Ay, zer consolatucotenau
Denkt man flüchtig an die Ringe des Saturn und an die eigenen Leseerinnerungen, so erscheint aus dem Inneren der Augen eine Welt voller Figuren, lebende und tote, zwischen denen sich ein einsamer Wanderer bewegt, traumwandlerisch, ohne anzustoßen oder gar festzuhaken. In dieser Welt voller Menschen - die dem Wanderer allerdings immer wieder als seltsam menschenleer erscheint und nurmehr bevölkert von den erbauten Artefakten der inzwischen Unsichtbaren – in dieser Welt verliert er seine Einsamkeit an keiner Stelle geschweige denn, daß er in ermüdende Beziehungsverhältnisse geraten werden, wie sie heute einen nicht geringen Teil der Literatur dominieren, so als würden die Verlorenen der Jetztzeit einander suchen mit giftigen Tentakeln. Liebesgeschichten vor allem anderen, sind ihm, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. Zugleich aber scheint die Begegnung mit Menschen und das Verstehen von Menschen sein hauptsächliches, wenn nicht einziges Anliegen. Leere und Freiheit der Bewegung sind Voraussetzung dafür, daß Selysses sich auf die sebaldtypische Recherche de l’homme perdu begeben kann. – Diese knappe Leseerinnerung ist nicht falsch, bedarf aber einer näheren Aufschlüsselung.
Die Menschen, denen Selysses begegnet, sind nicht gleichmäßig im Umfeld verteilt, sondern auf Ringen angeordnet ähnlich denen, die den Planeten Saturn umgeben. Vier derartige Ringe gewinnen, nicht ohne Zwischen- und Übergangsbereiche und verwirrende Überscheidungen, eine deutliche Struktur. Der innerste Ring, auf dem Verwandte und dauerhafte, ständig präsente Freunde sich bewegen sollten, ist seltsam leer. Die Eltern des Selysses treten nur einmal auf, zu Beginn der Erzählung Ritorno in Patria, und verschwinden gleich wieder in den Einrichtungsgegenständen ihrer Wohnstube. Selysses ist verheiratet, seine Frau treffen wir zweimal, einmal etwas ausführlicher, allerdings ohne sie näher zu Gesicht zu bekommen, noch in jungen Jahren in der Erzählung Dr. Henry Selwyn bei der Wohnungssuche und ein zweites Mal, wohl schon gereift, in den Ringen des Saturn: Von dort aus, der Bar in der Mermaid in Hedenam, konnte ich zu Hause anrufen, um mich abholen zu lassen. Als ich in der Mermaid auf Clara wartete ... – Claras Eintreffen erwarten wir vergebens, es liegt bereits außerhalb der Erzählung, und zu Gesicht bekommen wir sie nicht, obwohl es noch eine Reihe von Seiten sind bis zum Ende des Kapitels, die aber ausschließlich von dem Bericht dessen erfüllt sind, was Selysses durch den Kopf geht. Eine Tochter hat Selysses, soweit ersichtlich und anders als der ihm sonst in vielen andern Dingen sehr ähnliche Dichter W.G. Sebald, nicht. – Die schwache, kaum spürbare Besetzung des innersten Ringes ist offenbar Voraussetzung für seine Existenzweise, seine Bewegungsfreiheit, sein Wandern in der Welt und im eigenen Kopf. Der innere Ring ist der erste Ring der Einsamkeit des Selysses.
Der zu Beginn der Erzählung All'estero einsam und sprachlos durch den inneren Bezirk Wiens irrende Selysses kennt in dieser Stadt drei oder vier Personen, mit denen er hätte reden wollen. Sofern das ein Durchschnittswert für die europäischen Haupt- und Großstädte sein sollte, verfügt Selysses über ein beträchtliches Netz von Freunden und guten Bekannten, die wir als den zweiten ihn umgebenden Menschenring sehen. Woher er sie kennt, und wie tief die Freundschaft geht, erfährt man kaum jemals. Bei Michael Parkinson, der sich auszeichnet durch eine Bedürfnislosigkeit, von der manchen behaupteten, sie grenze ans Exzentrische, und auch bei Rosalind Dakyns, Herrin über eine wundersame Papiervermehrung und richtige Papierlandschaft mit Bergen und Tälern, die beide gleich zu Beginn der Ringe des Saturn auftreten und auch sterben, handelt es sich, das ließ sich nicht verbergen, um Kollegen im Beruf. Der Ursprung der Bekanntschaft mit Salvatore, um ein gegenteiliges Beispiel zu nennen, liegt dagegen vollkommen in Dunklen.
