Freitag, 25. Oktober 2019

Kellner

Verborgenes

Wenn Handke, wie er in diesen Tagen betont, von Homer und Tolstoi herkommt, so ist er von dem eingeschlagenen Weg schon bald scharf abgebogen. Sebald hat eine positive Einstellung zu Handkes Erzählung Die Wiederholung und insbesondere zu der Figur des Kellners im Gasthof Zur Schwarzen Erde im dritten und letzten Abschnitt des Buches. Der Erzähler steht nicht in einer lebendigen Beziehung zu dem Kellner, er malt sein Bild aus der Entfernung, in dunklen und auch hellen blauen Farben, möchte man meinen. Mit ihm und auch mit den anderen Gästen spricht der Kellner nur das Notwendigste, mehr noch als beim Servierdienst sieht man ihn bei der Arbeitsvorbereitung, dem Putzen der Gläser, dem Decken der Tische &c., ein Vorgesetzter, ein Wirt tritt nicht ins Bild. In der abschließenden Einstellung sieht der Erzähler durchs Fenster den Kellner auf der Brücke über den Bach, einen Stapel Teller in der Beuge des rechten Arms, mit der Linken greift er einen Teller nach dem anderen und läßt ihn elegant, wie eine Sammlung von Spielschgeiben ins Wasser segeln. Bei realistischer Betrachtung, die aber wohl nicht gefragt ist, kann darin nur der Abschied vom Kellnerberuf gesehen werden, die Gäste können ohne Teller nicht mehr bedient werden, und der Wirt kann das Zerstörungswerk nicht billigen. Vieleicht war es aber auch vom Wirt aussortiertes und zum Verderb freigegebenes Steingut, man wird es nicht erfahren.

Sebalds Erzähler bleibt, was die Kellner und Kellnerinnen anbelangt, weitaus getreuer auf Tolstois Spuren einer realistischen Erzählweise. Fünfter November 1980, der Kellner bringt dem Erzähler  die Rechnung, Pizzeria Verona, di Cadavero Carlo e Patierno. Das Telefon läutet, erst im letzten Moment hebt Carlo Cadavero, der Kellner, ab. Wenn er ins Telefon spricht, kehrt er den Blick gegen die Decke. Ob der Erzähler die bedrohliche Atmosphäre, die ihn zur eiligen Flucht veranlaßt, zu recht oder zu unrecht verspürt, bleibt offen. Wenig an Klarheit zu wünschen übrig läßt dagegen die Situation im Bahnhofsrestaurant Innsbruck. Auf eine gar nicht unfreundlich gemeinte Bemerkung über den Tiroler Zichorienkaffee hin hängt die Bedienerin dem Erzähler auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul an. Nicht offen unfreundlich aber auch nicht gerade einnehmend ist die verschreckte junge Frau, die im großen Speisesaal des Hotels Lowestoft seine Bestellung entgegennahm und ihm bald darauf einen gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch brachte, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer er dann die Zinken seiner Gabel verbog. Ganz anders geht es zu im Hotel Sole in Limone, wo Luciana Michelotti unter anderem auch für die Kellnerei zuständig ist. Verabredungsgemäß bringt sie dem mit seinen Manuskripten beschäftigten Erzähler in regelmäßigen Abständen einen Express und ein Glas Wasser, bleibt bei ihm stehen und knüpft eine kleine Unterhaltung an, und einmal ist ihm gewesen, als spürte er gar ihre Hand auf seiner Schulter.

Wie immer bei Sebald sucht man auch in diesen vier Szenen nach etwas unangekündigt Verborgenem, das aber nicht leicht offenbar wird. Vielleicht war alles nur so, wie es war und wie es bei Tolstoi gewesen wäre. Handke versucht, sich soweit wie möglich auf der unteren, verborgenen Ebene zu bewegen, auf der weder Tolstoi noch Homer anzutreffen sind.

