Was unterscheidet die Riesenphotos von den kleinformatigen und wie kommt es zu dieser Auszeichnung durch Größe? Kann man überhaupt von Auszeichnung sprechen, wenn der Dichter doch immer wieder auf die gleiche Daseinsberechtigung von Großem und Kleinem, von Hauptdarstellern und Komparsen pocht, möglicherweise mit einer geheimen Vorliebe für die Komparsen, für Größenformate unterhalb des Normalmaßes. Ist in der Größe vielleicht eine Herabstufung, ein Hinweis auf Monsterhaftigkeit, auf eine aus den Fugen geratene Welt zu sehen? Daß es um das Monströse zumindest gehen kann, belegt das Photo auf den Seiten 354/5 Austerlitz TB. Es handelt sich um ein Standphoto aus dem Theresienstädter Film. Seite 354 ist ausgefüllt von einer der im Text erwähnten schadhaften Stellen des Films, die Seite zeigt zwei nicht näher identifizierte Männerköpfe im Profil. Das Photo auf Seite 358 belegt, daß ein kleineres Format dem Bildverständnis imgrunde entgegenkommt. Ganz anders ist es wohl mit der Doppelseite 86/87, die ein Bild aus einer walisischen Kinderbibel zeigt, in das Dafydd Elias sich intensiv vertieft hatte. Zu sehen sind neben Bergen und Wasser ein Steinbruch, winzige Figuren, die ein Lager bevölkern, Bahngleise und anderes mehr. Das große Format erlaubt dem Leser das Studium des Bildes in der gleichen Weise zu wiederholen, das Format ist insofern nützlich. Utilität ist aber keinesfalls die allgemeine Ausgangsüberlegung für das große Format, wie spätestens das Bild auf den Seiten 158/9 erweist. Der Bildinhalt besteht aus zwei Billardkugeln, einer schwarzen auf der linken und einer weißen auf der rechten Seite, auf grauem Hintergrund. Der wenig detailreiche Bildgehalt wäre bei deutlich verkleinertem Format nicht weniger gut erkennbar. Ist das Großformat in diesem Fall Aufforderung zu einer Lesepause, Einladung zu meditativer Einkehr?

Eines haben die doppelseitigen Photos gemeinsam, man erwartet sie nicht und erschrickt beim Aufblättern. Soll Erschrecken auf diesem Wege als ein von Heidegger möglicherweise vergessener (man müßte bei ihm nachschlagen) Grundbegriff der Metaphysik sinnlich erfahrbar werden? Gleichzeitig aber haben die bebilderten, textfreien Doppelseiten den Vorteil, daß man sie getrost überblättern oder gar verkleben kann, wenn des Erschreckens genug ist, wenn die Seiten zum Ärgernis werden sollten.

Dienstag, 17. September 2019

Bilderfolge

Indizien

Die optisch nachhaltigste Passage nicht nur in Austerlitz, sondern im Prosawerk insgesamt ist wohl die Photoreihe aus Terezín. Der Verwachsene und der Geistesgestörte, soweit ersichtlich die einigen Lebenden in der Stadt, sind verschwunden. Auf Seite 275 TB ist das Photo einer leeren Straßenflucht in den Text eingefügt. Auf Seite 276 ist zwischen einem Photo oben und einem Photo unten ein zweizeiliger Text eingefügt, der mitten im Satz versiegt und auf den Seiten 277 ff nicht fortgeführt wird. Auf Seite 280 wird der Text unversehens wieder aufgenommen und fortgeführt, über die untere Hälfte der Seiten 280 und 281 erstreckt sich ein Photo der ANTIKOS BAZAR. Auf der Seite 282 unten findet sich ein weiteres Photo des BAZAR, ebenso auf der Seite 284, ein Photo, auf dem auch das in dem Fenster gespiegelte Gesicht des Photographen zu erkennen ist, angeblich Austerlitz, tatsächlich aber der Dichter. Der weitere Verlauf des Aufenthalts in Terezín ist photographisch nicht dokumentiert. Bei etwas niedrigerer Seitenzahl ist in der gebundenen Ausgabe das Bildarrangement das gleiche.

