Non timeo
Das Schulhaus stand auf einer Anhöhe am Rand der Ortschaft, der Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang. Dann mußte er, den Kirchberg hinunter und durch die obere Gasse. Die Kirche selbst kam dabei, soweit man hört, nicht in den Blick. Am liebsten hätte er als Junge das Klarinettenspiel gelernt, aber eine Klarinette gab es zu Hause nicht, nur eine Zither. Das Zitherspiel ist ihm eine schlimme Plage gewesen und die Zither selbst eine Art Folterbank. das beste an ihr war die geringe Eignung als Kircheninstrument. In einer sehr frühen Phase soll er durchaus kirchenfromm gewesen sein, ein Hinweis auf eine Tätigkeit als Chorknabe liegt nicht vor. Als Nachtigall hat man ihn jedenfalls nicht eingestuft.
* * *
Ich ging auf der großen breiten Straße, besser gesagt auf dem fünf Meter breiten Gehweg, chodnik, bepflanzt mit liebevoll gepflegten Bäumen, daneben die eigentliche Straße fünfmal so breit. Ich war in einer großen Stadt. Einer sehr großen. Einfach gesagt, ich hielt mich in der sogenannten Hauptstadt auf. Aber nicht zum ersten Mal in meinem Leben, sondern zum wiederholten Mal. So kam ich mir nicht verloren vor, wie das so ist. Ich fühlte mich nicht so, wie das zum ersten Mal in einer Stadt ist: ein wenig verloren eben, obwohl ich Erfahrung, immense Erfahrung in diesen Dingen habe, und oft sind es nicht mehr als zwei, drei Monate, daß ich mein Dasein in einen anderen Wohnsitz in eine andere Stadt oder ab einen anderen Ort verlagere, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, weil dort eine gute Arbeitsstelle winkte. Dann halte ich mich dort ein wenig länger auf, weil ich für die kommende Zeit Valuta horten möchte. Für welche Zeit?
In dieser unaussprechlichen Zeit, die mich immer wieder überfällt, wenn ich nichts und nichts und nichts zustande bringe, wenn ich alles hinter mir lasse, die schönsten Ortschaften und Gegenden, die allerangenehmsten Menschen, die allerbeste Arbeit sogar, den allerbesten Beginn, ich aber gehe fort. Ich gehe, weil ein Dämon sich meiner bemächtigt hat. Ein großes Rauschen. Eine große Bedrückung des Herzens. Eine unermeßliche Traurigkeit. Eine unbekannte Gnade. Eine unbekannte Angst. Ich suche dann einen abgelegenen Ort auf, gehe am Rand entlang, suche größtmögliche Stille, Ruhe, Menschenleere, eine Wüste, aber wo, also möglichst wenige Menschen nur, ausgesetzt am Wegrand. Angst umgarnt mich und unendliche Traurigkeit, daß Herz preßt sich zusammen, dehnt sich und schmerzt, mein Kopf schwimmt. So wie jeder Kopf manchmal schwimmt, aber meiner zu oft, zu oft.
Non timeo milia populi circumdantis me; exsurge Domine; salvum me fac, Deus! Salvum me fac, Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam! Infixus sum in limo profundi; et non est substantia!
