Dienstag, 29. Juni 2021

Jeden dzień

Ein Tag 

Die Feuchtigkeit des Herbstmorgens hing noch dicht zwischen den Häusern und über dem Großen Kanal. Schwer beladen, bis zur Bordkante im Wasser, zogen die Kähne vorbei. – Auch wenn der Name Venedig noch nicht gefallen wäre, wüßte man doch, wo man ist, in Venedig eben.

Den ganzen Tag schlenderte ich umher, durch die Straßen und über die Brücken, von denen es viele gibt in dieser Stadt. Der zweitgrößte Fluß des Landes fließt durch diese Stadt. – Auch hier ist es nicht schwer, den Namen der Stadt zu erraten, man fühlt sich aber nicht aufgerufen, für den Augenblick jedenfalls zieht man es vor, mit dem Erzähler durch eine Stadt ohne Namen und ohne Bewohner zu schlendern.

*  *  *

Ankunft in der Stadt

Frühmorgens kam ich an in dieser großen Stadt. Den ganzen Tag spazierte ich umher, durch die Straßen und über die Brücken, von denen es viele gibt in dieser Stadt. Der zweitgrößte Fluß des Landes fließt durch diese Stadt, aber nicht in einem Bett , sondern in einer Vielzahl von Kanälen, die irgendwo jenseits der Stadt wieder zu einem Fluß finden müssen, die Stadt selbst aber ist voller Kanäle und daher voller Brücken, über die ich den ganzen Tag geschlendert bin. Und durch die Straßen zwischen den Kanälen. Fast auf jeder Brücke bin ich stehengeblieben. Habe mich auf das Geländer gestützt und für eine Weile auf das Wasser geschaut, ohne es aber zu sehen, das heißt, anfangs habe ich das Wasser gesehen, sobald ich mich nur über das Geländer beugte, aber dann sah ich es nicht mehr, denn ich habe zwei Blicke, und heute war es einer von ihnen, auf jeder Brücke fast: eine Zeitlang schaute ich beharrlich auf das Wasser, das ich anfangs sah, aber dann wurde es undeutlich, durchsichtig, und verschwand in der Luft oder im Nebel. So gut wie auf jeder Brücke bleib ich stehen, zündete eine Zigarette an, beugte mich über das Geländer und schaute auf das Wasser, das ich zunächst sah und dann nicht mehr, denn ich habe ein Art des Blicks, die ein Nichtsehen ist, eine Vergeßlichkeit der Augen, ein Absturz in einen Trichter, der zur Rückseite des Auges führt. So gut wie auf jeder Brücke fiel ich in diesen Trichter. Auf dem Weg von einer Brücke zur nächsten zog ich den Kopf zwischen Schulter und Kragen, steckte die Hände in das Nest der Taschen. Auch dann war es noch kalt genug. Wann endet endlich der verfluchte Winter? Der verfluchte Winter. Der gute Sommer. Da kann man irgendwo sitzen, auf dem Gehsteig, oder auf dem Feld liegen, ganz egal, wszystko jedno, die Augen schließen, die gute Sonne wärmt die Augenlider, denn der Sommer ist gleichbedeutend mit der guten, wärmenden Sonne. Du liegst auf einer Marmorplatte auf dem Stadtfriedhof oder du liegst im Gras zwischen Himmel und Erde, ganz egal, wszystko jedno, unter der Sonne ist das ein gutes, warmes Einfrieren. Dann, wenn du dich schon verliebt hast in die Sonne, stehst du auf. Gehst den Fluß suchen, das Wasser, in das du langsam hineinsteigst oder auch hineinstürzt, ich stürze mich immer sofort hinein, schwimme lange und wenn ich müde werde, drehe ich mich auf den Rücken, bewege nur leicht die Beine, gerade genug, um mich über Wasser zu halten. So ist es auch im Wasser ein gutes, warmes Einfrieren. Ja, der Sommer ist gut, der Winter nicht.