Das Bild oben auf Seite 276 zeigt eine Reihe von Aschenkübeln entlang einer Hauswand, die als Indiz für eine immerhin denkbare Bewohnung des Hauses gedeutet werden, allerdings sind die Kübel geschlossen, so daß möglicher frischer, auf Leben hinweisender Inhalt nicht auszumachen ist. Die Bilder auf Seite 276 unten und Seite 277 zeigen verschlossene Fenster und Türen, Seite 278 eine nachdrücklich geschlossene und Seite 279 eine vernagelte Tür. Die Türen scheinen das schwache Indiz der Aschenkübel zu widerlegen.
Generell gilt: Je beunruhigender die erzählten Gegenstände sind, desto beruhigender ist der Fluß der Prosa. (Gilt das auch für den Autor selbst?) Diese Doppelstrategie kann in Orten wie Terezín/Theresienstadt nicht aufrecht erhalten werden, Beruhigung ist nicht angebracht, der Dichter läßt die Prosa ausklingen für eine Art Schweigeminute, richtiger gesagt: er läßt sie verenden. Auch der ANTIKOS BAZAR gibt keinen Hinweis auf gegenwärtige Belebtheit, vor nicht allzu langer Zeit wurde er aber offenbar noch bewirtschaftet. Menschliches Leben kehrt mit dem gespiegelten Konterfei des Photographen zurück und wird bestätigt durch die Dame unbestimmten Alters in einer lilafarbenen Bluse und einer altmodischen Frisur am Kassentisch des Ghettomuseums. Bereits von der Dame gibt es kein Bild, die Bildersprache des Leblosen, die den Text ergänzte und dann ersetzte, verschwindet wieder.

Sonntag, 15. September 2019

Großstadtbilder

Kalk- und Sandstein

Wenn an der neuen Nationalbibliothek, die in allen Einzelheiten auf die Verunsicherung und Erniedrigung des Lesers hin ausgelegt ist, gleichwohl etwas Zusagendes zu entdecken wäre, dann möchte es der Blick auf die Stadt Paris sein, der sich vom obersten Stockwerk des Nordostturms ergibt. Tatsächlich aber sieht man auf eine im Verlauf der Jahrtausende aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsene Agglomeration, auf ein fahles Kalksteingebilde, eine Art Exkreszenz, die in ihren sich ausbreitenden Verkrustungen hinausreicht bis an die im Dunst jenseits der Vorstädte verschwimmende äußere Peripherie – nichts, was das Herz erfrischen könnte.

Als der Maler Georg von Dillis von der Villa Malta aus auf die Ewige Stadt Rom schaute, hatte er nicht diesen Tiefenblick. Die der Farbgebung nach zu urteilen offenbar aus Sandstein erbaute Stadt ist nahezu zur Gänze in einem nicht weiter erläuterten bräunlichen Nebel verschwunden, nur die Kuppel des Petersdom ist klar zu erkennen, in seiner Nähe einige weitere größere Gebäude, nahe der Villa ein weiterer Kuppelbau. Bewohner der Stadt, Menschen, sind nicht zu sehen. Auch der Blick aus der Höhe in Paris verschweigt die Menschen, es lohnt wohl nicht, sie noch zu erwähnen, denn offenbar befinden wir uns in einer Todeszone. Das ist so deutlich in Rom nicht zu erkennen. Vom Dichter sind wir es gewohnt, daß er die Städte weitgehend vom der menschlichen Besatzung befreit, der Maler steht ihm kaum nach. Aber einige werden wohl verborgen da sein, um über die Stadt zu wachen, und die Stadt wacht über sie. So kann Rom die ihm zugesprochene Ewigkeit vielleicht wirklich erreichen.

Donnerstag, 12. September 2019

Alpensakko

Seit an Seit


Literaturfreunde rätseln noch heute, was den Minister Piffl-Perčević an Bernhards Ansprache anläßlich der Verleihung des Staatspreises so verstört hatte, das er aus dem Saal gestürmt war, handelte es sich bei der Ansprache doch um eine metaphysische Wort- und Satzattacke, der eine Aussage nicht zu entnehmen war, es sei denn die, daß der Tod unwiderruflich ist. Aber vielleicht hatte gerade das Piffl-Perčević überwältigt und aus der Fassung gebracht, weil er aus eigener Kraft bislang so weit nicht hatte denken können. Die Verleihung des Staatspreises an Houellebecq jetzt ist ohne Eklat verlaufen, anschließend hat der Franzose gekleidet in ein Alpensakko den Vierkanthof in Ohlsdorf besucht, um Bernhard seine Reverenz zu erweisen. Wollte man Houellebecq in Deutschland einen ähnlichen Preis verleihen, könnte er das Alpensakko ein zweites Mal nutzen, um auch dem toten Dichter in W. seine Reverenz zu erweisen. Sebald hat aus seiner Vorliebe für Bernhard nie ein Hehl gemacht, seine Figur Le Strange könnte gut Seit an Seit mit Houellebecqs Figur Jed Martin gelebt haben, über den Gartenzaun hinweg hätten die beiden dann und wann freundliche Worte ausgetauscht, es hätte ihnen gutgetan.


