* Steven Pinker, The Language Instinct
Donnerstag, 24. Dezember 2020
Le Passé
* Steven Pinker, The Language Instinct
Dienstag, 15. Dezember 2020
Feinschmecker
Versteckte Namen
Wenn man die Dämonen
(Бесы) zu Recht für
Dostojewskis gelungenstes Werk hält, weiß man auch, daß das nicht zuletzt ein
Verdienst des fiktiven Erzählers Anton Lawrentjewitsch G-w ist. Nahezu das
gesamte restliche Personal des Romans ist verhaltensauffällig, den noch
jungen Erzähler zeichnen Solidität und verläßliche Bürgerlichkeit aus, er
verleiht damit dem Roman seine besondere schräge Tonlage, gründend auf dem zwiespältigen
Miteinander einer Häufung von Unvernunft jeglicher Art auf der einen und
einsamer biederer Vernunft auf der anderen Seite. Warum die Verkürzung G-w und nicht der
volle Name wie bei allen anderen Figuren des Romans? Sebalds Erzähler, das kann
einem bei dieser Frage einfallen, ist sogar gänzlich namenlos. Ab und zu scheint es
Hinweise zu geben, daß der Erzähler den Namen des Autors teilt, ein sicherer
Beleg dafür scheint der vom Konsulat in Mailand, wie auf einem Photo erkennbar, auf
den Namen Sebald ausgestellte neue Reisepaß zu sein. Die die Prosa begleitenden Photographien
sind aber nicht zuverlässig, auch der photographierende Austerlitz sieht in der
Spiegelung der Schaufensterscheibe des Antikos Bazar dem Autor verblüffend
ähnlich. In den Schwindel.Gefühlen hätte sich der Autor demnach im
Erzähler eingenistet, in Austerlitz in der Gestalt des Protagonisten. G-w
hat einen eigenen, festen Namen, die Verkürzung betont seine singuläre Stellung
als Hotspot der Vernunft auf verlorenem Posten.
Auf seine eigene Person, sein eigenes Leben geht G-w so gut wie
gar nicht ein. Er ist offenbar ledig, Feund und Vertrauter des Stepan Trofimowitsch Werchowenskij
und vor allem der fiktive Verfasser des Romans. Er selbst bezeichnet sich als Chronist des Geschehens, der sich wenige Monate, nach dem alles
vorüber ist, an die Arbeit macht. Alles ist vorbei, aber noch nichts ist
abgekühlt. Бесы unterliegen einem Rhythmus von Steigerung hin zu einem
Eklat oder zu einem Verbrechen und einer Rückkehr zum Alltagsverlauf bis zum
nächsten Skandal. Die ruhigen Passagen
schildert G-w in Chronistenmanier. Schwieriger ist es mit den oft über endlose
Seiten sich erstreckenden Gesprächsprotokollen, die der Erzähler unmöglich
wortwörtlich memoriert haben kann, er hat sie für die Niederschrift wohl neu
inszeniert. Was aber ist mit den Zwiegesprächen wie sie etwa Stawrogin ohne
Beisein eines Dritten mit Schatow, Kirillow und anderen führt? Hier hat Dostojewski
offenbar ohne weitere Skrupel G-w für eine bestimmte Zeit gegen einen allwissenden
Hintergrunderzähler ausgetauscht, der nicht als Figur im Roman auftritt. Der
Höhepunkt des Romans, der zugleich Anton G-w zu seinem gelungensten Auftritt
verhilft, ist die in ein völliges Chaos abgleitenden Kulturveranstaltung
der Gouverneurin. Rückblickend kritisiert Anton G-w in
scharfer Weise das Veranstaltungskonzept und legt die im Hintergrund
ablaufenden Intrigen und Sabotageakte
der revolutionären Kräfte bloß, er erzählt auch vom Scheitern seiner eigenen aufopfernden Versuche, das Schlimmste zu
verhindern. In den folgenden Kapiteln ist intermittierend der gestaltlose allwissende
Erzähler wieder mehrfach an der Reihe. Auch an Stepan Trofimowitsch’s letzter
Wanderschaft, die Tolstois letzte Wanderschaft zum Tod vorwegnimmt, ist Anton
G-w nicht beteiligt. Erst das Schlußwort, das auf wenigen Seiten das ganze
Unheil noch einmal überfliegt, kann im wesentlichen wieder ihm zugerechnet
werden.
