Sonntag, 15. August 2010

Verstehen

Mitschweben

Herkömmliche literaturwissenschaftliche Zugriffe auf die Werke der schönen Literatur bestehen in der Hinzuziehung der Biographie des Dichters oder in der Erkundung von Einflüssen anderer Dichter und Literaturen. Zahlreiche andere literaturwissenschaftliche Herangehensweisen sind im Zuge der wissenschaftlichen Entwicklung hinzugekommen, die soziologische, die psychoanalytische &c. Allen ist gemeinsam, daß sie versuchen, das Kompliziertere mit dem Einfachen, das Flüchtige mit den Handfesten zu erklären. Es sind Demonstrationen des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, bei der zwar, anders als bei der Prosektur, nicht das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen bis über den Tod hinaus zu erkennen, die aber sehr wohl beim lebendigen Leib beginnen und oft beim toten enden.

Dem Aufspüren von Einflüssen bietet Sebald einen mehr als reichen Boden und führt das Verfahren zugleich ad absurdum, besteht sein Werk, extrem ausgedrückt, doch nur aus dem spielerischen Umgang mit Einflüssen, die allerdings vom Dichter bereits immer gründlich bedacht sind. Dem Forscher bleibt weithin nur das bloße Vorzeigen, Bescheid wußte der Dichter schon selbst. Was die Biographie anbelangt, so gilt immer die Kindheit als besonders ergiebig. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt, kann man etwa lesen – welche Erkenntnis hat der Leser davon?

Lesen ist nicht das Betreiben von Wissenschaft, auch der Leser aber möchte verstehen. VERSTEHEN ist, beim Wort genommen, einigermaßen rätselhaft. Ver-stehen kann man nur die Zeit, so wie man sie vergeuden kann, die Zeit, von der nun gerade niemand behaupten kann, er verstünde sie. Eigentlich sollte VERSTEHEN im konkreten Sinne ein nur um ein Geringes aktiveres Synonym des Verliegens sein, der Zeitpunkt und die Weise des Abhebens der uns vertrauten metaphorischen Wortbedeutung von der konkreten sind, folgt man den etymologischen Wörterbüchern, offenbar nicht bekannt. Wir wollen die Chance nutzen und Ausschau halten nach weniger aggressiven Formen des Verstehens, die der Leser nutzen kann, ohne beim Buch als Leichnam zu landen.

Es mag sich lohnen, zum vermuteten Ausgangspunkt des VER-STEHENS zurückzukehren. Dabei kann es aber nicht bleiben, das Stammverb ist zu statisch. Tauschen wir es aus gegen GEHEN, so wäre mit VERGEHEN erkennbar die Richtung verfehlt. Wenn in Korrektur der Korrektur auch noch die Vorsilbe ausgetauscht wird, ist womöglich nur noch in eine andere Sprache zu wechseln: walk by me again, geh mit mir, lies mich wieder, versuche mit mir in den gleichen Wanderschritt zu fallen, vielleicht wird, wenn es sich um Sebald handelt, schon bald des noch fernere Ziel erahnbar: fly by me. Wir lassen und von den Kreisen seiner Prosa höher und höher tragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft und geben uns einem Gefühl der Levitation hin. Zur Erinnerung die Stationen: VERSTEHEN – VERGEHEN – MITGEHEN - MITSCHWEBEN. – Muß man argwöhnen, daß die Literaturwissenschaft bei ihren Versuchen zu verstehen demgegenüber Gefahr läuft, die Vorsilbe in ein ZER und das Stammverb in TRETEN zu verwandeln?

Das Lesen führt zu einer Sprach- und Lebenssymbiose mit dem Dichter. Wir gehen auf den Wegen seiner Sätze und versuchen, unseren Schritt anzupassen. Wir können auch die Wege gehen, die der Dichter gegangen ist, nicht in der Erwartung, seine Fußspuren noch zu finden, sondern in der Hoffung, Aufnahme zu finden in die Einheit von Landschaft und Sprache, die ihm gelungen ist. Wir gehen nicht so sehr zurück auf das, was leichter scheint als der Text, die Leiden des jungen Winfried etwa, und halten uns vielmehr an das noch Schwierigere, berätseln die Schriftzüge des Dichter, schauen auf Dinge, die er gesehen hat, bedenken sein Antlitz.

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