Ich kenne diesen Aufruf. Als ich das hörte, vor langer, langer Zeit, war ich ein junger Bursche und lernte das fürs Singen, ein nicht geringer Schauder durchlief mich. Ein junger Bursche war ich. Eine Nachtigall im Kirchenchor. Ich habe diese Worte gesungen aber nicht verstanden. Ich erinnere mich daran. Ich habe sie später gesehen, in einem Buch, ein gutes Stück später, ein paar Jahre, elf Jahre ungefähr, davon sechs Jahre schon allein für mich. Ich habe das Buch in irgendeiner Stadtbücherei gelesen, schlechtes Wetter draußen, Wind, Kälte, Frost, irgendetwas in dieser Art, sechs Jahre war ich schon allein gewesen, und hier was keine Stunde verloren gewesen, hier wurde alles gezählt, auch die Stunden im Schlaf. Sie waren Gold wert. Es muß ein Regentag gewesen sein oder schon der erste Frost, als ich die Bücherei betrat, die, das sage ich jetzt, ein großer Fund für mich war, nicht geringer als das zauberhafte städtische Bad. Ich suchte mir ein Buch aus und begann zu lesen, las ziemlich lange und las die vergessenen Worte: Non timeo milia populi circumdantis me, und erinnerte mich sofort an diese Worte, erinnerte mich daran, wie ich im Kirchenchor gesungen hatte, eine Nachtigall im Knabenchor, die nicht verstand, was sie sang. Unten auf der Seite stand die Übersetzung. Ich las sie, und ein Schauder überlief mich. Elf Jahre hatte ich warten müssen, um durch einen Zufall zu erfahren, daß das, was ich so stolz als Nachtigall gesungen hatte, kein schöner, sanfter Gesang war, sondern ein schreckliches Rufen, ein Schrei, ein Aufstieg in die Höhe und ein Verweilen in der Unterwelt, Auge in Auge, allein mit sich selbst.
Die Worte hatten die folgende Bedeutung: Ich hat keine Angst vor den Tausenden, die mich umgeben; Erhebe dich, o Herr; rette mich, mein Gott! Rette mich, Gott, vor dem Wasser, das bis in meine Seele dringt! Ich versinke im tiefen Morast und finde keinen festen Grund. Das waren die Worte. Das war ein Ruf. Ein Hilferuf. Und das war kein falscher Alarm, wie man sagt, und auch kein schönes Wort im Wind, denn ich sah, welches Feuer darin loderte und welche Trauer und Hoffnungslosigkeit, denn man fühlte es, es waren klare Worte. Der also, der das geschrieben hatte, der das gerufen hatte, hatte den allmächtigen Gott um Hilfe gerufen, an den er glaubte oder doch glauben wollte, denn es war zu sehen, daß er nicht allzusehr an ihn glaubte, daß er nicht einmal mehr an seinen Gott glaubte. Eine große schwarze Verzweiflung. Ich versinke im tiefen Morast und finde keinen festen Grund. Ich bin in die Brandung geraten, höhlenartige Hohlräume, in unergründliche Wolfshöhlen, die Erde verschlingt mich, Sandkorn im Wind; und ich habe keine Stütze. Das bedeuteten die Worte. Eine große Verzweiflung.
Auf jeden Fall habe ich mich mit diesen Worten beschäftigt, schwierig wäre es gewesen, an ihnen vorbei ruhig weiterzugehen, aber ich hatte dieses Bild vor Augen, wie ich singe voller Stolz auf meine Kunst, als ein Artist in einem verbrannten Theater, als Kind. Und aus diesem Bild, ich erinnere mich, erwuchs mir eine große Kraft. Und ich schämte mich vor mir selbst und sagte leise: Verzeihung, Mensch, Verzeihung – ich sagte das im normalen Ton, nicht als wäre ich durchgedreht, sondern wie ein geistig gesunder Mensch, der genau weiß, was er macht und sagt. Ich müßte mich für mich schämen, aber eigentlich nicht für mich, ein normales Schamgefühl, denn eigentlich kann ich mir wenig vorwerfen, denn ich war ja noch klein, das heißt ein kleines Jüngelchen, ein Bürschchen, ein Kind halt. Und wirklich kann ich mir kaum Vorwürfe machen für diese Unschicklichkeit und Taktlosigkeit, denn ich war mir dessen nicht bewußt, wie man sagt uns ich hatte noch keine einzige, keine einzige Stunde des Lebens für mich gehabt. Auge in Auge. Ich lebte in aromatischen Düften, in buntem Dunst, in der verlogenen Welt der Kindheit.