G-w hat keine Ähnlichkeit mit Dostojewski, Sebalds Erzähler hat große
Ähnlichkeit mit dem Autor. Wie aber
würde man sich den Erzähler vorstellen, wenn der Autor, so wie Homer oder auch,
jedenfalls für längere Zeit, wie B. Traven oder Elena Ferrante unbekannt wäre? Verschiedene Merkmale und Themen die dem Erzähler am Herzen liegen, tauchen immer
wieder auf. Der Erzähler ist
umweltbewußt, eine auf Verbrennung, brucia continuamente, beruhende
Zivilisation hält er nicht für bestandsfähig. Er beklagt, die Vernichtung und
das Sterben der Wälder. Bei alldem neigt er eher zum Defaitismus als zum Aktivismus.
Ein anders Motiv: Wenn der Erzähler uns begegnet, ist er fast immer auf Reisen,
andererseits verabscheut er kaum etwas mehr als das reisenden Ferienvolk. Auch
selbst denkt er oft, er sei besser zuhaus geblieben, bei seinen Fahrplänen und
Landkarten. Und weiter, in einer katholischen Gegend aufgewachsen, ist ihm die
Glaubenswelt nachhaltig fremd geworden, jedenfalls jeder Glauben an einen speziell
dem Menschen und nicht allen Geschöpfen verpflichteten Gott. Welcher bekannte deutsche Autor könnte sich
hinter einem Erzähler mit diesen Merkmalen verbergen, so würde man fragen, wenn
man die Antwort nicht wüßte.
Die Rolle eines Icherzählers kann schlecht einem allwissenden und konturenlosen Hintergrunderzähler anvertraut werden. Im ersten Kapitel des Prosawerks, Beyle, und ebenso im dritten Kapitel, Riva, tritt allerdings kein Erzähler auf, der Autor arrangiert im wesentlichen Aufzeichnungen von Stendhal und Kafka, im weiteren Prosawerk ist der Erzähler immer präsent, ohne eine dominante Stellung zu beanspruchen. In Gesprächen, die immer Zwiegespräche sind, läßt der Erzähler dem anderen oder der anderen den Vorrang, er selbst, so scheint es jedenfalls, bleibt weitgehend stumm. In Austerlitz scheint es über lange Strecken, als habe der Protagonist, also Austerlitz, die Rolle des Erzählers übernommen. Der Unterschied fällt kaum auf.
Mittwoch, 2. Dezember 2020
Verschoben
In gewissem Sinne wird auch das Motiv der Cessna, des kleinen Motorflugzeugs, nach Wales verschoben und an Gerald Fitzpatrick delegiert, der, wenn auch kein Waliser, in Wales geboren wurde. Das Fliegen nimmt er aber nicht in Wales auf, sondern von seinem Studienort Cambridge aus, um es dann von seiner Arbeitsstätte in Genf aus fortzusetzen. Während für Gerald Ashman, dem Piloten des Korsikaprojektes, nichts über die Flugleidenschaft geht, ist sie für Gerald Fitzpatrick wohl eher eine Sparte seiner Leidenschaft für die von ihm auch beruflich ausgeübte Astrophysik, für das nach oben gerichtete Augenmerk, für die Geburt und das Sterben der Sterne.
Der Zirkus zieht aus der kleinen korsischen Stadt Piana weiter in die Weltstadt Paris. Das Programm ist in einigen Punkten verändert, was bleibt ist das Finale, als alle Schausteller, die zuvor Zauberkünstler, Seiltänzer, Feuerschlucker oder Hellseher gewesen waren, ausgerüstet mit Musikinstrumenten und begleitet von einer weißen Gans vor das Publikum treten, um auf die eindringlichste, zu Herzen gehende Weise die Abschiedsmelodie zu spielen.
Überall im Flughafengebäude Gatwick, wo der Erzähler auf den Flug nach Calvi wartet, stehen diese knallfarbigen Kästen herum, wo man mit einer Maschinenpistole, die an einer Art Nabelschnur befestigt ist, in apokalyptische Szenearios - brennende Städte, einstürzende Fassaden, fliehende Menschen - hineinfeuern kann. An Kunden, die bei diesem Divertissement dabei sein möchten, fehlt es nicht. Austerlitz erlebt ähnliches am Bahnhof Prag. Wie ausnahmslos alles Schöne wurde das an sich wundervolle Jugendstilgebäude schon bald nach seiner Fertigstellung zielstrebig ruiniert und in den sechziger Jahren umgeben mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton. Auf einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter messenden Plattform stehen in mehreren Batterien gewiß an die hundert in debilem Leerlauf vor sich hindudelnde Spielautomaten. Weitere vom Korsikaprojekt zum Roman Austerlitz verschobene Motive wären noch zu nennen, etwa das des an chronischer Schlaflosigkeit leidenden einsamen Billardspielers, mais brisons.
