Samstag, 12. Juni 2021

Roraty

Rorate

Wenn er am Morgen aus der Haus trat, blieb er zuerst stehen, um nach dem Wetter zu schauen. War es nur eine sozusagen geschäftsmäßige Einschätzung des Wetters oder war insgeheim auch eine Art Segnung oder Preisung des neuen Tages damit verbunden, eine Roratemesse in Kurzfassung?

 *  *  *

Von den Phantasmen, die gierig an meiner armen Stirn zerrten, erlöste mich das Summen der Fliegen. Mit zwei Fingern öffnete ich die verklebten Augen. Die Nacht lastete noch schwer auf mir, aber ein durch die Fensteröffnung wehender leichter Morgenwind kam zur Hilfe. Auch das berühmte Gebäude war bedrängt vom aufdringlichen Summen der Fliegen in der dünnen Luft. Dazu das Krähen des Hahns, anhaltender als zur Mitternacht und fröhlicher. Das und gut tausend Ultraschallaute kündigten unverkennbar an, daß die Nacht vorüber ging und die Sonne bald von Osten her die Luft erhellen würde.

Also stand ich auf, biß die Zähne zusammen, die Liege knirschte. Ich zog die Schuhe an, und das war fürs erste das ganze Zeremoniell. Leise, auf Zehenspitzen, um niemanden in dem Zimmer aufzuwecken, ging ich zum sogenannten Badezimmer. Durch das kleine Fensterchen leuchtete am Himmel der Große Wagen.

Ich wusch mich mit ein wenig Wasser aus der Wanne, trocknete mich ab, band die Schuhe zu, leise die ganze Zeit, und ging zur Tür. Ich zog den Riegel zurück und trat auf die Schwelle. Langsam klarte es auf. Die Nacht atmete noch, aber das waren zuverlässig die letzten Minuten. Hinter einigen Fenstern brannte schon Licht. Ein weiteres leuchtete auf. Keuchend und spuckend erwachte die frühmorgendliche Zivilisation. Irgendwo schlug eine Uhr die fünfte Stunde. In der Stille des schlafenden Stadtviertels trug der Glockenschlag weithin. Und versickerte.  

Ich stand auf der Schwelle. Ich schaute nach Osten. Nicht weit entfernt kräht ein Hahn und erfüllt die Luft mit Hysterie. In zwei Fenstern zweier Häuser geht gleichzeitig das Licht an. Wer um sechs mit der Arbeit beginnt, steht jetzt auf, und auch der um sieben, wenn er zwanzig, dreißig Kilometer fahren muß. Ein großer Zementwerk liegt in dieser Entfernung, wie der Phönix aus der Asche gewachsen. Dorthin fahren viele, die jetzt aufstehen.

Also aufgestanden, einige Frauen haben den Männern schon das Frühstück bereitet und das zweite Frühstück für die Arbeit, und dann noch die drei Frauen, die sich verabredet hatten zur Pilzsuche im Wald. Ich hatte das unabsichtlich gehört, als ich gestern auf einer Steinbank am Marktplatz saß, in der Nachmittagsherbstsonne, mit zugekniffenen Augen.

Ich stand also auf der Schwelle. Die Stille hielt den Atem an. Von Zeit zu Zeit ließ eine Morgenbrise die Blätter der Obstbäume rascheln, eine Pfanne stieß an eine Teekanne. Durch das geöffnete Fenster war der Klang von Metall zu hören, dann versank er in der nahen Hügellandschaft. Ich stand auf der Schwelle und schaute mich um. Die Luft wurde langsam dünner, durchsichtiger, und das im Dunklen Verborgene nahm Gestalt an.