Mój Boże, mein Gott, das werde ich vielleicht nie verstehen, wenn ich überall lese, rundum im Kreis lese: die wundersame Zeit der Kindheit. Ich höre überall und lese in den Bücher, das sei die schönste Zeit überhaupt, die Kindheit, die schönste Zeit unseres schweren Lebens, man müsse seine Gedanken zurückwenden zu diesen paradiesischen Zeiten, um zu bestehen, sich dorthin retten, um zu bestehen, und so weiter, i tak dalej. Vor gar nicht langer Zeit habe ich von einem Freund einen langen Brief erhalten, in dem er schreibt, wie die Erinnerung an seine wundersame, helle Kindheit sich einstellt und wie er gerade durchs Fenster sieht, wie Kinder fröhlich Ball spielen und zwei Bürschchen mit einem Hund um die Wette rennen, und daß er sie anhalten möchte, um ihnen zu sagen, sie möchten sich anstrengen, dieses Erlebnis in ihrem Gedächtnis zu bewahren für spätere Zeiten, wie fröhlich es gewesen sei, und dann, später …
Mój Boże, ich
werde das wohl nie verstehen. Denn für mich ist die Wunderwelt der Kindheit
vergeudete Zeit, und ich hasse sie. Und wieder sage ich, nicht als ein Mensch,
der in Verblendung gefallen ist, sondern als Mensch mit gesundem Verstand und
Herr seiner Kräfte, jemand, der weiß, was er sagt. Ich sage also: die Zeit der
Kindheit war für mich eine verlorene Zeit, eine falsche und jämmerliche Zeit.
Frühling des Lebens! Das war nicht einmal Vorfrühling mit den ersten
schüchternen Küchenschellen. Das war eine vergeudete, für immer verlorene Zeit.
Und nicht einmal Zeit, nur Weihrauch. Das ist eine Zeit, in der jede Stunde am
Tag und in der Nacht zählt. In der man nicht vergißt, daß man lebt oder stirbt.
Und der Schlaf nicht leicht, nicht leicht ist. Ist das diese wunderbare Zeit
der Kindheit? Ich warte. Unschuldig. Leider sehr unschuldig, ich sage leider,
denn wenn es nicht unschuldig wäre, könnte man sich vielleicht irgendwie
freikaufen. Dafür würde sich Zeit finden. Aber wie? Wenn man unschuldig ist.
Oder nehmen wir das Leben der Mistel. Warum so schreiben und reden: wunderschön, leuchtend, unersetzlich, engelhaft, muß bewahrt werden. Warum? Imgrunde muß man sich schämen. Trotz allem. So kommt es, daß sich ein Mensch für andere schämt. Das kann vorkommen. So habe ich mich geschämt, wenn ich nach all den Jahren sehe, welche Worte ich so scharmant wie eine Nachtigall im Knabenchor gesungen habe. Unschuldig. Tatsächlich unschuldig. Und ich schämte mich nicht für mich, sondern für die Kindheit eben, für jemand anderes. Denn ich war kein wunderbares Kind.
Wie ich also schon zuvor geschrieben habe, ich kann nicht verstehen und wundere mich, wenn ich irgendwo von der wundervollen Zeit der Kindheit lese oder höre. Und das von den bedeutendsten und berühmtesten Schriftgelehrten. Das wundert mich sehr, daß sie einseitig so denken. Denn für mich, ich will es nicht wiederholen. Obwohl es so aussieht, daß auch ich einseitig denke, und das ist auch so, aber für mich wird mein kurzes Leben nicht zu lang sein. Und für mich zählt nur das, wenn ich versuche, etwas zu verstehen, was in meinem Umfeld geschieht.
Ich habe schon zuvor von dieser Zeit geschrieben und werde es nicht noch einmal wiederholen. Ich ging in der Hauptstadt auf einem maßlos breiten Gehweg mit liebevoll gepflegten Bäumen, daneben die eigentliche Straße, und es war wohl klar, daß es eben zu dieser Zeit wie ein Überfall war.
