Freitag, 24. Januar 2020

Im Garten Eden

Sein und Schlaf

Betrachtet man die Katze, Felis silvestris catus, im Schlaf, so scheint in diesem, in der Tier- und Menschenwelt gleichermaßen verbreiteten physischen und psychischen Aggregatzustand das Trennende auf ein Minimum geschrumpft. Eingerollt, das runde Köpfchen voller Unschuld auf den noch unschuldigeren Vordertätzchen ruhend, leise wohlige Geräusche. Man hat einen Augenblick nicht hingeschaut, und nun hat die Katze sich gestreckt, liegt halb auf dem Rücken, die Hinterpfötchen gegen die linke, die Vorderpfötchen gegen die rechte Armlehne des Sessels gedrückt, Stille und Frieden, kein beunruhigender Gedanke, kein Traum von Beute, kein Alptraum von feindlich gestimmten Artgenossen, jagenden Hunden, wenn das doch das ganze Leben wäre für Katze und Mensch. Der Dichter hat bekanntlich ähnliche Eindrücke im Umgang mit Sus scrofa domesticus, dem Hausschwein, gewonnen. Er steigt über den Elektrozaun, hinter dem die Herde lagert und nähert sich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Langsam öffnet sich, als er sich niederbeugt zu ihm, sein kleines von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickt ihn fragend an. Er streicht dem Tier über den erschauernden Rücken, den Rüssel und das Gesicht und krault ihm die Kuhle hinter dem Ohr, bis es aufseufzt wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch. Man darf sich allerdings bei all dem nichts vormachen, die Katze wird wieder auf Vogelfang gehen, und der Dichter wäre nicht der erste Mensch nach dem Sündenfall, den eine Schweineherde bis auf das Gebein verzehrt hätte.

Mittwoch, 22. Januar 2020

Unterwelten

Gleiten

Sollen wir glauben, daß der Erzähler an dieser U-Bahnstation in London nie jemanden hat ein- oder aussteigen sehen und daß, betritt man von der Straßenseite her den Eingang zu der Station, in der dunklen Vorhalle außer einer sehr schwarzen, im Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen ist? Ist es nicht vielmehr einfach so, daß oft nur einige wenige hier ein- oder aussteigen und demgemäß auch die Vorhalle oft recht leer ist? Sollen wir glauben, daß der Artist, den der Erzähler im Wartezimmer des deutschen Konsulats in Mailand trifft, Giorgio Santini heißt? Ist dem Erzähler nicht eher nur die Ähnlichkeit des Hutes, den der Artist in der Hand hält, mit der Kopfbedeckung des San Giorgio auf Pisanellos Bild San Giorgio con cappello di paglia aufgefallen, den Namen hat der dann selbst erdacht? Sollen wir glauben, daß den Erzähler in der Pizzeria Cadavero eine derartige Panik erfaßt, so daß er hinausstürzt auf die Straße, in einer Bar ein Taxi rufen läßt, im Hotel in aller Eile seine Sachen packt und mit dem Nachtzug nach Innsbruck flüchtet? Hat er nicht eher, weil die Atmosphäre der Gaststätte sein allgemeines Unbehagen noch steigerte, den Entschluß zur Abreise gefaßt und diesen Entschluß dann zügig aber ohne übertriebene Eile umgesetzt? Können wir irgendetwas glauben, von dem, was wir lesen?

Man kann annehmen, daß der Ablauf der in All’estero geschilderten beiden Reisen in groben Zügen der Realität entspricht und daß auch die geschilderten Erlebnisse erlebt wurden, dabei ist es letztlich gleichgültig, ob es sich um nachgezeichnete Realität oder um eine Fiktion des Realen handelt. Es scheint aber, als würde die geschilderte Realität, ihrer selbst unsicher, ständig ins Gleiten geraten. Das gilt für die U-Bahnstation, für Giorgio Santini, die Pizzeria Cadavero oder etwa auch für die Schlacht um den Cappuccino am Stehbuffet im Bahnhof, den rätselhafte Graffito-Eintrag Il cacciatore im Bahnhofspissoir Desenzano, die Metamorphose der schriftlichen Bestätigung des Paßverlusts in einen Trauschein.