Ein kalter Hauch durchwehte mich vor Aufgang der Sonne. Das berührte mich, nicht die fernen Fahrgeräusche eines Zuges. An erster Stelle steht die Sache, die mein Körper in- und auswendig kennt: Kälte. Ein wenig zu leicht, scheint mir, ein wenig zu schnell und zu glatt erzähle ich davon. Das muß anders erzählt werden. Nicht so glatt. Nicht so sauber. Das muß gespannter vorgetragen werden. Stotternd durch die vor Kälte zitternden Zähne, und ohne Eleganz niedergeschrieben, so wie die vor Kälte starren Finger. Man kann alles auf elegante Art ersinnen und niederschreiben wie in der schönen Literatur. Das macht keine Mühe. Auf diese Weise kann man endlos die Regale in den Büchereien füllen, wie es üblich ist, besonders mit der schönen Literatur. Ich möchte das so erzählen, will sagen, es weiterhin so erzählen, wie es ist, wenn es anders ist, wenn die Worte nicht anmutig niederschweben, sondern … hier fehlen mir die Worte. Die es wissen wollen, wissen ohnehin, wie ich das Brot zerbrösele.

Die Kälte also setzte mich in Bewegung, sage ich, ein wenig aber vielleicht auch das Geräusch des Zuges. Nicht selten hat mich die Kälte in Schwung gebracht, das weiß ich in- und auswendig, und die Kälte kennt alle meine Empfindungen. Aber ein bißchen bewegt mich auch der ferne oder näherkommende Ruf des Zuges. Mehr als einmal. Deshalb kann ich jedenfalls nicht sagen, daß mich die Kälte in Bewegung setzte und der Ruf des Zuges ohne Echo blieb. Eigentlich kann ich die beiden Dinge nicht trennen.  Darum berichtige ich, denn alles läßt sich berichtigen: nicht mehr als zwei, drei Minuten, nachdem es irgendwo fünf Uhr morgens schlug, überschnitten sich zwei Dinge: Kälte durchströmte mich, und in der Ferne tönte der Zug. Und dann passierte ein Drittes: ich setzte mich in Bewegung.

Die Luft wurde immer durchsichtiger, die nachmittägliche Nacht endete. Die Sterne wurden blasser, im Gras blitzten Tautropfen. Auf dem Hügel lagen die Melonen wie zusammengerollte Hunde. Durchs Feld und zwischen den Grundstücken hindurch gelangte ich auf den Gehweg an der Straße. Hier stießen die Beine auf harten und trockenen Untergrund. Sonst war alles leer. Auch die Schwalben saßen noch nicht zum Abflug bereit auf den Drähten. Die Sterne am Himmel wurden blasser und zogen sich nach Westen zurück. Was mich anbelangt, ging ich weiter nach Osten, dem wachsenden Mond entgegen und zum Milchladen, wo man zu Beginn des Tages Milch kaufen konnte und mußte. Zwei Dutzend Frauen standen sicher bereits in der Schlange. Aber hier auf dem Weg war alles noch leer. Er zog sich dahin wie eine lange Ameisenkolonie. So war es eingeteilt. Dort verflucht man sich, hier wünscht man sich Gesundheit. Und umgekehrt. Dort geht man zugrunde, und hier werden Kinder geboren. Und umgekehrt. Das sind harmonische Verhältnisse. Dort verschluckt die Nacht das Theater, hier, auf dieser Seite des Planeten, wird es Tag.

Noch nicht. Bald schon, aber noch nicht. Es war immer noch diese allerreinste Zeit, in der das eine endet und ein anderes beginnt, aber noch weder das eine noch schon das andere. Es war diese kindliche Zeit, ohne Plan und Ordnung. Und daher war es die wahrhaftigste Zeit von allen: unbekannt. Geleitet von einer undeutlichen, nebligen, nur halbdurchsichtigen Luft.

