Lesestoff
Die alte Nationalbibliothek in der Rue Richelieu mit ihrem Kuppelsaal und den grünen Porzellanlampenschirmen, die ein so gutes, beruhigendes Licht gaben, und mit den im Kreisrund sich fortsetzender Bücherregalen war ein Paradies für Leser, die auf Tuchfühlung und in stummen Einvernehmen mit ihren Platznachbarn an ihren mit kleinen Emailleschildchen numerierten Pulten gesessen sind. Die Nationalbibliothek in der Rue Richelieu ist nun geschlossen zugunsten der neuen Bibliothek am Quai François Mauriac, einem in seiner ganzen äußeren Dimension und inneren Konstitution menschenabweisenden und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetzten Gebäude. Die Besucher werden durch ein Förderband herabgebracht ins Untergeschoß. Man landet vor einer mit einer Vorhängekette verschlossenen Schiebetür, an der man sich von halbuniformierten Sicherheitsleuten untersuchen lassen muß. Nach einer halben Stunde oder länger wird man von einer Bibliotheksangestellten in eine separate Kabine gebeten, wo man unter Ausschluß der Öffentlichkeit seine Wünsche äußern und entsprechende Instruktionen empfangen darf, jede Lesefreude ist in der Zwischenzeit verflogen. Provinzstädte haben Bauwerke wie die neue Nationalbibliothek nicht zu befürchten, Gebäude wie die alte Nationalbibliothek können sie nicht erwarten. Auf dem Lande obliegt die belletristische Versorgung nicht selten einer Bibliothek auf Rädern, Objazdowa Biblioteka. Pradera betritt den Bibliotheksbus am Sonntagmorgen, während in der Kirche noch die Messe gelesen wird, die einsame Bibliothekarin kann sich ganz ihm und seinen spezifischen Interessen widmen. Stanislaw Lem und Sajęsz Fikszyn überhaupt liegen, wie sich zeigt, nicht uneingeschränkt auf seiner Linie, auch nicht Sienkiewicz, eher schon Liebesgeschichten, Romanzen, gibt er zu. Die Bibliothekarin muß sich für einige Zeit zwei Schülerinnen zuwenden, die auf der Suche nach der Pflichtlektüre für das nächste Schulhalbjahr sind, und schon hat Pradera gewählt: Lato leśnych ludzi, Der Sommer der Holzer der Autorin Maria Rozdziewiczówna. Ruft man Bilder der Rozdziewiczówna auf, stößt man auf eine robuste Gestalt in Männerkleidung mit einem Herrenhaarschnitt, es ist gleichwohl Maria Rozdziewiczówna. Zurück in seiner Unterkunft öffnet Pradera das Buch und schließt es wieder. Ob er es jemals liest, bleibt verborgen, jedenfalls aber inspiriert der Titel den Autor, Stachura, zum Untertitel der Siekierezada: Zima leśnych ludzi, Der Winter der Holzer. Der holzerversessene Maler Hengge hätte beide Bücher, das Sommer- wie auch das Winterbuch, illustrieren sollen.
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