Sonntag, 8. September 2019

Moderne Zeiten

Heiligenkandidat


In gewisser Weise ist es beruhigend, wenn Agamben mitteilt, am liebsten seien ihm die Bücher, die er gar nicht versteht. Was aber ist mit den abenteuerlichen Büchern, die man sofort versteht und dann immer wieder neu, immer anders und, Deo dante, immer tiefer?
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Der Dichter unterstützt insgeheim die Neigung seines Personals, den Beruf aufzugeben oder gar nicht erst zu ergreifen. Austerlitz war 1991 vorzeitig in den Ruhestand getreten. Bereyter, der geborene Melamed, hat den Lehrerberuf bis zur Versetzung in den Ruhestand ausgeübt, vielleicht ein Fehler, denn glücklich war er damit angesichts der äußeren Umstände und Rahmenbedingungen schon lange nicht mehr. Dr. Selwyn mußte, wie es heißt, im Jahre 1960 seine Praxis und seine Patienten aufgeben, der Grund wird allenfalls schemenhaft deutlich. Alec Garrard hat seinen Beruf als Landwirt so gut wie an den Nagel gehängt, schon ewig hat er keinen Traktor mehr gefahren, seit zwei Jahrzehnten widmet er sich mit wachsender Ausschließlichkeit dem Modellbau des Jerusalemer Tempels. Gleichzeitig aber vergällt der Dichter, der ja alles in der Hand hat, den Berufslosen die üblicherweise bevorzugte Freizeitbeschäftigung, indem er das von ihm so genannte Ferienvolk zum herausragenden Objekt seiner Verachtung macht, ob die Urlauber nun im Miniaturbähnchen durch die Felder fahren und an verkleidete Hunde oder Seehunde erinnern, ob sie gegen Mitternacht als eine einzige buntfarbene Menschenmasse sich nach Art einer Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts schieben, lauter Lemurengesichter, die, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwanken, oder ob sie in der Bahnhofshalle lagern in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, hingestreckt wie von schweren Krankheit. Arbeit und Urlaub, das sind die zwei Säulen im Leben des modernen Menschen, was bleibt ihm, wenn man ihm beides nimmt. Der Richter Farrar, nunmehr im Ruhestand, erinnert sich nur mit einem gewissen Entsetzen an das halbe Jahrhundert, das er in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen verbracht hat, und widmet sich ganz der der Zucht seltener Rosen und Veilchen. Ob das auf Dauer ohne ergänzende touristische Aktivitäten gereicht hätte, bleibt offen, denn bald schon kostet ihn der unsachgemäße Umgang mit einem Feuerzeug das Leben. 

Wenn der Dichter von der Berufswelt wenig und von Tourismus und Urlaub erkennbar gar nichts hält, ist das eine Aufforderung, die moderne Lebenssituation zu verlassen. Ein möglicher Ausweg führt zur Kunst. Sie wird nicht berufsmäßig ausgeübt wird. Jeder Arbeitnehmer bis hinauf zu den Vorständen hat Anspruch auf die Fünfunddreißigstundenwoche, wer länger arbeitet, sonnt sich nur im falschen Gefühl seiner Unersetzbarkeit. Aurach dagegen ist an jedem Tag der Woche vom Morgen bis zum Abend in seinem Atelier und vernichtet zuverlässig am Morgen das, was er tags zuvor zustande gebracht hatte. Das sieht nicht nach rationaler Berufsausübung aus. Das Reisen aus touristischen oder anderen Gründen ist Aurach nicht weniger fremd als der Gedanke an einen Beruf. An seiner Kunst zweifelt er zutiefst, das wahre Kunstwerk erkennt er in einem Traumbild, in dem Frohmann, gebürtig aus Drohobycz, auf dem Schoß ein winziges Modell des Jerusalemer Tempels hält. Das Tempelmodell ist für Aurach das, was für Bergotte und Proust der kleine gelbe Mauerfleck war: das unzugängliche Geheimnis des wahren Kunstwerks.

Auf seltsame Weise treffen sich Aurach der Kunstmaler und Garrard der Landwirt beim Tempel in Jerusalem. Der Tempel ist da, wenn auch nur als Miniatur, die Kirchen fehlen, kommen nicht ins Bild. Die Bahnhöfe seien die neuen Kathedralen, heißt es an einer Stelle, aber auch darüber ist die Zeit längst hinweggegangen. Dabei sind die Kirchen, wie wir alle wissen, sehr wohl und in großer Zahl vorhanden, die Dome und Kathedralen werden gepflegt und restauriert, und wenn sie niederbrennen, werden sie sogleich neu errichtet. Aber sie sind unsichtbar für das innere Auge, weil die Heiligen aus ihnen geflohen und, wie es scheint, verschwunden sind. Die Heiligen sind verschwunden und wiederum doch nicht. Der heilige Franziskus schwimmt einerseits mit dem Gesicht nach unten in einem Schilfbeet, andererseits hat er sich im stets von Vögeln und Federvieh umflogenen Major Le Strange reinkarniert. Der heilige Georg lebt weiter als der Zirkusartist Giorgio Santini und zugleich auch seinerseits in der Gestalt des Major Le Strange, dem Drachentöter von Bergen Belsen. Der Major, längst berufslos und ohne jeden Gedanken an eine Ferienreise, ist ein multipler Heiliger, der zusätzlich auch noch den heiligen Hieronimus beherbergt. Die heilige Katharina schreitet über die Sümpfe, ein kleines Modell des Rades, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand, gleichzeitig lebt sie als Catherine Ashbury in Irland. So wie Turgenjew eine Adelsnest kennt, kennt der Dichter ein Heiligennest, die Ashburys. Sie sind ständig beschäftigt, ohne etwas zustande zu bringen, bauen Schiffe, die nie zu Wasser gelassen werden, verdienen mit all ihren Aktivitäten keinen Penny, der Gedanke andererseits, sich unter ein Ferienvolk zu mischen, ist ihnen so fern wie Anfang und Ende des Alls. Den Dichter reut es, nicht bei ihnen geblieben zu sein, um als Heiligenkandidat ihr immer unschuldiger werdendes Leben zu teilen.

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