Ich wußte es nicht. Ich hatte nicht bemerkt, daß ich stehengeblieben war. Das war mir widerfahren. Ich stand erneut still und schaute ins Rund. Unten im Tal lichtete sich der Nebel langsam, widerwillig, wie es schien, die Stadt zeigte sich noch wie eine Erscheinung, ein Mythos: die Mauern sich ihrer Sache nicht sicher, feuchte Dächer, ein flatternder Kirchturm. Mögen sie still sein. Schweig, allseits bekannte Gattung, wie Witek Rozański sagt. Nur die Blätter mögen rascheln. Ich hielt diesen Augenblick der Ewigkeit in der Hand. Das Wortlose saugte an mir wie Nikotin und füllte die Kehle. Unpassend noch sind die Worte, die hier gefallen sind. Nicht auf der Höhe des Geschehens. Ich weiß das, finde aber keine besseren.

Ich hielt also, sage ich, einen Augenblick der Ewigkeit in der Hand, so als wäre es ein altes Geldstück oder auch ein gewöhnlicher zeitgenössischer Apfel. Die Ewigkeit, sage ich, hielt inne in ihren Lauf und stützte sich auf meinen Arm. Ich stand normal da, so wie ich meistens dastehe, auf anderthalb Beinen, und spürte die Feierlichkeit, so als geschehe mir dergleichen zum ersten Mal. Es dauerte nur einen Augenblick, einen kurzen Augenblick, eine Minute oder auch nur eine halbe, aber wer rechnet aus, wieviel dreißig Sekunden der Ewigkeit sind? So begann der letzte Tag meines Lebens. Aus der Ewigkeit.

Es wurde immer heller. Man konnte und man sollte Mich trinken, das war möglich. Was notwendig war, die Seele wieder auf die Schulter zu nehmen. Das getan, bewegte ich mich weiter in Richtung des zunehmenden Lichts und des Milchladens, wo man ohne Schwierigkeiten ein Viertel oder zwei Viertel zum Beginn des Tages trinken konnte. Dazu ein Stück Brot. Eine Tomate. Dann mußte man weitersehen.

Fürs erste aber sah ich niemanden auf der engen Stra-, ich beende das Wort nicht, denn vor mir kam die erste menschliche Gestalt aus einem Tor und lief mit schnellem Schritt die – jetzt kann ich es sagen – die Straße hinab. Ich dachte, den frühen Morgen über habe ich, sooft ich mich auch umsah, keinen Menschen auf der Straße gehen sehen. Ich dachte, wenn ich einen solchen Menschen erblickte, sei das ein ein wenig seltsamer Anblick. Den Faden weiter spinnend dachte ich, der ich nicht selten mit langsamen Schritt durch das fahle Licht der Morgendämmerung gegangen war, für einen Frühaufsteher, der zum Fenster getreten war, um nach dem Wetter zu schauen, wäre das ein unnormaler Anblick gewesen. Der Frühaufsteher zieht den Vorhang zurück und sieht, daß jemand langsam durch den Nebel geht. Und was hätte er gedacht, was hätte er bei diesem Anblick denken sollen? Er zieht den Vorhang wieder zu, legt sich wieder ins Bett, liegt aber hellwach da mit offenen Augen, welche Vorstellungen würde er wohl ableiten aus diesem Bild? Welches Gerüst würde er wohl bauen auf diesem undeutlichen Fundament? Es ist schwer, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Wenn ich langsam durch das fahle Licht des Frühmorgens gehe, kann ich nicht gleichzeitig der hinter dem Vorhang sein. Aber nehmen wir an. Nehmen wir an. Zum Beispiel also, ich bin der hinter dem Vorhang, und dann lieg ich im Bett, schon wach, mit offenen Augen zur Decke hin, dann könnte ich, indem ich hinaus in den Nebel gehe, eine neue Odyssee einleiten. Ich sage das aus dem Gefühl heraus.  

Währenddessen, wie schon gesagt, ging ich mit langsamen Schritt einher, zwischen Tag und Nacht, zwischen Himmel und Erde, auf dem Randstein die Ulica Krajowej Rady entlang. Ja, wie schon gesagt, das dunkle Bild nahm sichtbare Formen an. Ja, und wie gerufen krähte der Hahn ein weiters Mal hysterisch, während ich mich leichtfüßig hinab bewegte. Den mir schnell Vorangehenden hatte ich schon aus dem Blick verloren. Das Klopfen seiner Absätze auf dem Gehweg war schon nicht mehr zu hören.