In Verona saß, als Selysses auf die Piazza herüberkam, Salvatore bereits vor der Bar mit der grünen Markise und las. Am Feierabend rette ich mich in die Prosa wie auf eine Insel – offenbar ein Punkt tiefsten Einverständnis zwischen ihm und dem reisenden Dichter, wie weit aber ihre Bekanntschaft geht und ob sie einander wiedersehen werden, erfahren wir nicht. Eine tiefere Bekanntschaft tut dem Erzählen vielleicht gar nicht einmal gut, der Besuch bei Michael Hamburger im Siebten Teil der Ringe des Saturn hat stellenweise ein leicht klebrigen Charakter.
Am äußeren Rand und fast schon auf dem dritten Ring, dem der flüchtigen Begegnungen, befinden sich Menschen, mit denen Selysses unversehens ins Gespräch kommt, so wie etwa in der Bar des Crown Hotels in Southwold mit einem Holländer namens Cornelis de Jong, der sich, nach wiederholten Aufenthalten in Suffolk, jetzt mit der Absicht trug, eine der riesigen, oft mehrere tausend Hektar umfassenden Liegenschaften zu erwerben, die hier nicht selten von den Immobilienagenturen ausgeschrieben werden.
Am entgegengesetzten Rand des zweiten Ringes, nahe noch dem ersten, sehen wir die Menschen, denen, vor allem in den Ausgewanderten, die Recherchen des Selysses gelten und die ihm nach Abschluß der Erkundungen näher stehen als kaum jemand sonst. Paul Bereyter und Ambros Adelwarth sind bei Aufnahme der Recherchen bereits tot, und den Onkel Adelwarth hat Selysses als Lebenden so gut wie gar nicht gekannt. Auf eine schwer abzubildende Art und Weise befinden sich diese Leute, die wir nahe dem inneren Ring sehen, zugleich auf dem vierten und äußersten, den wir den Toten vorbehalten.
Auf dem dritten Ring, dem der flüchtigen Begegnungen, finden wir die Empfangsdamen und Mitreisenden, denen eigene Kapitel gewidmet sind. Empfangsdamen und Wirtinnen warten auf Selysses am Ende seiner Reiseetappen, der Austausch von Blicken und Worten mit ihnen ist unvermeidlich und zugleich durch geltende Regeln des Verhaltens eng begrenzt. Mitreisende sind seltener und weniger zuverlässig zur Stelle als Empfangsdamen und Wirtinnen. Die erste große Reise des Selysses findet ohne Mitreisende statt, die ins Licht des Erzählten treten. Es befanden sich nur wenige Passagiere an Bord auf dem Nachtflug von Kloten nach Manchester, die, in ihre Mäntel gehüllt, weit voneinander entfernt in dem halbdunklen und, wie ich mich zu erinnern glaube, ziemlich kalten Gehäuse saßen. Sprechkontakt, unvermeidlich bei den Empfangsdamen und Wirtinnen, kann unter Mitreisenden unterbleiben, und in der nach England fliegenden Kabine kommt es nicht einmal zu Blickkontakt. – Jede dieser flüchtigen Personen ist wie eine einen Spalt nur geöffnete Tür zur Welt derjenigen, die keinen Zugang haben zur Erzählung, und bei einigen erfaßt uns ein Sehnen, als könne ein Engel warten hinter der Tür, als sei dieser Eingang zur Transzendenz, vor dem kein sichtbarer Türhüter steht, ein Eingang nur für dich bestimmt. Selysses selbst hat dieses Sehnen unzweifelhaft verspürt im Falle der in seinen den Rhein abwärts fahrenden Zug einsteigenden Winterkönigin, ist aber nur dumm und stumm dagestanden, bis sich dann die allein für ihn bestimmte Tür am Bonner Bahnhof unwiderruflich geschlossen hat.
Der vierte Ring, auf dem sich die Toten aufhalten, ist reichhaltiger besetzt als alle anderen. Wir treffen auf Tote aller Kategorien und Schattierungen, auf vom Dichter ins Leben zurückgerufene Tote wie Kafka und Stendhal oder Conrad und Swinburne, die dann lebendiger scheinen als die Lebenden. Wir stoßen, wie im Fall von Aris Kindt, auf tote Tote unter lebendenden Toten. Wir finden die mehr als Toten, Tote, die keine Erinnerungsspuren hinterlassen haben, auf den Beinfelder unter der Liverpool Street Station. Auf Korsika und in Wales ziehen Wandergruppen kleinwüchsiger Toter an uns vorbei, und wir werden verwirrt von Wiedergängern der Toten wie der schon erwähnten Winterkönigin Elizabeth, Tochter des englischen Königs James I, oder dem König Ludwig, die sich sozusagen auf dem Rücken schlichter Lebender befördern lassen.