Heute ging ich den ganzen Tag durch den bösen Winter und durch die sehr große Stadt, in der ich frühmorgens eingetroffen war. Vorher, gestern noch, war ich in einer anderen, auch großen Stadt. Lange war ich da nicht, aber doch für eine gewisse Zeit. Zwei Wochen ungefähr. Ich wohnte bei einem gewissen Piotr. Er wohnte allein mit seiner Mutter, die für einige Zeit in die Berge gefahren war. Irgendwann muß ich auch einmal in die Berge fahren. Im nächsten Winter vielleicht. Irgendwann muß ich mir gute, warme Stiefel beschaffen, so daß für die Füße Sommer ist, denn da liegt hoher Winterschnee, und wenn ich viel in den Bergen wandere, sind billige Stiefel bald verschlissen. Im Sommer werde ich den Bauern ein wenig beim Mähen helfen und mir das Geld für gute, warme Stiefel in den Bergen verschaffen. Aber bis zum nächsten Winter ist es noch weit. Zunächst einmal ist es noch weit bis zum Sommer. Piotrs Mutter also war in die Berge gefahren und er hatte mir gesagt, solange sie nicht zurückkäme, könnte ich bei ihm wohnen. Es war soweit alles in Ordnung bei diesem Piotr, nur redete er zuviel. Hätte er nicht soviel geredet, wäre es geradezu großartig gewesen.  Ich versuchte ihm beizubringen, weniger zu reden, aber das klappte nicht. Er bat mich, ihn irgendwann einmal mitzunehmen, aber was sollte ich mit ihm anfangen. Nicht deswegen, daß er viel redete, aber was sollte ich mit ihm anfangen. Allerdings redete er auch zuviel. Mehrere mal packte mich die Wut, ich pfiff durch die Zähne, ohne daß ich meine Dankbarkeit vergessen hätte, er mußte wirklich bei weitem zuviel geredet haben. Ich redete auch nicht gerade zu wenig. Einmal hatte ich lange auf ihn eingeredet. Ich redete von der Couch, dem Sessel, dem Radio und von dem Zimmer, das alles enthielt, wovon ich sprach. Ich hatte wohl umsonst geredet, zuviel, denn er wußte nicht so recht, worum es ging. Dann kehrte seine Mutter zurück, ich hatte keinen Schlafplatz mehr und bot an, ich könne fortfahren. Im Zug mußte ich mich nicht vor dem Schaffner verstecken, denn ich hatte einen Fahrschein, konnte also schlafen, denn es war Nacht und ein ganzes Abteil war frei.

Frühmorgens traf ich ein in der großen Stadt, die mir ganz unbekannt war. Ich wußte nicht einmal, woher die vielen Kanäle kamen. Bis ich jemanden fragte, der mir erklärte, das sei der Fluß der durch diese Stadt fließt und sich in Kanäle aufgabelt, von denen es sehr viele gibt, wie viele wisse er nicht, sehr viele jedenfalls, der Fluß sei großartig reguliert, nicht so wie der größte Fluß des Landes, und das käme alles von den Deutschen, denn die liebten Ordnung. Den ganzen Tag ging ich über diese Brücken und durch die Straßen zwischen diesen Brücken, obwohl es ziemlich kalt war, aber ich liebe es sehr, eine neue mir bis dahin unbekannte Stadt anzuschauen. Ich erzähle ein wenig. Den ganzen Tag ging ich durch die Stadt. Jetzt ist es Nacht und ich bin im Wartesaal des Bahnhofs. Davon erzähle ich ein andermal. Jetzt werde ich von dem Tag in der Stadt erzählen und alles, was ich wahrnahm, so wie ich es richtig wahrnahm, denn ich habe zwei Sehweisen, und eine davon war heute auf den Straßen zwischen den Brücken gerichtet: auf alles schaute ich mit großen Augen, auf die Geschäfte, die Häuser, die Straßenbahnen, die Stiefel, die Mäntel, die Dächer, auf alles, denn nie weiß ich, wo anfangen mit den Augen, geradso wie mit den Fingern, also entweder rauche ich eine Zigarette und schaue beharrlich auf etwas, mit anderen Worten, nichts wahrnehmend, in den Trichter auf der anderen Seite des Auges fallend, oder ich stecke die Hände in die Hosentaschen und gehe weiter, den Kopf zwischen den Schultern, und schaue mit großen Augen nach rechts und nach links.

Ich erzähle weiter. Ich muß sagen, daß in keiner Stadt, und ich habe viele gesehen, und nicht nur in diesem Land, denn zuvor, als ich noch klein war, aber nicht allzu klein, denn ich erinnere mich gut an alles, war ich in einem anderen Land, und als ich in das Land überwechselte, in dem ich jetzt bin und in dem diese Stadt ist, bin ich noch durch zwei andere Länder gefahren, die ich durch das Zugfenster betrachtete, ich habe also viele Städte gesehen, oder etwa nicht? Aber ich muß sagen, daß ich keine Stadt mit so viel zerstörten Häusern gesehen habe, wie diese hier. Ich betrachte diese Häuser mit großem Erstaunen und ich konnte mich nicht daran gewöhnen, obwohl ich vereinzelte Häuser dieser Art schon vor langer Zeit gesehen habe. Sehr oft. Viele Häuser waren nur noch ein halbes Haus oder ein viertel Haus oder ganz ruiniert. Nie hatte ich so etwas gesehen. Es war bedrohlich, wie es aussah.