Stille übernahm wieder das Regime, besser gesagt, sie nahm die schlafende Häuserblöcke in Pacht. Mich beflügelten dreißig Sekunden der Ewigkeit, und sie werden mich für mehr als fünfhundert Jahre beflügeln, wenn ich das richtig sehe. Denn ich hielt sie, die Ewigkeit in der Hand, sage ich, so als sei es ein junger Spatz. Für einen Augenblick nur hatte es gedauert. Eine Minute vielleicht, eine halbe. Aber wer kann ausrechnen, wie lang dreißig Sekunden der Ewigkeit dauern? Das nicht Sagbare saugte mich aus und überschwemmte die Kehle. Standhaft existierte ich für eine Ewigkeit in diesen dreißig Sekunden. Unerschütterlich ist mein Glaube alleweil, und niemand kann ihn mir nehmen oder beflecken, nicht einmal der Tod, der hinter den Schultern der Liebenden lauert.

Am Himmel zogen sich die Sterne, immer blasser, nach Osten zurück, versuchten, sich dort zu verstecken. Umsonst. Sie sind kraftlos. Das Morgenlicht dringt überall vor. Zuerst auf den Höhen, später hier, im flachen Land, es vertreibt den Dunst aus den Feldern und die Wolken. Aber das habe ich nicht gesehen, ich war nicht auf dem Feld. Ich war in der Stadt, im Ziegelsteingebirge. Ich schritt langsam die Höhe empor, zwischen Feuer und Wasser, am Rand der Ulica Krajowej Rady. Wer denkt an das Meer, wenn er in den Bergen ist? Ich. Das Pflaster schimmerte vom Morgentau wie ein verlassenes Schiffsdeck voller Fische.

Niemand zog die Gardinen vor den Fenstern auf. Das Wetter kündigte ultramarine Zustände an, ein makelloser Tag war zu erwarten. Einer dieser Tage, an dem die Sonne einfach von der Höhe herabstrahlt. So kündete sich jedenfalls der Tagesbeginn an, besser gesagt, der Vormittag. Vielleicht, aber nicht notwendig auch der weitere Verlauf des Tages. Am Nachmittag mochten sich, wie das häufig der Fall ist, Wolken am Horizont zeigen und ihn verdunkeln. Alles weitere hing von den Formen und Farben ab: Regen- oder Sturmwolken oder harmlose Wolken, die im Westen den Himmel bedecken, aber bald verschwinden, man weiß nicht wohin, man weiß nicht, wo sie geblieben sind. Es konnte sich unterschiedlich entwickeln. Aber zumindest ein halber makelloser Tag war versprochen.

Ein weiterer Mensch ging die Straße entlang, hinter ihm noch zwei, und das war es zunächst. Alle waren mit den gleichen Sakramentalien ausgestattet, unterm Arm oder in der Hand: eine schwarze Tasche. Schnell schlossen sie zueinander auf und gingen zu dritt weiter, mit großen Schritten, mit den Armen rudernd. Der Gehsteig reichte für ihre Beine aus, aber oben wurde es knapp. Mit eng angelegten Armen kamen sie bereits auf über zwei Meter. Der Gehsteig gab das nicht her, und die Formation platzte aus den Nähten, wenn sie mit den Armen ruderten. Wenn ihnen jemand entgegen kam aus der anderen Richtung, mußte er unweigerlich auf die andere Straßenseite wechseln. Und man konnte das keineswegs als Nachgeben des Schwächeren zugunsten des Stärkeren verstehen, sondern nur als eine natürliche Gegebenheit. So hätte auch ich das ohne weiteres getan, wenn ich ihnen zum Beispiel beim Aufstieg auf dem Gehsteig entgegengekommen wäre. Auf die natürlichste Weise wäre ich ihnen aus dem Weg und auf die andere Straßenseite gegangen und hätte in keiner Weise gedacht, das sei ein Zurückweichen vor den Stärkeren gewesen. Ganz im Gegenteil. Es wäre von meiner Seite aus eine einfache Höflichkeit gewesen, ein natürliches Verhalten. Ich sehe, sie sind unterwegs zur Arbeit und haben es eilig, alles ganz natürlich.