In dieser Zeit, die auch den überfiel, der diese Worte geschrieben hat, die ich nicht umschreibe, nicht umschreibe, die ich nur genau so schreibe, wie er sie geschrieben hat, diese unaussprechlichen Worte: Non timeo milia populi circumdantis me; exsurge Domine; salvum me fac, Deus! Ich hat keine Angst vor den Tausenden, die mich umgeben; Erhebe dich, o Herr; rette mich, mein Gott! Rette mich, Gott, vor dem Wasser, das bis in meine Seele dringt! Ich versinke im tiefen Morast und finde keinen festen Grund. Und genauso wie er möchte ich glauben. Und geradeso, wie er nicht mehr glaubt, schon seit langem nicht mehr, früher aber habe ich heftig geglaubt, auf schöne Art, aber dann hat es langsam aufgehört, ich weiß nicht warum, und ich wollte es so sehr, aus ganzer Seele, mit all meinen Kräften wollte ich an Dich glauben. Boże mój, aber ich habe langsam aufgehört, der Glaube der Väter hat mich verlassen, die gute alte Religion, wie oft, Boże mój, habe ich auf einem Feld oder im Wald gebetet und zu Dir gebetet, daß Du mich tröstest, mich an Deiner Seite hältst, immer wenn ich über einen leeren einsamen Weg gehe oder eine große Straße voller Leute oder über unermeßlich breites Trottoir in der Hauptstadt, wie oft, Boże mój, wollte ich mit aller Kraft an Dich glauben, aber der Glaube der Väter, die gute alte Religion war verschwunden, ich weiß nicht wie oder wann oder warum, denn nicht darum, nicht wegen der fortschrittlichen neuen Wissenschaft, ich weiß nicht, Boże mój, aber es ist so, wie ich sage, und jetzt glaube ich schon seit langem nicht mehr an Dich, Boże mój. Ich sage Dir das auf eine einfache und mutige Art. Unter vier Augen. Einer zum anderen.
Aber wenn es heißt: Non timeo milia populi circumdantis me; exsurge Domine; salvum me fac, Deus!, wenn ich sage: Salvum me fac Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam!, dann rufe ich das nicht ohne Glauben, oh nein. Ich sage das voller Glauben. Voller Glauben an den anderen Menschen, der Gott sein kann und es bisweilen ist, obwohl er meistens ein Nichts ist oder so gut wie, eine Blindschleiche. Aber manchmal gelingt es dem anderen Menschen, Gott zu sein, und dann ist er es. Dann, wenn er ein Mensch ist. Und das ist mein Glaube. Das ist meine Übersetzung des Rufes: Non timeo milia populi.
So muß ich nicht denken, und so habe ich nicht gedacht, wirklich nicht. Und jetzt, nach so vielen Ansichten in so vielen Jahren, wo ich auf jeden Schritt sehe, wie die Menschen einbrechen und die Denkmäler emporwachsen, jetzt vermag ich schon zu denken, daß der Mensch, wenn er ein Mensch ist, Gott ist. Das ist mein Glaube, oft geschlagen und verletzt, aber nicht ins Wanken zu bringen, unerschütterlich.
Aber was ist mit den Träumen? Träumen ist etwas anderes. Eine ganz andere Sache. Träumen ist nicht so notwendig wie Glaube oder wie Wasser, wie Gas, wie Sauerstoff. Andererseits kann Träumen sehr schön sein. Ich erzähle hier nicht von meinen Träumen, die ich ein andermal erzählen will, sondern von denen eines anderen. Ich erzähle von Träumen, die ich von einem anderen gehört habe. Ich erzähle von einem Traum, den ich von einem Menschen gehört habe, für mich also von einem Gott. Er also, dieser Gott, erzählte mir von einem Traum, als er sich auf einer weiten leeren Wiese fand in der sonnigen Frühsommerzeit, er hatte sich im Gras ausgestreckt, und ein kleines Kälbchen kam zu ihm und fuhr ihm mit der Zunge übers Gesicht.
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