Die ins Gleiten geratene Realität läßt eine weitere, untergründige Welten erahnen, weitere Melodien, den Takt zu dem Spiel gibt das einander in seinen Auftritten immer wieder ablösende Mythisches Duo bestehend aus San Giorgio und Gracchus dem Jäger. Die Szene im Konsulat läßt drei Deutungen zu: Der Artist hat einen Hut ähnlich dem San Giorgios in der Hand und heißt zufällig Giorgio Santini. Oder: Der Artist hat einen Hut ähnlich dem San Giorgios in der Hand, der Erzähler verleiht ihm daraufhin den Namen Giorgio Santini. Oder: Giorgio Santini ist die gegenwärtige Inkarnation des San Giorgio. Der Leser kann sich für eine der drei Lesarten entscheiden, muß es aber nicht. Bei einer ersten Lektüre wird er, unter leichten Schwindelgefühlen, ohnehin die realistische Lesart verfolgen, dann vielleicht zu der mythischen Lesart wechseln und schließlich die Fülle der Lesarten bestehenlassen. Ist die U-Bahnstation verhext oder nur schwach frequentiert, oder trifft beides zu? Am Brenner steigt, wie in der Londoner U-Bahn, niemand aus oder ein, die schwere Stille wird durchbrochen vom Brüllen namenloser, auf einem Abstellgleis im Dunkeln wartender Tiere, vielleicht ist auch der Fernzug auf ein Abstellgleis geraten, von einer Weiterfahrt lesen wir zumindest nichts. Erst der Aufbruch zur zweiten Italienreise läßt erkennen, daß der Erzähler jedenfalls nicht für die volle Dauer von sieben Jahren am Brenner verblieben ist.

Donnerstag, 16. Januar 2020

Meilensteine

Jagdfieber


Ob nun Zufall oder Fügung, in der Schublade des Nachttischs seines Hotelzimmers in Piana findet Adroddwr, der Erzähler, einen alten Band der Bibliothèque de la Pléiade der Trois Contes Flauberts, darin die Nacherzählung der Legende vom unheiligen Sankt Julian. Es beginnt in sehr jungen Jahren, noch im sogenannten zarten Kindesalter, mit der Ermordung einer Kirchenmaus, am folgenden Tag hängt eine mit der Schleuder erlegte Taube zuckend im Ligusterbusch und sobald der Junge das Waidwerk erlernt hat, verbringt Julian die Tage mit der Sauhatz im Wald, der Bärenjagd in Gebirge oder in den Hirschgründen. Beschmiert mit Schlamm und Blut kommt der Jäger allabendlich heim, und so geht es fort und fort mit dem Töten, bis der Heilige sich schließlich auf seine tief verborgene Heiligkeit besinnt. In seiner kurzgefaßten Nacherzählung der Gracchus-Fragmente Kafkas geht der Dichter, ein anderes Ziel verfolgend, nicht ein auf die Unschuldsbekundungen des mythischen Jägers: Ist das eine Schuld, ich war Jäger, lauerte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Der große Jäger vom Schwarzwald hieß ich. Ist das eine Schuld? - Der Erzähler vermeidet die Stellungnahme, würde ohne Zweifel aber Roberto Calassos Antwort billigen: Sì, è una colpa. Nachdem der Mensch seit ewigen Zeiten von unbesiegbaren Raubtieren gejagt wurde, hat er die Waffen erfunden und ist selbst zum Raubtier geworden. Die anderen Tiere haben dem Menschen diesen Wechsel nicht verziehen. Loro hanno continuato a essere fedelmente ciò che erano. Uccidevano e si facevano uccidere secondo le antiche regole. Soltanto l'uomo osava espandere il repertorio dei suoi gesti. Calasso führt die Schuld des Jägers zurück zur Wegscheide, an der Mensch abgezweigt ist von der Tierwelt, Girard macht die gleiche Stelle zum Zentrum seiner den sogleich aufkeimenden Mythen abgelesenen Anthropologie. Im Augenblick der Menschwerdung seien sei die instinktive Tötungshemmung entfallen, nur geregelte Menschenopfer hätten die selbstbetriebene Ausrottung der Gattung verhindern können. Das sukzessive Ersetzen der Menschenopfer durch Tieropfer war dann nach allgemeiner Übereinkunft als ein humanistischer Meilenstein anzusehen.