Wenn einerseits korsische Motive in den Roman Austerlitz verschoben wurden, tauchen im Korsikaprojekt auch Motive aus den zuvor bereits veröffentlichten Büchern auf. In Brüssel, Fünfter Teil der Ringe des Saturn, wurde eine überraschende Konzentration von Buckligen und Irren beobachtet, auf Korsika zeigt sich eine gar übernatürliche Flinkheit der Buckligen. Das im Neunten Teil der Ringe des Saturn erlebte Sterben der Bäume wird zu einem Hauptmotiv des Korsikaprojektes.
Dienstag, 1. Dezember 2020
Isule, cuntinenti
Zum Abschluß wieder der Rote Brand. Die monströsen Felsformationen der Calanches leuchteten in feurigem Kupferrot, als stünde das Gestein selbst in Flammen und glühe aus seinem Inneren heraus. Manchmal glaubte man, in dem Geflacker die Umrisse brennender Pflanzen und Tiere zu erkennen oder die eines zu einem großen Scheiterhaufen geschichteten Volks. Sogar das Wasser drunten schien in Flammen zu stehen. Die Farbe Rot ist aber nicht das letzte Wort. Man konnte das Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Es war eine weiße, anscheinend menschenleere Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein verborgener Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon. Das Zeichen ist da, aber wie soll man es deuten?
Sonntag, 29. November 2020
Evolution des Schönen
Jeder wohl denkt, Kunst ist allein Menschensache, wenn man denn die Götter aus dem Spiel läßt, Apoll etwa und die Musen. Und doch, wer an einem Spätsommerabend vom Garten her lauscht, wie die Amsel, besser der Amsel, immer wieder vom Leitungsdraht herab sein Liedchen schmettert, ist verunsichert, diese Schönheit, diese Vielfalt, dieser Ideenreichtum, diese Raffinesse. Die Evolutionslehre in ihrer einfachen Form beruhigt, alles nur Arterhaltung, wenn auch mit dem erfreulichen Nebeneffekt der Schönheit, das anmutigste Weibchen erwählt den besten Sänger, beider Gene sind unschlagbar, was könnte der Art widerfahren? Was aber ist mit dem Keulenflügel-Manakin*, der seine Gesänge nicht aus der Kehle, sondern vermittels Flügelschlag erzeugt. Zu dem Zweck verstärkten sich die Federkiele im Evolutionsverfahren erheblich, bei den stillen Weibchen unnötigerweise gleich mit, die Flugfähigkeit des Männchens leidet darunter signifikant, die des Weibchens immerhin spürbar, die Art ist offenkundig geschädigt, im Nachteil. L’art pour l’art der Evolution, ohne Rücksicht auf Verluste?
Das Balzverhalten vieler Vögel belegt, daß auch die Kunstform des Tanzes in den Kompetenzbereich des Federvolkes fällt. Damit könnte ihre Beteiligung am Kunstgeschehen als abgeschlossen gelten, wenn nicht die Laubenvögel wären, die das künstlerische Agieren der Vogelwelt zum einen um die Architektur und zum anderen um die bildende Kunst erweitern. Die Lauben selbst sind bei einigen Arten architektonische Wunderwerke, der Hüttengärtnervogel (Amblyornis inornata) dekoriert überdies den Zugangsweg zur Laubenhütte in einer Weise, die an Produkte der modernen bildenden Kunst erinnert. Die traditionelle Malerei ist den Vögeln naturgemäß nicht zugänglich, da es sich vorwiegend um erzählende, also Sprache voraussetzende Bildwerke handelt, die Bildwerke Giottos, Fra Angelicos und anderer mehr, gehe es um Ruth, um Hagar, oder um die heilige Jungfrau selbst, sind erzählende Theopoesie (Sloterdijk) in Bildform. Der Zugang zur Sprache aber ist den Tieren verschlossen, das Plappern des Papagei darf uns nicht in der Irre führen, Bedeutung wird nicht mitbefördert. Literatur als Kunstform ist dem Menschen vorbehalten. Die Schwierigkeit für die Literatur liegt darin, daß der Alltagsgebrauch der Sprache sie stärker belastet, als es bei den Klängen und Bildern der Fall ist. Wenn Sergio Chejfec urteilt: Sebald ramène le lecteur à une position souvent perdue depuis longtemps: l'admiration et le pur plaisir esthétique, heißt das, diese Schwierigkeit wurde überwunden, sofern, woran wir glauben, Chejfecs Urteil zutrifft.*Richard O. Prum, The Evolution of Beauty