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Bethäuser

Unter der Woche

Die Bahnhöfe seien die neuen Kathedralen, heißt es an einer Stelle, die Bahnhöfe haben diesen Status aber nicht wahren können, die Kathedralen selbst treten im Rahmen der umfänglichen Architekturbetrachtung nicht auf. In Paris bekommen wir Notre Dame nicht zu Gesicht, in London nicht Sankt Paul, in Mailand mißbraucht der Erzähler den Dom als Aussichtsturm. Vom Brüsseler Justizpalast heißt es, er könne niemandem gefallen, der bei Verstand ist, von den Kathedralen wird derlei nicht gesagt und kann auch von keinem Verständigen gesagt werden, und weil es nicht gesagt werden kann, bleiben die Kathedralen ganz unerwähnt. Auch um die Verkünder des Heils ist es eher schlecht bestellt, wir stoßen auf zwei Komödiantenpaare, auf den Katecheten Meier und den Benefiziaten Meyer in der Erzählung Bereyter sowie auf den Zündapp-Pfarrer im Verein mit dem Zündapp-Arzt in der Erzählung Ritorno in Patria. Halbwegs ernst zu nehmen als Künder der frohen Botschaft ist allein der calvinistische Prediger Emyr Elias, möglicherweise ein Nachfahre des seinerzeit prominenten walisischen Predigers John Elias (ganwyd 1774, bu farw 1841). Ein zeitgenössisches gemaltes Bild zeigt John Elias auf einer Freiluftveranstaltung in Bala, bei der er von einer eigens errichteten hölzernen Kanzel einer größeren Zahl von Menschen predigt, als in einem Bethaus Platz finden könnten. Generell aber wird der Gottesdienst in Wales weder unter freiem Himmel noch in Kathedralen gehalten, sondern in Bethäusern, von deren vermutlich anspruchsloser Architektur wir weiter nichts erfahren, von deren Besuch aber sich die Waliser und Waliserinnen in ihren schwarzen Hüten und ihren schwarzen Regendächern durch nichts und von niemanden abhalten lassen, nicht einmal von aggressiven Papageien, die schon auf sie lauern bei diesen regelmäßig wiederkehrenden sonntäglichen Gelegenheiten, um auf das unflätigste hinter ihnen herzuschreien. Im Grunde war das Papageiengeschrei die geeignete Vorbereitung auf den von Emyr Elias gehaltenen Gottesdienst, in dem er das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers, die Qualen der Verdammnis sowie, im Gegenzug, in den wundervollsten Stern- und Himmelsbildern das Eingehen der Gerechten in die ewige Seligkeit vor Augen führte. Immer gelang es ihm, wie seinerzeit auch schon dem älteren Elias, die Herzen der Zuhörerschaft mit einem solchen Gefühl der Zerknirschung zu erfüllen, daß nicht wenige mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen.

Wenn schon nicht auf die Kathedralen, läßt sich der sich Dichter versuchsweise auf die Kapellen seiner Heimat ein, in denen er den gleichen Zwiespalt aufspürt wie in den Predigten des Emyr Elias, die Qualen der Verdammnis und als Kontrastprogramm die ewige Seligkeit, hier, in den Kapellen, als die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten zum einen und dem Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille zum anderen. In veränderter Form finden wir den Zwiespalt auch in der Bibliothek der Mathild Seelos wieder, in der neben religiösen Werken spekulativen Charakters und Gebetsbüchern aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer stehen. Das christliche Heilsversprechen ist in dieser Bücherei den Sozialutopisten überantwortet worden, deren Glanz nun aber auch längst verblaßt ist. Das Netz der Bethäuser in Wales war wohl ähnlich dicht wie das der Kapellen im Allgäu. Emyr Elias hat nicht nur in Bala, sondern auch in Llandrillo, Corwen und anderen nordwalisischen Ortschaften gepredigt, mal in der englischen und mal in der kymrischen Sprache. Man stellt sie sich die Bethäuser als karge Nutzbauten der Frömmigkeit vor, eine in ihrem Inneren beglückend herrschende vollkommene Stille, diese Atmosphäre haben sie wohl nicht ausgestrahlt. Man stellt sich vor, daß die Bethäuser unter der Woche dem Leben des Predigers unter der Woche ähneln. Der Prediger saß auch heute wieder, wie es seine unabänderliche Gewohnheit war, in seinem Studierzimmer, das auf ein finsteres Eck des Gartens hinausging, und dachte sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt aus. Keine dieser Predigten hat er je niedergeschrieben, vielmehr erarbeitete er sie nur in seinem Kopf, indem er sich selber damit peinigte, wenigstens vier Tage lang. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Er war ein ehrlicher Arbeiter am Wort, ein Confrère des Dichters, erst am Sonntag, bei der Predigt kam die zurückgehaltene Leidenschaft zum Ausbruch. Nicht zuletzt die kalvinistischen Prediger haben, nach König Arthurs Tod und dem Ende des Rittertums, das Land der Waliser beisammen und die kymrische Sprache am Leben erhalten.