Es ist Jagdsaison, draußen vor der Tür, in der Umgebung von Piana herrscht eine Art Kriegszustand. Zu jagen gibt es kaum noch etwas, da das in den Inselwäldern wohnende Wild heute nahezu gänzlich ausgerottet ist. Die Jäger haben ein eher partisanenhaftes Gehabe angenommen. Unrasiert, mit schweren Gewehren sehen sie aus wie die kroatischen und serbischen Milizen und wie diese verstehen auch die korsischen Jäger, wenn man sich in ihr Territorium verirrt, keinen Spaß. Война и мир, schon immer gab es ein wohlwollendes Miteinander von Schlacht und Jagd, die mittelalterlichen Ritter waren Krieger zu Kriegszeit und Jäger in Zeiten des Friedens und das gilt auch noch für Tolstois Nikolaj Rostow. Die Bereitschaft, jederzeit die Seiten zu wechseln, ist unverkennbar, nicht nur bei den Jägern. Man denke an die Leichenöffnung, getarnt als Schauspiel unerschrockenen Forschungsdrangs verfolgt sie vor allem anderen das archaisches Ritual der Zergliederung eines Menschen, die Peinigung des Fleisches bis über den Tod hinaus.

In den ungeheuren, auf menschliches Verschulden zurückgehenden Buschfeuer im Osten Australiens sollen eine Milliarde Tiere ums Leben gekommen sein, Känguruhs, Koalabären, alles was kreucht und fleucht. Nur weniger als fünfzig Menschen dagegen sind bislang verbrannt oder erstickt, ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer humanen Welt, ganz im Sinne Becketts: c'est de cette facon que l'homme se distingue des animaux et va, de découverte en découverte, toujours plus haut, vers la lumière.

Mittwoch, 15. Januar 2020

Schwierig, die Zeit

Lebendig tot


Das Verwunderliche beginnt bereits mit der Erzählung Beyle: 1813 unternimmt Stendhal in Begleitung von Mme Gherardi eine Reise nach Oberitalien. Von Gargnano setzen sie in einer Barke über nach Riva, auf der Kaimauer des kleinen Hafens sitzen zwei Knaben beim Würfelspiel. Beyle macht seine Begleiterin aufmerksam auf einen schweren alten Kahn mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen eine Bahre an Land trugen. 1913 nimmt Kafka als Vertreter der Prager Versicherungsanstalt an einem Kongreß in Wien teil und reist dann weiter zu einer Kur in Riva. Er beobachtet, wie aus dem Schatten allmählich die Umrisse einer Barke mit unverständlich hohen Masten und finsteren faltigen Segeln auftaucht. Drei volle Jahre dauert es, bis die Barke, als werde sie über das Wasser getragen in den kleinen Hafen einläuft, drei Jahre bis Kafka sein Erlebnis niederschreibt. Zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen tragen ein Bahre an Land, unter einem großen, blaugemusterten Tuch ein Mensch. Es ist der Jäger Gracchus, einerseits schon seit tausendfünfhundert Jahren tot, andererseits noch unter den Lebenden, da sein Todeskahn ursprünglich seine Fahrt verfehlt hatte. Drei Jahre für die Einfahrt in den Hafen, aber nicht hundert Jahre, offenbar haben Stendhal und Kafka im Abstand von hundert Jahren gleiches erlebt, offenbar vermochte der alte Kahn, nachdem er zunächst vermutlich vom Delta des Po aus und dann Minciofluß folgend in den Gardasee gelangt war, keine größeren Fahrten mehr unternehmen. Er stagniert, dümpelt, die Zeit, die man gern mit einem Fließgewässer vergleicht, ist zum See geworden. 

