Dienstag, 11. September 2018

Brunnen der Höflichkeit

Ein Fest

Auch wenn den Hauptdarstellern und den Komparsen dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen ist, sind sie sich doch nicht in allen Punkten gleich. Zwischen den Protagonisten ist Höflichkeit so selbstverständlich, daß man sie gar nicht bemerkt. Das Verhältnis zwischen Hauptdarstellern und Komparsen steht dagegen nicht immer im Zeichen der Freundlichkeit und Feingefühl. In Restaurants wird Selysses in der Regel schlecht bedient, in Hotels und Pensionen nicht immer mit einem Lächeln empfangen. Im Hotel Boston zu Mailand kommt die Signora, ein völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig bis siebzig Jahren aus dem Fernsehzimmer hervor und hält skeptisch ihren Vogelblick auf Selysses gerichtet, in Kissingen ist das Foyer des Hotels so leer wie der Bahnhofsvorplatz und die Empfangsdame mustert ihn mit einem Blick, als befürchte sie von ihm einen Hausfriedensbruch. Im Lift sieht er sich einem gespenstischen alten Ehepaar gegenüber, das ihn mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrt. Selysses selbst läßt sich wohl keine unmittelbare Unfreundlichkeit zu Schulden kommen, lästert aber hinter dem Rücken von Leuten, die ihm mißfallen, so über die Tirolerinnen im Bus von Innsbruck nach Oberjoch oder über den Brotzeitesser im Zug nach Kissingen.

Szerucki ist ein großer Freund von Höflichkeit. Gern genehmigt er sich schon am Morgen in der Knajpa einige Gläschen, parę kieliszków, es graust ihm aber, wenn er dabei die wenig höflichen Gespräche wahrer Männer über die Frauen mitanhören muß. Darin ähnelt er schon fast Aljoscha Karamasow. Andererseits sind auch ihm Grobheiten nicht fremd. Als ihn jemand auf der Straße um ein paar Złote bittet, fertigt er ihn ab mit dem Wort Spierdalaj, das bei wörtlicher Übersetzung in korrektes Deutsch Fuck off ergibt. Als Szerucki bei anderer Gelegenheit die Öffentliche Bibliothek auf Rädern aufsucht, kommt es zwischen ihm und der Bibliothekarin, Panna Halinka, zu einem ausufernden Fest, einem Tanz der Höflichkeit, schließlich hat Szerucki das Gefühl, in einem Brunnen der Höflichkeit (studnia uprzejmości) zu versinken. Tief ist der Brunnen der Höflichkeit, es scheint kein Entkommen zu geben, jedes höfliche Abschiedswort auf der einen Seite fordert unweigerlich das nächste höfliche Abschiedswort auf der anderen Seite heraus und so fort, schließlich aber gelingt es Szerucki doch zu entweichen mit einem: Es hat mich sehr gefreut, Pani Halinko, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Auch wenn die Situation am Ende, im Brunnen, schon fast bedrohlich schien, ist das Fest der Höflichkeit doch eine wahre Freude in einer Welt, für die Feindseligkeit und Entsetzen nicht ungewöhnlich sind. 

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