Samstag, 19. Oktober 2019

Brautwerbung

Unig wraig
Nie ist von einer aufwendigeren und blutigeren Brautwerbung erzählt worden als von der erst nach endlosen Taten und Umwegen erfolgreichen Werbung Culhwchs um Olwen, Einzelheiten können im Mabinogion nachgeschlagen werden. Wenn es am Ende dann heißt: Ac fe fu hi’n unig wraig iddo fra bu byw - und sie war für ihn die einzige Frau, solange er lebte -, war das das Mindeste, was erwartet und verlangt werden konnte nach all dem Geschehenen. Selbst Casanova, den wir ohnehin nur mit stark herabgesetzter Aktivität einmal in den Bleikammern zu Venedig und dann als Greis in Dux erleben, wäre zu weiteren Taten nicht ohne weiteres imstande gewesen. In den Schwindel.Gefühlen, nach Auskunft des Autors ein Buch der Liebe, werden wir weder mit einer ähnlich komplizierten Brautwerbung noch mit dem Prinzip der unig wraig iddo fra bu byw, der lebenslangen Beschränkung auf eine Frau, unmittelbar konfrontiert. Stendhal ist das Unig wraig-Prinzip, anders als seinem Helden Fabrizio del Dongo, ganz fremd. Mit einem Stock zeichnet er langsam die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Staub, es sind nicht wenige, ihre Namen erscheinen ihm nun wie fremd gewordene Sterne. Kafkas zahllosen Fledermausbriefe mögen in ihrer schieren Menge Culhwchs die Brautwerbung untermauernde Taten vielleicht noch übertreffen, die Verlobung mit Felice Bauer wird gleichwohl aufgelöst. Der Erzähler, grundsätzlich ähnlich eingestellt wie del Dongo, füllt in jungen Jahren mit Hingabe seine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welches er das Fräulein Rauch auf immer einzuspinnen und zu verstricken hofft. Durchaus sind mythische, an die keltische Tradition anschließende Bezüge zu erkennen, allein der Erfolg bleibt aus. Aldous Fitzpatrick, kein Kelte aber auf keltischem Gebiet ansässig, können wir zum Unig wraig-Prinzip nicht befragen, er ist schon tot, als wir von ihm hören, abgestürzt als Kampfpilot über dem Ardennerwald. Adela Fitzpatrick heiratet nach einer angemessenen Trauerzeit einen Entomologen namens Willoughby. Das Wort Entomologe klingt, als sei es ein Vorwurf.

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Handwerk

Arbeit und Denken

Soll man den Schmied zu den Handwerkern zählen, ist er als Herr des Feuers und der Materie nicht zu gewaltig für dieses Wort? Ohnehin bekommt man ihn nicht zu Gesicht, das Essenfeuer ist ganz in sich zusammengesunken, und das Werkzeug, die schweren Hämmer, Zangen und Raspeln liegen und lehnen herrenlos überall herum. Nirgends rührt sich etwas. Das Wasser im Bottich, in den der Schmied sonst jeden Augenblick mit dem glühenden Eisen, daß es zischt, hineinfährt, ist so still und glänzte von dem schwachen Widerschein, der vom offenen Tor auf seine Oberfläche fiel, so tiefschwarzdunkel, als hätte noch nie jemand es angerührt und als sei ihm bestimmt, in solcher Unversehrtheit bewahrt zu bleiben.

Den Uhrmacher Ebentheuer erleben wir bei der Kundenbedienung, die immer ins linke Auge geklemmte Lupe gibt aber zu erkennen, wonach ihm wirklich der Sinn steht. Ist er bei der Reparatur der Uhren ganz allein auf die Arbeit konzentriert, oder gehen ihm auch andere Dinge durch den Sinn? Den Bader Köpf bekommen wir so wenig zu Gesicht wie den Schmied. Der Rasiersessel stand leer. Das Rasiermesser lag, aufgeklappt, auf der marmorierten Platte des Waschtischs. Das Handwerk kann nur am Kunden und zumeist begleitet von seichten Gesprächen ausgeübt werden, kompliziertere Gedankengänge sind ausgeschlossen. Anders schaut es aus beim Mayrbeck. Alljährlich zu Allerheiligen und Allerseelen hält er für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind einen Seelenwecken parat. Aus Weißbrotteig waren in einsamer Nacht schon diese Seelenwecken gebacken, so klein, daß man sie leicht in einer geschlossenen Hand verbergen konnte. Jeweils vier davon kamen auf eine Reihe. Ob das bloßes Geschäftsgebaren ist oder ob tiefere Gedanken dahinter stehen, läßt sich nicht feststellen. Wenn jeder Dorfbewohner, ob er will oder nicht, einen Wecken bekommt, kann man allerdings vermuten, daß das Gebäck aus christlichen Überlegungen heraus gratis verteilt wird, das winzige Format verhindert zugleich jeden Überschwank. Klar und deutlich ist die philosophische Begleitmusik bei den Schustern zu hören. Die Arbeit geht ihnen längst wie im Traum von der Hand, die Gedanken schweifen. Bereyter verbringt seine freie Zeit mit Vorliebe in der Gesellschaft des Schumachers Colo, der ein von atheistischen Anschauungen geprägter Philosoph gewesen ist. Ifan, bei dem der jugendliche Austerlitz jede freie in der Werkstatt gesessen war, ist der mythischen Ausrichtung des Landes Cymru entsprechend neben seiner Handwerkstätigkeit ein Geisterseher und ausgewiesener Philosoph des Totenreiches gewesen, sozusagen an der Schwelle noch, an der sich seinerzeit in Griechenland die Philosophie vom Mythos gelöst hat. Die Voraussetzungen für eine philosophische Entwicklung dürften bei einem Schneider traditioneller Art ähnlich günstig sein wie bei den Schuhmachern. Austerlitz das Kind beobachtet von der Fensterbank in Veras Wohnung aus im niedrigen Haus gegenüber den buckligen Schneider Moravec, wie er den abgewetzten Saum einer Jacke ausbesserte, in einer Knopfschachtel kramt oder ein Steppfutter einnäht in einem Paletot. Schließlich legt der Schneider Nadel und Faden beiseite und breitet auf dem Arbeitstisch ein doppeltes Zeitungsblatt aus und darauf sein Nachtessen. Einen unmittelbaren Einblick in die Gedankenwelt des Moravec erhalten wir nicht. Das Behagen aber, mit dem er die Stulle verzehrt und dazu einen tiefen Zug aus dem Bierglas tut, läßt eine epikureisch-hedonistische Ausrichtung vermuten, wie sie in der Gegenwartsphilosophie etwa von Michel Onfray vertreten wird.