Sonntag, 8. September 2019

Moderne Zeiten

Heiligenkandidat


In gewisser Weise ist es beruhigend, wenn Agamben mitteilt, am liebsten seien ihm die Bücher, die er gar nicht versteht. Was aber ist mit den abenteuerlichen Büchern, die man sofort versteht und dann immer wieder neu, immer anders und, Deo dante, immer tiefer?
*
Der Dichter unterstützt insgeheim die Neigung seines Personals, den Beruf aufzugeben oder gar nicht erst zu ergreifen. Austerlitz war 1991 vorzeitig in den Ruhestand getreten. Bereyter, der geborene Melamed, hat den Lehrerberuf bis zur Versetzung in den Ruhestand ausgeübt, vielleicht ein Fehler, denn glücklich war er damit angesichts der äußeren Umstände und Rahmenbedingungen schon lange nicht mehr. Dr. Selwyn mußte, wie es heißt, im Jahre 1960 seine Praxis und seine Patienten aufgeben, der Grund wird allenfalls schemenhaft deutlich. Alec Garrard hat seinen Beruf als Landwirt so gut wie an den Nagel gehängt, schon ewig hat er keinen Traktor mehr gefahren, seit zwei Jahrzehnten widmet er sich mit wachsender Ausschließlichkeit dem Modellbau des Jerusalemer Tempels. Gleichzeitig aber vergällt der Dichter, der ja alles in der Hand hat, den Berufslosen die üblicherweise bevorzugte Freizeitbeschäftigung, indem er das von ihm so genannte Ferienvolk zum herausragenden Objekt seiner Verachtung macht, ob die Urlauber nun im Miniaturbähnchen durch die Felder fahren und an verkleidete Hunde oder Seehunde erinnern, ob sie gegen Mitternacht als eine einzige buntfarbene Menschenmasse sich nach Art einer Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts schieben, lauter Lemurengesichter, die, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwanken, oder ob sie in der Bahnhofshalle lagern in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, hingestreckt wie von schweren Krankheit. Arbeit und Urlaub, das sind die zwei Säulen im Leben des modernen Menschen, was bleibt ihm, wenn man ihm beides nimmt. Der Richter Farrar, nunmehr im Ruhestand, erinnert sich nur mit einem gewissen Entsetzen an das halbe Jahrhundert, das er in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen verbracht hat, und widmet sich ganz der der Zucht seltener Rosen und Veilchen. Ob das auf Dauer ohne ergänzende touristische Aktivitäten gereicht hätte, bleibt offen, denn bald schon kostet ihn der unsachgemäße Umgang mit einem Feuerzeug das Leben. 

Wenn der Dichter von der Berufswelt wenig und von Tourismus und Urlaub erkennbar gar nichts hält, ist das eine Aufforderung, die moderne Lebenssituation zu verlassen. Ein möglicher Ausweg führt zur Kunst. Sie wird nicht berufsmäßig ausgeübt wird. Jeder Arbeitnehmer bis hinauf zu den Vorständen hat Anspruch auf die Fünfunddreißigstundenwoche, wer länger arbeitet, sonnt sich nur im falschen Gefühl seiner Unersetzbarkeit. Aurach dagegen ist an jedem Tag der Woche vom Morgen bis zum Abend in seinem Atelier und vernichtet zuverlässig am Morgen das, was er tags zuvor zustande gebracht hatte. Das sieht nicht nach rationaler Berufsausübung aus. Das Reisen aus touristischen oder anderen Gründen ist Aurach nicht weniger fremd als der Gedanke an einen Beruf. An seiner Kunst zweifelt er zutiefst, das wahre Kunstwerk erkennt er in einem Traumbild, in dem Frohmann, gebürtig aus Drohobycz, auf dem Schoß ein winziges Modell des Jerusalemer Tempels hält. Das Tempelmodell ist für Aurach das, was für Bergotte und Proust der kleine gelbe Mauerfleck war: das unzugängliche Geheimnis des wahren Kunstwerks.