Denn es ist ganz etwas anderes, ob drei Familienväter frühmorgens zur Arbeit eilen, und ein anderes, wenn mitten am Tag eine Bande der Jeunesse dorée anrückt. Das ist das eine, und das ist das andere. Ich schaue in ihre Richtung , und sehe, daß sie in voller Breite auf dem Gehweg anrücken, leicht nach vorne oder nach hinten gebeugt, die Hände in den Hosentaschen, garantiert so, mit dieser Art von Weisheit, als ob sie mit ihren Füßen den Stein der Weisheit vor sich hertrieben. Und ich gehe ihnen entgegen mit all meiner unendlichen Sehnsucht, ich weiß schon nicht mehr wonach, manchmal nur vermute ich es, jetzt zum Beispiel ein wenig, und ich gehe langsam weiter, im Unbekannten und nur vorsichtig nehme ich an, daß es der Gehsteig der Ulica Krajowej Rady ist.

Sie also gehen sorglos dahin, und ich gehe ihnen entgegen, auf meinen Schultern eine Schildkröte, ein Elefant,  Erdklumpen. Ich will hier klar und deutlich, mit einer blutroten Linie zeigen, daß es mir, wenn es auch so aussehen mag, nicht darum geht, wer hier wem Platz macht, daß eher sie oder ich auf die Straße ausweichen. Ich sage also klar: nein. Ich verlange das weder, noch bitte ich darum. Sie kommen also sorglos daher, und ich gehe ihnen entgegen mit sieben Siegeln. Ich weiß nicht so recht, warum ich von sieben Siegeln spreche. Ich bemühe mich darum, das Denken nie mit Worten zu belasten, ich rede unbewußt daher. So als würde mir ein Stein aus dem Mund fallen. Ich weiß nicht.

Die Luft erhellte sich also, ich sage es zum letzten Mal, denn die Morgendämmerung wurde immer klarer mit all ihrer Klarheit. Die Dunkelheit versteckte sich in irgendwelchen Ecken und Ritzen. Die ersten Lichter in den Häusern wurden wieder gelöscht. Der Nachmittag der Nacht ging zu Ende. Auch die Ulica Krajowej Rady nahm ein Ende. Ich bog nach links zum Marktplatz ab. Von da zum Milchladen war es nur ein Schritt. Von da zur Bäckerei ein weiterer Schritt. Wenn ich mich darauf einließ, war es günstig. Schwer zu sagen, wie lang es dauern würde, jedenfalls war auch ich günstig eingestimmt. Sehr. Sehr. Die Zeit ist noch jungfräulich und unbefleckt, es ist ihr Verdienst.

Zwei kommen mir entgegen und hinter ihnen noch zwei auf derselben Seite des Gehwegs. Ich trete auf natürliche Weise zum Rand und dann zur Straßenmitte. Meiner Überzeugung nach ist es ein und dasselbe, ob nun Straße, Feld, Hof, Rondells oder Haftanstalten, kein Zurücktreten vor der Mehrheit, sondern ein Ausdruck der Höflichkeit, eine Verneigung auf dem Weg zur Arbeiterakademie. Denn, wie gesagt, es ist ein Unterschied, Familienväter, die im Morgengrauen zur Arbeit hasten oder zum frühen Arbeiterzug, denen ich den Weg freimache, um ihnen keine unnötigen Schritte zuzumuten, und auf der anderen Seite eine Bande jugendlicher Nachkommen, die sich rücksichtslos dahinbewegen. Da hält mich nichts an, ihnen den Weg freizumachen, es sei denn die Angst, sie gingen auf mich los, weil ihnen mein Gang nicht gefällt oder mein Kopf oder die schillernden Knöpfe auf meiner Jacke.