Ich muß also erzählen, was es vermittels meines zweiten Gesichts zu sehen gab. In jeder für mich neuen Stadt gibt es etwas zu betrachten für mich, aber in dieser ganz besonders. Man meint, die Häuser wurden vom Krieg zerstört, an den ich mich kaum entsinne. Ich war noch sehr klein. Ein klein wenig erinnere ich, aber wirklich nur ein klein wenig. Ich war noch sehr klein und lebte mit meinen Verwandten in einem anderen Land, in dem ich geboren wurde und in das ich gern zurückgekehrt wäre und das wäre auch möglich gewesen, denn niemand hätte das verhindert, sondern eher unterstützt, denke ich. Auf Dauer wäre ich dort allerdings nicht geblieben. Ich wäre zurückgekehrt in das andere Land, das ich sehr liebe, wenn ich auch nicht weiß warum. Trotz allem. In diesem Land bin ich die längste Zeit aufgewachsen und hier fand meine größte Heldentat statt, auf die ich über die Maßen stolz bin und die ich mit mir trage wie meinen Kopf und meine Füße, im Hellen, besonders aber an dunklen Orten und immer mannhaft, edel und mannhaft, obwohl ich an sehr dunklen Orten war, o ja, niemand vermöchte sie zu zählen, die meisten in diesem Land, und doch liebe ich dieses Land, denn hier wurde ich zum zweiten Mal geboren, besser, stärker. Für zwei Monate etwa wäre ich aber gern in diese Land gereist, in dem ich geboren wurde und an das ich mich gut erinnere. An den Krieg kann ich mich so gut wie gar nicht erinnern, denn da war ich noch sehr klein und lebte im Süden, in einem kleinen Städtchen, wo es auch während des Krieges sehr still war, keine zerstörten Häuser wie hier in dieser Stadt, in der ich mich gerade aufhalte, genauer gesagt im Wartesaal des Bahnhofs, denn es ist Nacht und ich hatte keine Lust, den zu suchen, den ich in Übersee kennengelernt hatte, und der gesagt hatte: Komm nur her, eine Schlafstelle werde ich dir besorgen. Als es mit dem Piotr vorbei war, sagte ich mir: ich kann nach vorn fahren oder zurück, nach links oder nach rechts, bevorzugt aber zu diesem anderen, den ich in Übersee im letzten schönen Sommer kennengelernt hatte. Ich dachte nicht lange nach, sondern entschied sofort, denn ich weiß, daß man sehr oft gar nicht denken soll, denn das schwächt die Entscheidung und läßt sie platzen wie eine Mohnkapsel. 

Den ganzen Tag über ging ich durch diese Stadt. Ich will nicht sagen, daß ich überall war, denn diese Stadt ist ungewöhnlich groß. Ich weiß nicht, ob die andere große Stadt, in der ich zuvor war und die die Hauptstadt dieses Landes ist, noch größer ist. Es mochte die erste, zweite oder dritte Stunde gewesen sein, als ich Hunger verspürte und in irgendeine Kneipe gegangen bin, denn ich hatte noch ein wenig Bares und wollte mich aufwärmen, denn ich hatte ziemlich gefroren auf den Brücken und in den Straßen zwischen den Brücken. Ich bestellte Flaki, Kaldaunen, und sah mich um in der Kneipe – denn ich habe diese doppelte Sichtweise und eine davon, die flüchtige, betraf heute die Kneipe –, während ich auf einem hohen Hocker an der Bar saß und auf die Flaki wartete: einige saßen auf den Stühlen, aßen und tranken. Sie waren nicht schön. Die Tapeten an den Wänden waren schmutzig. Obendrein Flechten an den Wänden. An einem Tisch saßen zwei. Einer von ihnen, der, der mir die Schulter zuwandte war besser gekleidet als der mit dem häßlichen Gesicht. Man servierte meine Flaki und ich begann zu essen.

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Jetzt bin ich wieder am Bahnhof. Ich wache auf. Jemand kommt auf mich zu, faßt mich bei der Hand, nimmt sich meiner an, faßt mich bei der Hand, und sagt: Mein Name ist Olga. Schließ die Augen. Ich werde dir alles erzählen.

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Anfangs könnte es scheinen, als seien die Brücken nicht ein Merkmal der Stadt, die Stadt vielmehr nur der Anlaß für die Brücken. Viele Häuser liegen noch als Kriegsruinen da, die Brücken scheinen unversehrt zu sein. Eine geeignete Schlafstätte findet der rastlose Reisende, zumal im Winter, weder auf noch unter Brücken dieser Art.