Tempi passati, vergangene Träume, man muß unterstellen, daß der Fortschritt in Wissenschaft und Technik längst alle Philosophie aus dem Handwerk vertrieben hat.

Montag, 14. Oktober 2019

Zufall und Planung

Begegnungen

In Wien trifft der Erzähler keinen Menschen, mit dem er sprechen könnte, auch die Telefone schweigen, die drei bis vier Personen, mit denen er unter Umständen reden wollen, melden sich nicht. Nach seiner Weiterreise, in Italien, trifft er verschiedene Leute, Hotelpersonal, Kellner, eine Parkwächterin im Giardino Giusti &c., alles Begegnungen ohne Wiederholung und Nachspiel. Einigermaßen andauernd und detailreich ist die Begegnung mit dem Astrophysiker Malachio. Zum Abschied ruft Malachio: Ci vediamo a Gerusalemme, aber das ist naturgemäß nicht wörtlich zu nehmen. Bei der zweiten Italienreise sind diese ungeplanten, zufälligen Begegnungen reichhaltiger und denkwürdiger, Mitreisende in den Zügen, die Franziskanerin und das Mädchen in der bunten Jacke im Zug nach Mailand, die Winterkönigin bei der Heimreise. Aus dem ebenfalls ungeplanten Zusammentreffen mit der Wirtin Luciana Michelotti entwickelt sich gar ein kleiner Roman, im deutschen Konsulat begegnet der Erzähler der wundersamen Familie Santini. Zwei Treffen sind, anders als diese zufälligen Begegnungen, geplant und werden angebahnt, das Treffen mit Ernst Herbeck im Rahmen der ersten und das Treffen mit Salvatore Altamura im Rahmen der zweiten Reise. Details der Planung und Anbahnung werden aber nicht berichtet. Als der Erzähler bei dem Wohnheim eintrifft, steht Herbeck schon parat, der Zeitpunkt des Treffens wurde vermutlich telefonisch verabredet, vielleicht mit Herbeck selbst, vielleicht mit der Anstaltsleitung. Auch über die Anbahnung des Treffens mit Altamura läßt sich nur mutmaßen. Da man über die Planung nichts erfährt, unterscheiden sich die geplanten Treffen nur wenig von den zufälligen, für den Leser treten Herbeck und vor allem Altamura genauso unversehens auf den Plan wie die zufällig Begegnenden.

In den Ringen des Saturn überwiegen die geplanten Treffen, auch hier aber ohne Planungseinzelheiten. Die ganze Zeit über auf seinen Irrwegen durch das Heidelabyrinth verschweigt der Erzähler das Ziel seiner Wanderung, wir erfahren es erst, als er bereits vor Michael Hamburgers Haus steht. Der Besuch bei Alec Garrard eröffnet sich dem Leser ebenso überraschend. Auch die Beschaffung von Zeugen bei den diversen Nachforschungen in den Ausgewanderten wird kaum erläutert, Lucy Landau, um uns auf sie zu beschränken, ist plötzlich zur Stelle. In der Erzählung Aurach taucht gar der Protagonist aus dem Nichts auf. Nachdem der Erzähler auf den vorausgehenden Seiten seine Einsamkeit in Manchester mit einer mechanischen Teas Maid als einziger Begleitung geschildert hat, heißt es plötzlich, er besuche den Maler in seinem Atelier so oft, wie er glaube es verantworten zu können. Wie er die Bekanntschaft des Malers gemacht hat, wie es zu dem ersten Besuch kam, bleibt im Dunklen.