Vielen wird bei der Lektüre die Namensähnlichkeit von San Giorgio und Giorgio Santini auffallen, ohne allzuviel Nachdenken auszulösen, was soll auch den Heiligen mit dem Artisten verbinden. Die wenigsten werden Pisanellos Bild im Detail vor Augen haben und in dem Hut, den Santini in der Hand hat, San Giorgios cappello di paglia erkennen. Wenn Pisanellos Bild am Ende des Buches ausführlich vorgestellt wird, werden einige Santinis Hut auch schon wieder vergessen haben. Das geht nicht zu Lasten Pisanellos, der sich als Seher erweist und San Giorgio mit einer extravaganten Kopfbedeckung ausstaffiert, um hunderte von Jahren vorgreifend den Artisten Santini anzukündigen. Während Gracchus über all die Jahrhunderte hin unverändert bleibt, schlängelt Giorgio sich ähnlich Virginia Woolfs Orlando in wechselnder Gestalt bis in die Neuzeit, allerdings werden wir über die einzelnen Phasen und die verschiedenen Inkarnationen kaum unterrichtet. Bei beiden, Gracchus und Giorgio, sind der Anfang und das Ende sichtbar, richtiger das, was wir, die wir die Zukunft nicht kennen, als das Ende hinnehmen.

In Wien entläßt der Erzähler einen Schwarm lebendiger Toter in die Menge der Lebenden, Mathild Seelos, der Dorfschreiber Fürgut und eine Reihe anderer, an die er sich aus der Kinder- und Jugendzeit erinnert, obendrein den Bayernkönig Ludwig und den italienischen Dichter Dante. Der Zeitsprung aus der Gegenwart zurück zu Dante ist nicht ganz so gewaltig wie der zurück zu Gracchus oder San Giorgio, aber doch der halbe Weg.

Im Bahnhof Venedig findet der Erzähler zwei Augenpaare auf sich gerichtet, die ihn dann weiter verfolgen und schließlich zu einer panikartigen Flucht verleiten, zwei Augenpaare ohne räumlichen und zeitlichen Umfang, reine Gegenwart. Falls es die Augen der ORANIZZAZONE LUDWIG, die Augenpaare Furlans und Abels gewesen sein sollten, füllt sieben Jahre später Salvatore Altamuras Bericht die Leere aus.

Nie wenn Adroddwr mit der Bahn durch diese Londoner U-Bahnstation gefahren ist, hat er jemand ein- oder aussteigen sehen. Nun kommt er von der Straßenseite her und steht auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der Station und brauchte, um sich die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer der sehr schwarzen, im Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen ist. Wenn draußen an den Gleisen nie jemand ein- oder aussteigt, dann wird die Prinzessin immer in der dunklen Vorhalle in ihrem Schalterhäuschen sitzen müssen. Die Zeit will einschlafen, der Augenblick wird zur Ewigkeit.

Ganz zum Schluß des Buches wagt der einen Vorgriff in die damalige Zukunft: 2013 Ende


Austerlitz hat nie eine Uhr besessen, weil aus seiner Sicht Uhren ein irreführendes Bild vom Wesen der Zeit vermitteln. Die Zeit sei die weitaus künstlichste Erfindung der Menschheit, wenn Newton meinte, die Zeit sei ein Strom wie die Themse, wo ist dann die Quelle dieses Stroms, und wo mündet er? Warum steht die Zeit an einem Ort ewig still und verrauscht an einem anderen? Die Zeit kennt kein Gleichmaß, bewegt sich vielmehr in Wirbeln, Stauungen und Einbrüchen. Die Toten sind außer der Zeit und die Sterbenden, schon ein Quantum persönlichen Unglücks kann uns abschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft.

Die weitaus künstlichste Erfindung der Menschheit. Erzählung und Philosophie wollen die Welt einerseits verständlich machen, andererseits ihre Unverständlichkeit demonstrieren, nichts eignet sich dazu besser als die Zeit, bereits Sartre hatte, um sich von Heidegger abzuheben, die Zeit vorsichtshalber durch das Nichts ersetzt, ein nicht weniger schwer begehbares Terrain allerdings.