Weil es ihm mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, sich unter ein Publikum zu mischen, trifft Selysses Menschen, seien sie nun tot oder lebend, immer nur als Einzelne oder allenfalls in kleinen Gruppen. Die Familie der Ashburys ist vielleicht schon der größte Verband, und seine Angehörigen gehen meistens jeder für sich seiner besonderen ziellosen Tätigkeit nach. Wie viele andere im Volk der Eremiten im Ruhestand wirken sie weniger wie Lebende und vielmehr wie Überlebende einer fortwährenden und nicht enden wollenden Katastrophe. Die Frage, ob die Überlebenden dem Tode näher stehen als die nur einfach Lebenden oder umgekehrt, läßt sich nicht beantworten. Diese Welt, in der die Toten oft voller Leben sind, während die Lebenden kaum nur überleben, erzwingt den besonderen, schwindelhaften Bewegungsmodus des Selysses unter den Menschen, traumwandelnd, schwere- und berührungslos. Der Bewegungsrahmen und die Bewegungsformen des Selysses sind aber in den verschiedenen Werken nicht gleich. Wie auch schon unter andern Gesichtspunkten herausgearbeitet, bilden die Schwindel.Gefühle und die Ringe des Saturn sowie die Ausgewanderten und Austerlitz je eine Gruppe.
Eingangs sowohl der Schwindel.Gefühle als auch der Ringe des Saturn treffen wir auf einen aus der Bahn geratenen Selysses, seine Reisen und Fahrten scheinen ziellos und erratisch, in den Schwindel.Gefühlen kommt es auch zu plötzlichen Ortwechseln und Fluchten. Nur stellenweise treten Reiseziele hervor, ein Bild, ein Fresko, das es zu betrachten, eine Verabredung, die es einzuhalten gilt. In den Schwindel.Gefühlen wird eine kriminalistische Spur entlang der Unglückszahl Dreizehn verfolgt, in den Ringen des Saturn eine Region im Südosten Englands durchmessen. Dem Leser, der sich dem Reise- und Wanderrhythmus des Selysses anpaßt, erschließen sich unendliche Deutungsmöglichkeiten.
In den Ausgewanderten hat Selysses die Ebene der Schwindelgefühle verlassen und die Hochebene der ruhigen Betrachtung erreicht, Unruhe und Verzweiflung sind in die Personen verlagert, denen seine zwar planvoll durchgeführten, aber immer wieder unterbrochenen und sich so über einen langen Zeitraum erstreckenden Recherchen gelten. Der Rhythmus der vier Langen Erzählungen ist nicht so sehr geprägt von der Unruhe des Selysses als von häufigen Wechseln der Perspektiven sowie von wiederholten Unterbrechungen und Neuaufnahmen des Erzählfadens.
In Austerlitz ist Selysses auch aus der Rolle dessen gedrängt, der ein anderes Leben erkundet. Seine Reisen, gleich zu Beginn nach Antwerpen, dann in die Schweiz und zurück nach England, werden nur beiläufig erwähnt und sind in der Regel nicht vom zentralen Geschehen des Buches gefordert. Der Suchende und suchend Reisende ist der Titelheld selbst, der den Selysses aufgreift und als seinen Beichtsohn erwählt. Auch Paul Bereyter hatte bereits eine ähnliche Selbsterforschung betrieben, hatte aber keine Gelegenheit, selbst die Ergebnisse dem Selysses vorzutragen. Die Treffen der beiden, Selysses und Austerlitz, zwischen denen oft lange Jahre liegen, sind teils geplant und teils von einer derart unwahrscheinlichen Zufälligkeit, daß die Grenze des Unmöglichen bereits überschritten scheint. Auch lange Perioden des Getrenntseins trennen nicht den von Austerlitz verfolgten Erzählfaden. In einer von Toten und Überlebenden zu gleichen Rechten bewohnten Welt gelten für die Bewegungen und das Einanderfinden der menschlichen Monaden keine uns bekannten Regeln.
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