Austerlitz ist der Herr, wenn nicht der Gebieter des Zufalls, obgleich er herangewachsen ist in der florierenden Ära der Planungseuphorie als eines weiteren Versuchs, die Vernunft siegreich in Stellung zu bringen. Das ungeplante Zusammentreffen von Austerlitz und dem Erzähler im Bahnhof Antwerpen hätte, wie auch in anderen Fällen, auf eine kurze Episode beschränkt bleiben können. Die nachfolgenden Treffen in Lüttich, Brüssel und Seebrügge sind für jedermann leicht erkennbar von  provokativer Zufälligkeit, für jeden erkennbar, aber nicht für Austerlitz, der die Kategorie des Zufalls augenscheinlich ganz ablehnt und stattdessen, wie er bei späterer Gelegenheit erläutert, entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit im Hintergrund der Welt eine erstaunliche, geradezu zwingende innere Logik sieht. Nach einer längeren Unterbrechung treffen Austerlitz und der Erzähler unter höchst unwahrscheinlichen und damit Austerlitz’ Theorie entsprechenden Umständen in der Bar des Great Eastern Hotels wieder aufeinander. Austerlitz scheint die Verhältnisse umzukehren, so als sei der Zufall gegenüber der Planung der zuverlässigere Weg zum Ziel, eine Annahme beruhend womöglich auf der bodenlosen, Schwindelgefühle erregende Zufälligkeit unserer aller Dasein in der Welt. Die Deklarierung der Grenze zwischen Zufall und Planung als nichtexistent, unseres Lebens als Zufällige in einer endlosen Menge von Zufälligen ist kein zufälliges, sondern ein tragendes Moment dieser Prosa.

Samstag, 12. Oktober 2019

Gottgläubig

Ein Gerücht

Von Paul Bereyter ging das Gerücht um, er sei gottgläubig. Ähnlich wie sich der Dichter bei Hebel, angesichts der ätherischen Flüchtigkeit seiner Gestalten, immer wieder vergewissert, ob es den Barbier von Segringen und den Schneider von Pensa noch gibt, blättert der Leser angesichts der bis zur Unglaubwürdigkeit ätherischen Gestalt des Gerüchts erneut nach, ob davon wirklich geschrieben steht. Dem Dichter selbst spricht von einem ihm lange Zeit unverständlichen Gerücht, es ist nicht klar ob ursprünglich unverständlich wegen seiner Jugend und Unerfahrenheit oder später unverständlich angesichts des Bildes, das er inzwischen von Bereyter hat. Weder ist bekannt ob es das Gerücht gibt, oder vielleicht nur ein Gerücht, daß es dieses Gerücht gibt, ein Gerücht des Gerüchtes also, noch woher es kommt und wer es in Umlauf gebracht hat. Unbekannt ist ferner, worauf, auf welchen Beobachtungen das Gerücht, wenn es denn besteht, beruht, was es beinhaltet, was die Substanz der Gottgläubigkeit ist und ob sie stabil ist oder nur eine flüchtige Laune.

Für einen Augenblick mag es scheinen, als sei das Gerücht von der Gottgläubigkeit ohne Zusammenhang so dahingestellt, der Zusammenhang stellt sich aber sogleich ein mit der Episode des Weihwasserstreits. Immer wenn der Katechet Meier das Weihwasserbehältnis aus einer eigens geweihten Flasche nachfüllen will, hat Bereyter, dem nichts so zuwider ist wie die katholische Salbaderei, bereits mit der Gartengießkanne den Pegelstand auf das angemessene Maß gehoben. Seine freie Zeit verbringt Bereyter mit Vorliebe in der Gesellschaft des Schumachers Colo, der ein Philosoph und regelrechter Atheist gewesen ist. Am Tage des Herrn spielen Bereyter und Colo gern Schach miteinander, beautiful, cold remorseless chess, almost creepy in its silent implacability. Es stellt sich die Frage, ob das Gerücht der Gottgläubigkeit Bereyters durch die Freundschaft mit Colo bereits widerlegt und verworfen ist, oder ob nur die Umrisse der Gottgläubigkeit ein wenig deutlicher geworden sind. Offenbar ist sie näher beim Atheismus als beim Katholizismus, sie muß mit Colos Atheismus, den wir im Detail nicht kennenlernen, aber nicht zusammenfallen.