Sonntag, 5. Januar 2020

Kurzauftritte

Komparsen

In den Schwindel.Gefühlen (SG) und in den Ringen des Saturn (RS) läßt Adroddwr seine schemenhaft erkennbare Familie zurück und begibt sich auf einsame Reisen und Wanderungen, in SG Reisen in urbane Gegenden, in RS Wanderungen durch ländliches Gebiet. Die einsame Bewegung steht im Vordergrund, die Begegnung mit Menschen ist weniger gefragt. Wo Gedränge herrscht, ist eine Begegnung mit Menschen ohnehin nicht möglich. In Venedig lagert in der Bahnhofshalle hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, da bleibt nur die Flucht. Im Gedränge am Bahnhofsbuffet einen Cappuccino zu erlangen, gleicht einer Heldentat, und für einen Augenblick war dem Erzähler zumut, als hätte er den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen. Er hält kein einfaches Trinkgefäß in der Hand, sondern einen Pokal siegreicher Selbstbehauptung, zu Begegnungen von Mensch zu Mensch kommt es in dem feindlichen Gedränge naturgemäß nicht. In Mailand hat Adroddwr das Privileg, von der oberste Galerie des Doms aus sicher Entfernung unbelästigt herabzublicken auf die unten über das Pflaster hastenden Gestalten, bei denen es sich nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. Eine Ausdünnung der Massen ist notwendige aber nicht unbedingt hinreichende Voraussetzung für eine Begegnungen unter Menschen. In Wien, eine bevölkerungsreiche Stadt, aber nicht ohne stille Plätze, hat der Erzähler in den zehn Tagen des Aufenthalts mit niemandem ein Wort gewechselt, außer mit Kellnern und Serviererinnen, und mit denen auch nur das nötigste, Bestellung und und Begleichung der Rechnung. Menschliche Worte hat er nur mit den Dohlen in den Anlagen vorm Rathaus ausgetauscht und mit einer weißköpfigen Amsel, die Vögel bleiben uns vor Augen, von dem Bedienpersonal haben wir kein Bild. Auch das Personal an der Hotelrezeption wird nicht augenfällig, vom Einnachten wird nicht berichtet, früh am Morgen verläßt der Erzähler unbeachtet die Unterkunft, am Abend passiert er eilig den Nachtportier und spürt dessen langen, fragenden Blick im Rücken. Für Verona wird ohne weitere Ausführungen das Einnachten in der Goldenen Taube bestätigt, das Personal an der Rezeption, auf das der Dichter eigentlich immer ein besonderes Auge hat, wird wiederum nicht beachtet. Am Ausgang des Giardino Giusti nickt ihm die Pförtnerin aus ihrem dunklen Gehäuse zu, hatte auch sie zuvor die Flugspiele des Taubenpaars beobachtet? Die Mesnerin von Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, verschwindet, nachdem sie einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor dem einzigen Besucher hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag. Zwei Frauen eingesperrt in eine enge Behausung, sie sind nicht die einzigen. Die herausragende Figur in dieser Gruppe ist die sehr schwarze Negerfrau im Schalterhäuschen der offenbar, zum Guten oder zum Schlechten, verzauberten Londoner U-Bahnstation, an der nie jemand ein- oder aussteigt. Auch von den Astrophysiker Malachio erfahren wir nicht allzuviel bis auf den Hinweis, daß er alles und nicht nur die Sterne aus der größten Entfernung sieht und mit Vorliebe den bei der Auferstehung von den Toten sich ergebenden Fragen nachgeht - nicht viel, wie gesagt, aber mehr als genug, um immer wieder über ihn nachzusinnen. Auf der zweiten Italienreise nimmt die Zahl der flüchtigen Zufallsbegegnungen deutlich zu.

In RS überwiegen die geplanten Einkehrbesuche gegenüber den zufälligen Begegnungen, aber steht uns Hamburger lebhafter vor Augen als das namenlose Mädchen im Dorfladen von Middleton, das auf die Fragen des Erzählers nur mit einem verständnislosen Kopfschütteln reagiert? Den Komparsen wurde gegenüber den Hauptdarstellern eine durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen, und tatsächlich erreicht der Dichter gerade bei den kurzen Begegnungsszenen unvergeßliche Eindrücke mit der mühelosen Leichtigkeit, wie sie Tolstoi, dem fabelhaft unangestrengten Demiurgen, eigen ist.

