Freitag, 4. Juni 2021

Miasto

Eine Stadt

Der bloße Klang des Wortes VENEDIG ruft die Vorstellung einer schönen Stadt hervor, der Dichter findet allerdings weder bei seinem ersten noch bei seinem zweiten Besuch der Lagunenstadt bewundernde Worte. Ist es weniger die Schönheit als die freundliche Aufnahme, der uns einnimmt für eine Stadt, weitet sich der gloriose Empfang im Gasthof Goldene Taube aus auf die gesamte Stadt Verona?

*  *  *

Ich war zu dieser Zeit hungrig und voller Unschuld. Am Morgen wacht die Stadt nervös und eilig auf. Nach einigen Stunden fällt eine grausame Sonnenhitze vom Himmel, und die Stadt schläft wieder ein. Ich schleppte mich über den erhitzten Asphalt durch die verlassenen Straßen, die Augen zu Schlitzen verengt. Ermüdung stellte sich ein, und ich setzte mich unter einen Baum am Straßenrand. Diese Stadt, die ich so sehr haßte, in der es so viele schöne Frauen gab, so viele große Baudenkmäler, so viele mehr oder weniger angenehme Kneipen, in der es fünf Kirchen gab und eine gotische Kathedrale, diese Stadt, die ich so sehr haßte, war für den Augenblick mein Eigentum. Auf dem Gehsteig sitzend inmitten der Sonne und den hohen Häusern war ich in keiner Weise verloren, so wie ich am Morgen und am Abend verloren war, wenn sich die Straßen und Häuserblöcke sich mit Passanten füllten. Ich lehnte mich an einen Baumstamm und zog die Sportschuhe aus und legte die Füße in die Sonne. Dann zog ich einige aufgefundene Zigarettenkippen hervor, zündete die größte an, schloß die Augen für den Genuß, bis die Glut zum Finger gelangt war. Unter den Fußsohlen war der Asphalt weich und klebrig wie feuchter, einen Augenblick zuvor aus dem Automaten gezogener Tabak. Als es mir an den Fersen zu sehr brannte, stellte ich mir vor, es sei schmutziger Winterschnee, aber das half nicht, und ich mußte die Schuhe wieder anziehen. 

Ich war im hohen Norden in einem riesigen Palast. Meine Schritte auf dem Marmorboden hallten in einem hörbaren, hellen und kalten Echo von den Wänden zurück. Ich mochte mir die Stille nicht vorstellen, die sich einstellen würde, wenn ich stehenblieb. Deswegen ging ich weiter. Mit jedem durchlaufenen Saal wurde das Echo noch reichhaltiger. Dann bin ich offenbar eingeschlafen, denn am mehr kann ich mich nicht entsinnen.

Eine leichte Berührung am Arm weckte mich auf. Ein mir wohlbekannter Polizist beugte sich über mich und lächelte. Praktisch alle Polizisten in der Stadt kannten mich. Sie waren zu mir immer gut und verständnisvoll. Wenn ich jemanden von meinem Haß ausnehmen wollte, dann wären sie es. Das einzige, das ich ihnen anrechnen könnte, war, daß sie mich aufweckten und ich an den Hunger erinnert wurde.

Die Sonne sank langsam immer tiefer, die Straßen füllten sich mit Menschen, und zwischen ihnen zappelte, wie ein aus dem Wasser gefangener Fisch, mein Untergang.

*  *  *

Die oben geäußerte Vermutung bestätigt sich. Ein in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes Zimmer und ein als würdevoll zu bezeichnendes Frühstück in Verona, obdachlos und hungrig in Posen (vermutlich), angewiesen auf weggeworfene Kippen polnischer Billigzigaretten, da bleibt es nicht aus, daß die beiden Städte unterschiedlich erlebt werden.

Veröffentlicht 1959 in Kamena

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