Dem Duo bestehend aus dem Katecheten Meier und dem Schuhmacher Colo ähnelt in auffälliger Weise dem Duo Prediger Emyr Elias und Schuhmacher Evan. Der Dichter, so die Fiktion, erzählt das, was Austerlitz ihm erzählt hat und läßt dabei eine gewisse Sympathie für den Prediger als einem Waffenbruder im Kampf mit den Worten durchblicken. Der Prediger saß, wie es seine unabänderliche Gewohnheit war, in seinem Studierzimmer, das auf ein finsteres Eck des Gartens hinausging, und dachte sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt aus. Keine dieser Predigten hat er je niedergeschrieben, vielmehr erarbeitete er sie nur in seinem Kopf, indem er sich selber damit peinigte, wenigstens vier Tage lang. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Auch der Umstand, daß die schwer erarbeiteten Predigten regelmäßig den Charakter einer Strafpredigt annehmen, nach der die Gemeindemitglieder kreideweiß im Gesicht aus dem Gotteshaus treten, mindert seine Zuneigung des Dichters nicht, sieht doch auch er im Menschen, als Gattung und als Individuum, nicht allein das herrliche Geschöpf, dem man ständig nur bestätigend auf die Schulter klopfen kann. Der Mensch kann tiefer sinken als das Tier, verkündet Heidegger, aber eignet sich denn das Tier als Meßlatte, kann nicht allein der Mensch sinken und das Tier nicht? Der junge Dafydd Elias, später Austerlitz, neigte freilich weniger dem Prediger zu als dem Schuster Evan (Ifan), der neben seiner Handwerkstätigkeit ein Geisterseher und ausgewiesener Philosoph des Totenreiches gewesen ist. Jede freie Stunde ist er bei ihm in der Werkstatt gesessen. Wie Bereyter gleitet auch Austerlitz von Theologie und Kirche hinüber zur philosophischen Schuhmacherwerkstatt.

Bereyters Gottgläubigkeit, wenn sie denn besteht, zielt auf irgendeine Form des christlich-jüdischen Glaubens, sonst wäre das Gerücht in seinem katholischen Umfeld nicht aufgetreten, und ist doch weit entfernt von den offiziellen Glaubensangeboten. Dann und wann scheint ein diffuses Gerücht umzugehen, auch der Dichter sei gottgläubig gewesen. Seine Gläubigkeit wäre dann der Gottgläubigkeit Bereyters in jedem Fall ähnlich, wie immer es um sie bestellt gewesen sein mag.

Dienstag, 8. Oktober 2019

Weltarmut

Bluebottle

Fast möchte man sagen, Sebalds Prosa ist überwuchert von der Tier- und Pflanzenwelt. Vor allem die sogenannten niederen Tiere, Insekten, Falter, Motten haben es ihm angetan. Das ist, neben den kriminalistischer Untersuchung und der Architekturmalerei in Worten, ein weiteres mit Chandler (Raymond) geteiltes Motiv. Gleich auf der ersten Seite von The Little Sister treffen wir Marlowe bei der Beobachtung eines Bluebottle: I had been stalking the bluebottle fly for five minutes, waiting for him to sit down. He didn‘t want to sit down. He just wanted to do wing overs and sing the prologue to Pagliacci. Offenbar noch mehr als Sebald ist Chandler von Heidegger beeindruckt, der in den Grundbegriffen der Metaphysik mit äußerster philosophischer Sorgfalt den Unterschied zwischen dem weltarmen Tier und dem weltbildenden Menschen herausarbeitet. Auf Seite 378 zieht er ein erstes Fazit, die folgenden Begriffe sind unerläßlich für ein angemessenes Verständnis der Weltarmut des Tieres: Genommenheit. Hingenommenheit. Eingenommenheit. Offenheit für ein anderes. Die damit gegebene Struktur des Umringes. Und schließlich der Hinweis, daß die Benommenheit die Bedingung der Möglichkeit für jegliche Art des Benehmens ist.

Heidegger leitet seine philosophischen Überlegungen exemplarisch von der Beobachtung der Biene ab und stützt sich dabei auf Erkenntnisse der Wissenschaft und insbesondere auf die Forschungen von Karl Kuno Thure von Uexküll, der auf die überragende Bedeutung der Sonneneinstrahlung für die Orientierung der Tiere in der Welt hinweist. Genau an dieser Stelle hakt Chandler/Marlowe ein. I had the fly swatter poised in mid-air and was all set. There was a patch of bright sunlight on the corner oft he desk and I knew that sooner ar later that was where he was going to light. But when he did I didn’t even see him at first. Now, there he was, shining and blue-green and full of sin. I took a deep breath and swung. What was left of him sailed half-way across the room and dropped to the carpet. Marlowes entomologische Forschungen haben durchaus nicht immer letale Folgen für das Untersuchungsobjekt. Er beobachtet über längere Zeit die Irrwege eines Käfers auf der Schreibtischplatte. Dann und wann stürzt der Käfer über den Rand und erklimmt den Tisch vom Boden aus aufs Neue. Wieder und wieder. Nach Abschluß der Untersuchungen setzt Marlowe den Käfer, der seine wissenschaftlich-philosophische Pflicht getan hat, wohlbehalten in der freien Natur aus.