So wie der Dichter sich immer wieder vergewissert in Johann Peter Hebles Kalendergeschichten, ob es den Barbier von Segringen und den Schneider von Pensa noch gibt, so kommen wir immer wieder zurück auf die Gestalten, die er uns zeichnet und fragen, ob wir denn auch das richtige Bild von ihnen haben. Würde die scheue Bedienerin im Hotel Lowestoft, die dem Erzähler die schlecht aufgetaute Fischschnitte reicht, ihrerseits bei einer etwas längerer Bekanntschaft vielleicht auf gelungenere Weise auftauen? Ist es vielleicht ein Segen, wenn ein Kontakt mit der Franziskanerin und dem Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke nicht zustande kommt, hätten die beiden sich im Gespräch womöglich gründlich blamiert? Ist die maulanhängende Bedienerin in den Tiroler Stuben nicht doch ein imgrunde freundlicher und im Augenblick nur unglücklicher und daher unbeherrschter Mensch? Müßten nicht endlich ernsthafte Anstalten unternommen werden, um die sehr schwarze Negerfrau aus dem engen Schalterhäuschen der Londoner U-Bahnstation zu befreien?
Ist Luciana Michelotti zu dem Komparsen zu rechnen oder doch zu den Protagonisten? Von ihr wird immerhin eine Familiengeschichte erzählt, die Familie tritt aber nur als Familienunternehmen im Gaststättenbetrieb in Erscheinung, das könnte den vom Familienglück besessenen Tolstoi nicht zufriedenstellen. Als der Erzähler dann aber die Paßverlustbescheinigung als Trauschein wertet, ist immerhin ein Hauch von Анна Каренина spürbar.

Freitag, 3. Januar 2020

London

Lerpwl stryd orsaf

Adroddwr, der Erzähler, fährt, wie er sagt, oft nach London hinunter, nicht etwa, um die sogenannte Atmosphäre der Metropole zu genießen, Großstadtluft zu schnuppern, wie es auch heißt, sondern immer aus einem konkreten Anlaß, etwa weil er der ortsansässigen Ärzteschaft nicht hinreichend vertraut. Aus dem Zug schaut er in die flache, fast baumlose Landschaft hinaus, auf die Schrebergartenkolonien, das Krüppelholz, das an den Böschungen wächst, den Wasserturm von Colchester, die häßliche Rückseiten der Reihenhäuser, das Gräberfeld von Manor Park, auf die immergleichen und doch fremd und unheimlich gebliebenen Ansichten, schließlich durch einen Engpaß sich windend die Einfahrt in die Liverpool Street Station. Unmittelbar nach der Ankunft meldet sich der Erzähler aus der Praxis des Ophthalmologen Zdenek Gregor in der Harley Street, anders als die Fahrt durch die Vorstädte wird der Weg durch die Stadt nicht beleuchtet. Aus dem grauen Himmel schwebten einzelne Schneeflocken herab, und wie als Kind zum Winteranfang in den Bergen erwachte der Wunsch, daß alles auf immer zuschneien möge, zuhaus das Dorf und das Tal und hier die große Stadt London. Dazu wird es nicht kommen.

Fast jedesmal, wenn der Erzähler, aus welchem Grund auch immer, in London war, hat er Austerlitz an seinem Arbeitsplatz in Bloomsbury unweit des British Museum besucht. Austerlitz ist der wahre Erkunder der Stadt. Auf seinen fortwährenden Nachtwanderungen hat er sowohl den Stadtkern als auch die Außenbezirke durcheilt, immer fort und fort, auf der Mile End und Bow Road über Stradford bis nach Chigwell und Romford hinaus, quer durch Bethnal Green und Canonbury, durch Holloway und Kentish Town, bis auf die Heide von Hampstead, südwärts über den Fluß nach Peckham und Dulwich oder nach Westen bis Richmond Park. Tatsächlich kann man in einer einzigen Nacht von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen und dabei nur einzelnen Nachtgespenstern begegnen. Es gibt immer eine Möglichkeit, die Menschenmassen zu lichten, Dunkelheit ist ein probates Mittel, wenn der Erzähler in jungen Jahren bei einbrechender Nacht in Manchester hinausging, war er wohl sogar der einzige Mensch, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist.