Auf seltsame Weise treffen sich Aurach der Kunstmaler und Garrard der Landwirt beim Tempel in Jerusalem. Der Tempel ist da, wenn auch nur als Miniatur, die Kirchen fehlen, kommen nicht ins Bild. Die Bahnhöfe seien die neuen Kathedralen, heißt es an einer Stelle, aber auch darüber ist die Zeit längst hinweggegangen. Dabei sind die Kirchen, wie wir alle wissen, sehr wohl und in großer Zahl vorhanden, die Dome und Kathedralen werden gepflegt und restauriert, und wenn sie niederbrennen, werden sie sogleich neu errichtet. Aber sie sind unsichtbar für das innere Auge, weil die Heiligen aus ihnen geflohen und, wie es scheint, verschwunden sind. Die Heiligen sind verschwunden und wiederum doch nicht. Der heilige Franziskus schwimmt einerseits mit dem Gesicht nach unten in einem Schilfbeet, andererseits hat er sich im stets von Vögeln und Federvieh umflogenen Major Le Strange reinkarniert. Der heilige Georg lebt weiter als der Zirkusartist Giorgio Santini und zugleich auch seinerseits in der Gestalt des Major Le Strange, dem Drachentöter von Bergen Belsen. Der Major, längst berufslos und ohne jeden Gedanken an eine Ferienreise, ist ein multipler Heiliger, der zusätzlich auch noch den heiligen Hieronimus beherbergt. Die heilige Katharina schreitet über die Sümpfe, ein kleines Modell des Rades, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand, gleichzeitig lebt sie als Catherine Ashbury in Irland. So wie Turgenjew eine Adelsnest kennt, kennt der Dichter ein Heiligennest, die Ashburys. Sie sind ständig beschäftigt, ohne etwas zustande zu bringen, bauen Schiffe, die nie zu Wasser gelassen werden, verdienen mit all ihren Aktivitäten keinen Penny, der Gedanke andererseits, sich unter ein Ferienvolk zu mischen, ist ihnen so fern wie Anfang und Ende des Alls. Den Dichter reut es, nicht bei ihnen geblieben zu sein, um als Heiligenkandidat ihr immer unschuldiger werdendes Leben zu teilen.

Donnerstag, 5. September 2019

Stills

Selbstbedienung

Noch heute, so der Dichter, reue es ihn, die Einladung zur Teilnahme am Rahmenprogramm der Bregenzer Festspiele angenommen zu haben, in deren Zentrum eine Aufführung der Oper Nabucco stand. Unschlüssig ist er mit seiner Freikarte in der Hand auf dem Vorplatz herumgestanden, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig, weil es ihm mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wurde, sich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil er den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte. Das sogenannte Regietheater konnte ihn offenbar nicht verlocken. Dabei hatte er selbst bereits in sehr jungen Jahren eine Neigung zur Neugestaltung klassischer Stücke im Sinne des Regietheaters unter Beweis gestellt. Einen tiefen Eindruck hat in ihm die Aufführung der Räuber im Engelwirtssaal hinterlassen. Sicher ein halbes dutzendmal ist er in dem verdunkelten Saal unter der teilweise bis aus den Nachbardörfern herübergekommenen Zuhörerschaft gesessen. Immer hatte er damals in die Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie, um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen. Es hatte ihm dann aber doch der Mut gefehlt, die Regie mit dem Ziel einer grundlegenden Neugestaltung des Stückes an sich zu reißen. Als er Jahrzehnte später auf der Bühne eines kleinen Liebhabertheaters in Berlin die Aufführung eines Dramenfragments von Jakob Michael Reinhold Lenz besucht, ist er in dieser Hinsicht gereift. Aber auch hier ist er in gewisser Weise kein gefügiger Zuschauer, denn mehr als das Drama selbst fesselt ihn die Darstellerin der Catharina von Siena, in der er, so will es ihm scheinen, Catherine aus der Sippe der Ashburys wiedererkennt.

Das wahre Verhältnis des gereiften Dichters zum dramatischen Theater wird uns mithin vorenthalten, umso mehr das zum Kinofilm. Als er in der Jugend eine kurze Phase der imaginären Amerikanisierung durchlebt, während der er streckenweise zu Pferd und streckenweise in einem dunkelblauen Oldsmobile die Vereinigten Staaten durchquert, könnte man als Auslöser zwei führende Genres des amerikanischen Films, den Western und das Road Movie, vermuten. Bestätigt wird das nicht, genannt wird allein Hemingway, der oft, aber nicht in diesem Sektor verfilmte Literat. Es gibt Hinweise, daß der Dichter über die Jahre kein allzu seltener Kinogänger war. Wie schon bei Lenz‘ Dramenfragment erinnern ihn Bilder aus den Filmen an Bilder in seinem Leben. So erkennt er die Trafikantin aus Fellinis Film Amarcord wieder in der Modistin Valerie Schwarz, die bei einer gleichermaßen geringen Körpergröße eine Brust von gleichermaßen gewaltigen Ausmaßen besaß. Auch Austerlitz hatte, als ein beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewellten Haar, seinen filmischen Widerpart und zwar ausgerechnet in dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm. Lang und Fellini, hochrangige Regisseure von Weltruf, die als solche aber nicht gewürdigt werden. Der Dichter bedient sich des Films für die Kennzeichnung seines sozialen Umfelds, dazu bedarf es nicht des ganzen Films, keiner Szenen, keiner Takes, Stills reichen.