Freitag, 4. Oktober 2019

Ermittler

Second Hand

Wenn der Erzähler Luciana Michelotti bekennt, er sei mit der Niederschrift eines Kriminalromans beschäftigt, stellt sich die Frage, wer in welcher Funktion mit der Aufklärung des Verbrechens betraut war. Mit der wahrhaft beängstigenden Flut an Kriminalromanen hat sich auch die Erscheinungsform des Detektivs in unüberschaubarer Weise aufgefächert. Ein staatlich alimentierter Kommissar in der Art Ingravallos scheidet hier ebenso aus wie eine weibliche Ermittlerin nach dem Muster der ohnehin nur in Krakau aktiven Professorowa Szczupaczyńska. Um es geradheraus und ohne weitere Verzögerung zu sagen: nach Lage der Dinge kann es sich bei dem Ermittler in den Schwindel.Gefühlen nur um den als Privatdetektiv tätigen Erzähler selbst handeln.

Im Sektor der Privatermittler sind zwei übergeordnete Kategorien festzuhalten, einmal den Ermittler nach Art des Sherlock Holmes, der ausgehend von den verborgensten Indizien mit messerscharfer Logik den Übeltäter entlarvt, und auf der anderen Seite der sogenannte hartgesottene Ermittler, der paradigmatisch von Philip Marlowe vertreten wird. Der von Schwindelgefühlen geplagte Erzähler wird kaum in der Weise von Holmes vorgehen können, und hartgesotten ist er auch nicht unbedingt. Zwar stellt er am Mailänder Bahnhof eine gewisse Schlagkraft unter Beweis, als es ihm gelingt, mit dem Schwung seiner Reisetasche zwei Straßenräuber in die Flucht zu schlagen, vor allem aber an den fast noch wichtigeren sogenannten Nehmerqualitäten dürfte es fehlen. Gewisse Annäherungen, ähnliche Motive &c. aber gibt es schon. Was etwa das Empfangspersonal anbelangt, mit dem sie zu tun haben, bewegen sich der Erzähler der Schwindel.Gefühle und Marlowe auf einem zahlenmäßig vergleichbaren Niveau, bei Marlowe stehen allerdings in der Mehrzahl nicht Frauen, sondern Männer an der Rezeption. The clerk on duty was a man with no interest in me or in anything else. He yawned as he handed me the desk pen and looked off into the distance as if remembering his childhood. Ins Deutsche übersetzt würde diese Szene an der Rezeption in der Prosa des Dichters nicht als Fremdkörper empfunden werden. 

Der hartgesottene Ermittler war alles in allem eine falsche Spur, mehr Aussicht auf Erfolg hat die Zuordnung zum Ermittler wider Willen, wie wir ihn exemplarisch in Santo Piazzeses Helden Lorenzo La Marca vorfinden. Wie der Erzähler der der Schwindel.Gefühle ist La Marca Wissenschaftler, Naturwissenschaftler allerdings, Biologe. Er geht seinem Beruf nach und kann sich nicht allein auf die Ermittlungen konzentrieren, ab und zu scheint es, als seien die Nachforschungen aus Zeitgründen ganz versiegt, dann aber kehrt das Motiv der Kriminalistik doch wieder zurück. Die Schwindel.Gefühle sind vom Kriminalroman im engeren Sinne noch weiter entfernt als La Marca mit seiner lockeren Form der Tataufklärung. Ohne den eigentlich nur für Luciana Michelotti und womöglich als Scherz gedachten Hinweis wäre dem Leser das Kriminalgenre kaum in den Sinn gekommen. Um welches Verbrechen handelt es sich eigentlich, diese Frage sollte der nach dem Ermittler vorausgehen. Zwei, wenn nicht gar drei Verbrechen kann der Leser ermitteln. Da sind einmal die blutigen Untaten der ORGANIZZAZIONE LUDWIG, und dann ist da das mysteriöse Geschehen im Umfeld der Pizzeria Cadavero, das den Dichter nicht etwa zur Aufnahme von Ermittlungen, sondern zur Flucht veranlaßt. Schließlich ist noch der Jäger Gracchus zu erwähnen.

Die Ermittlungen nimmt der Erzähler erst sieben Jahre später im Rahmen seiner zweiten Italienreise auf, als eine Art Second hand-Ermittler, eine innerhalb der Gattung des Kriminalromans bislang kaum vertretene Gruppierung. Er scheitert mit dem spontanen Versuch über die Vorfälle in und um die inzwischen geschlossene Pizzeria Cadavero im gegenüberliegenden Photographengeschäft etwas zu erfahren, obwohl man dort durchaus Bescheid weiß. Auf die Klärung der Angelegenheiten der ORGANISATION LUDWIG hat er sich besser vorbereitet und ein Gespräch mit dem Journalisten Salvatore Altamura verabredet, der ihm die offiziellen Ermittlungsergebnisse in der gebotenen Ausführlichkeit zu schildern vermag. Im Bezirk der mythologischen Kriminalität dagegen, wie sie dem Jäger Gracchus angelastet wird, fühlt der Dichter sich aus eigenem Vermögen kompetent. Der Jäger Gracchus weist jede Schuld zurück, und doch währt die aus seiner Sicht ungerechte Strafe schon seit ewig. Der Dichter sieht den Sinn der unablässigen Fahrten des Gracchus in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe. Das ist wohl weniger die Frucht einer Ermittlung als ein Bemühen um Vermittlung von unklarer Schuld und fragwürdiger Sühne.