Sie kommen mir also entgegen, und ich gehe ihnen entgegen auf derselben Seite des Gehwegs, mache keinen Schritt zur Seite, obwohl ich Angst habe, die Wangen steif werden und die Waden zu zittern beginnen, denn ich weiß, sie können auf mich losgehen oder etwas sagen und ich muß dann etwas sagen, und einer von ihnen sagt: Hast du nach der Befreiung schon einmal einen auf die Rübe bekommen?

Ich antworte etwas im gleichen hohen Stil und entweder bleibt es beim Wortwechsel, oder ich bekomme etwas ab am hellichten Tag und liege da, mitten auf der Straße, unter den Augen der Mitbürger. Denn niemand rührt sich und kommt mir zur Hilfe. Und was weiter? Erst einmal geht es nicht weiter. Die Wunden lecken. Dann erst kann es weitergehen. Rache. Einem von ihnen lange auflauern, und dann verlasse ich heimlich die Stadt. So ist es oft gewesen. Ich bin der Rächer.

Die Luft klarte immer mehr auf, ich sage es zum allerletzten Mal. Ich bin der Rächer. Ich sehe das sehr klar. Die Sonne, dort, geht auf hinter den Vorhängen, und das Licht ergießt sich über das Land wie der Nil. Der Schatten über den Dächern verkriecht sich hinter den Schornsteinen, in den Ecken und Winkeln. Der Tag hat unwiderruflich begonnen. Alles Glühlampen in den Wohnungen wurden ausgeschaltet. Nur einige vergessene Straßenlaternen leuchteten noch schwach und still vor sich hin, auf verlorenem Posten, an der Zeit das zu beenden. Aber wahrscheinlich schlief im Elektrowerk mein Landsmann, der Verschwender. Ich dachte daran, daß ich Milch trinken sollte. Eine Katze ging den Gehsteig entlang, und ich dachte an etwas anderes. Die aufgehende Sonne schien in die Augen.

Schließlich gelangte ich auf den Marktplatz. Ich stand unter der Tür des nächstgelegenen Hauses, ich atmete tief und aufrichtig. Rundum begann das menschliche Leben und ich war dabei. Ich war immer noch hier. Die jungen Leute gingen einher, Körbe unterm Arm und Sahnebecher. Kisten mit Obst und Gemüse wurden vor die Läden gestellt und Stände aufgebaut.

*  *  *

Aus dem dynamischen Zusammenspiel von Morgenkühle auf der einen und den Fahrgeräuschen eines Zuges auf anderen Seite soll sich der Ansporn zum Aufbruch herleiten, für einen Augenblick aber scheint es, als würde sich ein völliger Stillstand ergeben, dann aber kommt das erlösende: ich setzte mich in Bewegung. Aber nicht so, als sei der Bann gebrochen, der Erzähler bleibt in komplizierte Überlegungen verstrickt, etwa in das kaum lösbare Problem, welchen entgegenkommenden Passanten man den Weg freimacht und welchen nicht. Als Getränk hat, anders als man es bei Stachura kennt, die Milch eine seltsam dominante Stellung. Die an anderer Stelle geäußerte Einschätzung, Wodka sei ein guter Gesprächspartner, wird auf die Milch nicht übertragen.

Rorate, der immer wiederkehrende Lobpreis vom Morgen und vom Licht, vom Sieg über Nacht und Dunkelheit, unentwegt aber fährt begleitend Ablenkendes und Triviales durch den Sinn, das Triviale gewinnt die Oberhand, der phantasierte Eklat auf dem Gehsteig wird jenseits aller Realität zum Desaster. Das reine Gebet, welchem Gott auch zugedacht, ist nicht menschenmöglich.

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