Montag, 10. September 2018

Distanz

Bildungsgrade

Malachio hatte in Cambridge Astrophysik studiert und sah alles aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. Riesenhafte Entfernungen sind das ihrem Gegenstandsbereich inhärente Markenzeichen der Astrophysik, die richtige Entfernung aber ist der Prüfstein einer jeden Wissenschaft, wie weit muß man zurücktreten, um das rechte Bild zu erlangen. Es ist nicht so, daß für jede Wissenschaft eine und nur eine Distanz die richtige wäre, vielmehr bringen unterschiedliche Distanzen unterschiedliche Ergebnisarten zu Tage. Luhmann schwingt sich in extreme Höhen der Theorie, er ist gleichsam der Malachio der Soziologie. Andere bleiben auf dem festen Boden der Empirie und wollen durch Umfragen zur Wahrheit vorstoßen. E. Todd verläßt sich auf die Statistik, die er auf sonst wenig beachteten und verborgenen Feldern zur Anwendung bringt. Zentral für seinen Ansatz ist die in der jeweiligen Gegend dominante Familienstruktur, die durchaus bereits der Vergangenheit angehören kann, als sogenannte Zombiestruktur aber weiterhin die Vor- und Einstellungen der Menschen beeinflußt. Alphabetisierung, Bildungsstand und Rückgang der Kinderzahl sind für ihn entscheidende Meßbereiche fortschreitender Modernisierung. Einen Namen hat sich Todd damit gemacht, daß er den Untergang der Sowjetunion auf der Grundlage seiner Vermessungen weit vor der Zeit voraussagen konnte.

Wenn man den Fritz als Banknachbar in der Schule hat, sieht alles ganz anders aus, Distanz ist bei dieser Nähe nicht möglich. Auch der Fritz war sichtlich um seine Arbeit bemüht, doch ging sie ihm unendlich langsam vonstatten. Sogar als die Nachzügler längst fertig waren, hatte er nicht mehr als ein Dutzend Kreuzchen auf seinem Blatt. Nach einem stillschweigenden Blickwechsel führte der Banknachbar geschwind das fragmentarisches Werk zu Ende. Der Lehrer, Bereyter, hatte an dieser Kooperation nichts auszusetzen gehabt. Ob der Einfluß der im Alpenvorland vorherrschenden Formation der Stammfamilie diese Schüler und Lehrer übergreifende Hilfsbereitschaft ermöglichte, müßte der Fachmann entscheiden. Indem der Fritz durch hilfreiche Hände zum erfolgreichen Schulabschluß geführt wurde, ergab sich in jedem Fall ein positiver Einfluß auf die Bildungsstatistik, ohne daß man dabei über ein vernünftiges Maß hinausgeschossen wäre. Wem hätte es genutzt, wenn aus dem Fritz nach Abitur und Diplom ein weiterer Astronom und Sternengucker geworden und der Menschheit gleichzeitig ein begnadeter Koch verlorengegangen wäre. Denn ein Koch von Weltruf ist schließlich geworden aus dem Fritz, der sich schon während der Schulzeit eigentlich immer nur für das Essen interessiert hatte. Er hat in den besten Hotels in Zürich und Interlaken, in Madrid, New York und London gearbeitet. Der akademisch gebildete seinerzeitige Schulbanknachbar hat ihn nach langen Jahren wiedergetroffen im Museum des British Museum, der eine beschäftigt mit der Geschichte der Beringschen Alaskaexpedition, der andere mit französischen Kochbüchern aus dem 18. Jahrhundert, ein wirklich schönes Bild der Überwindung der von Todd lebhaft beklagten neuen gesellschaftlichen Ungleichheit durch die Hierarchie der Bildungsabschlüsse.

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