Mittwoch, 2. Oktober 2019

Außenbezirke

Ausgefranst

Wenn wir vom Brüsseler Justizpalast lesen, seine ummauerte Leere sei das innerste Geheimnis der sanktionierten Gewalt, werden womöglich Erwartungen geweckt, die sich dann nicht erfüllen. Man mag sich vorstellen, wie am Morgen die sanktionsberechtigten Beamten in die in ihrer Großzügigkeit geradezu leer wirkende Hallen, Säle und Räume einströmen, um sie bis zum Abend zu besetzen. Tatsächlich aber stößt man, wie Austerlitz ausführt, auch tagsüber auf türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien. Viele Stunden irrt man durch dieses steinerne Gebirge, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß einen je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte. Die Situation ist unverkennbar kafkaesk, und so muß man hinter dem innersten Geheimnis der sanktionierten Gewalt Kafkas Rechtsphilosophie vermuten, wie sie im Prozeß und Vor dem Gesetz zum Ausdruck kommt. Diesem rechtsphilosophischen Ansatz sind Benjamin und Scholem penibel nachgegangen, ihnen wiederum Agamben unter Einbeziehung Foucaults, den der Dichter nach Kafka selbst womöglich als ersten im Auge hatte. Festgehalten werden kann, daß der Justizpalast, seiner Aufgabe entkleidet, nach allen Seiten ausfranst. In den alle Vorstellungskraft übersteigenden Verwinkelung richteten sich immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte ein, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das Hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein.

Dem Dichter sind diese Übergänge vom Großen und Pompösen zum kleinen und Alltäglichen nicht fremd. Nach dem Gespräch über den Justizpalast ist Brüssel kein Treffpunkt mehr für Austerlitz und den Dichter, man trifft sich in einem Billardcafé in Terneuzen, schon jenseits der Grenze in den Niederlanden. Die Wirtin, eine Frau mit dicken Brillengläsern, strickte an einem grasgrünen Strumpf, ein Kaminfeuer aus glühenden Eierkohlen, auf dem Fußboden feuchtes Sägemehl, ein bitterer Zichoriengeruch, durch das von einem Gummibaum umrankte Panoramafenster blickte man hinaus auf die ungeheuer weite, nebelgraue Mündung der Schelde. Gelegentlich eines anderen Besuchs in Brüssel reist der Dichter weiter nach Waterloo, ein rundum enttäuschender Ausflug. Vor der Rückfahrt wärmt er sich in einer der Gaststätten ein wenig auf. Am anderen Ende der Stube saß in dem trüben, durch die belgischen Butzenscheiben einfallenden Licht eine Rentnerin, bucklig: der Einfluß der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Brüssel mit ihren Übermaß an Buckligen und Irren macht sich auch hier geltend. Die Frau trug eine wollene Haube, einen Wintermantel aus dickem Noppenstoff und fingerlose Handschuhe. Die Bedienerin brachte ihre einen Teller mit einem großen Stück Fleisch – ohne jede Beilage? Die Alte schaute es eine Weile an, dann holte sie aus ihrer Handtasche ein scharfes Messerchen mit einem Holzgriff und begann, das Fleisch aufzuschneiden. Bei der alten Frau im Zug nach Kissingen, die mit ihrem Federmesser Schnitz um Schnitz einen Apfel zerteilt, ist die Benutzung eines eigenen Schneideinstruments ohne weiteres verständlich, hätte aber hier, in der Gaststätte in Waterloo, nicht die Bedienerin ein geeignetes Schneidemesser reichen müssen? Die ganze Situation ist seltsam und reicht ins Geisterhafte.

Ein grasgrüner Strumpf, ein scharfes Messerchen mit Holzgriff, auch wenn der Dichter für die beiden Einkehrsituationen, anders als für den Justizplast mit dem ummauerten Geheimnis der sanktionierten Gewalt, keine eigene Deutung anregt, spüren wir doch einen vagen, anscheinend allem Geschehen beigegebenen metaphysischen Hintergrund. Der Dichter kennt keine in sich bedeutungslosen Überleitungspassagen, die zum nächsten Höhepunkt führen, die kleinen Beobachtungen, Strumpf und Messerchen, verweisen in ihrem Hintergrund mit gleicher Kraft auf die gleiche Bodenlosigkeit wie der Justizpalast.