Die Rückfahrt so wie die Hinfahrt. Langsam bewegt sich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus. Die Häuserwüste tut sich auf, in der Entfernung drei ganz und gar eingerüstete Wohntürme, ein lichterloher Himmelsstreifen am westlichen Horizont, der Blick zurück offenbart im flach einfallenden Licht die vergoldeten Wunderbauten der City, die auf den Erzähler offenkundig keinen guten Eindruck machen, die Vorstädte treiben vorüber, die Abendschatten senken sich über Hecken und Felder. Tröstlich, in Samuel Pepys Tagebuch vom alles vernichtenden Brand in der großen Stadt London zu lesen, wenn nicht durch Kälte und Schnee, dann eben durch Feuer und Glut.

Mittwoch, 1. Januar 2020

Prinzessin

Erlösung


All die schönen Frauen in ihren engen Zellen, wäre es nicht am Erzähler, sie zu erlösen, vor allen anderen die afrikanische Prinzessin im Schalterhäuschen der Londoner U-Bahn. Nie wenn er mit der Bahn durch diese offenbar verhexte Station gefahren ist, hat er jemand ein- oder aussteigen sehen. Nun kommt er von der Straßenseite her und steht auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der Station und brauchte, um sich die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer der sehr schwarzen, im Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau – offenbar eine verstoßene Königstochter aus Benin - nicht ein lebendiges Wesen zu sehen ist. Wenn draußen an den Gleisen nie jemand ein- oder aussteigt, dann wird die Prinzessin immer in der dunklen Vorhalle in ihrem Schalterhäuschen sitzen müssen. Zwar steht der Erzähler eine beträchtliche Zeit auf der Schwelle und wechselt auch einige Blicke mit der schwarzen Frau, den letzten Schritt aber wagt er nicht zu tun.

Die Begegnung mit den eingeschlossenen Frauen ist immer ein Tête-à-tête, der Erzähler ist allein, im Dunkel ihrer Behausung kann er die Frauen nur unscharf erkennen. Am Ausgang des Giardino Giusti nickt ihm die Pförtnerin aus ihrem dunklen Gehäuse zu, er hat sie flüchtig wohl auch bereits beim Eintritt gesehen, nun ist sie erlöst, sie kann die Hütte verlassen und das Tor zum Garten schließen. Die Kassiererin in der Casa Bonaparte ist zunächst gar nicht zu sehen, erst als der der Erzähler unmittelbar vor dem Tresen steht, entdeckt er, daß dahinter in einem zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau ruht, womöglich schon seit Napoleons Tagen, eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Franzosenkaiser war jedenfalls nicht zu verkennen. Eine weitere Damen aus der Napoleonlinie erwartet ihn bereits wach und freundlich im oberen Stockwerk, wenn er dann wieder geht und die Casa verläßt, haben die beiden ihre Schuldigkeit getan und können das Haus von außen verschließen. Die Mesnerin in der Chiesa Sant’Anastasia wartet nur darauf, daß der lästige Besucher wieder verschwindet, um ihr Gehäuse aufzusuchen und für immer darin zu bleiben. In der Londoner Nationalgalerie fehlt offenbar eine zuverlässige Wächterin, Besucher sind eingedrungen, die mit dem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle der Galerie durchwandern, es ist nachzuvollziehen, wenn der Erzähler seinerseits die pflichtvergessene Wächterin nicht beachtet, weder beim Betreten noch beim Verlassen des Gebäudes.

Zurück zur Londoner U-Bahn. Angenommen, der Erzähler wagt den letzten Schritt, löst ein Ticket und erlöst die Königstochter aus Benin. Zum ersten Mal steigt mit ihm jemand ein an der Station, an der aus gutem Grund noch nie jemand eingestiegen ist, viele, endlos viele steigen jetzt aus, schieben sich dahin, eingezwängt auf den Rolltreppen, schwankende ineinander verschlungene Leiber, fluten die Museen und Gärten bis hin nach Italien und Korsika, dem Erzähler bleibt nur die Flucht, Flucht wohin? – seine und unsere Refugien sind verloren.