Donnerstag, 1. Oktober 2009

Lesen, Sebald lesen

Ascencion

I’m learning to fly, but I ain’t got wings
Coming down is the hardest thing


Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen.

Man kann diese Passage lesen als Metapher der üblichen Begegnung mit einem Buch. Man trifft sich mehr oder weniger zufällig, verbringt eine nicht geringe Zeit miteinander, verspürt am Ende einen Augenblick der Niedergeschlagenheit, und was bleibt, ist, im günstigen Fall, eine glückliche Erinnerung. Man mag sich auf ähnliche Weise ein weiteres Mal begegnen bei gleichem Ablauf, der Augenblick der Tristesse beim Abschied mag entfallen oder sich verstärken, bei einer dritten Begegnung aber wird man wohl anhalten und sich bekannt machen und vielleicht das Wagnis einer wahren Freundschaft eingehen.

Im Fall der Lektüre steigen nicht Menschen aus einem Fahrzeug, sondern in die Augen schauen sich ein dichterisches Vermögen und ein Lesevermögen, das, wie auch immer bescheidene, Züge eines dichterischen Vermögens aufweisen sollte. Unsere Geschichten gelingen nur in dem Maß, als sie sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einrichten. Alles kommt darauf an, daß das Lesen sich in diesem Zwischenraum einrichtet und allen Versuchungen widersteht, ihn zu verlassen. Das gilt umso mehr, wenn der Leser sich seinerseits anschickt, seine Gedanken und Eindrücke zu sammeln und zu ordnen für einen Versuch, den gemeinsamen Raum der Phantasie von seiner Seite aus zu erfassen, vielleicht sogar in der Schriftform. Die Versuchungen, denen er dabei ausgesetzt ist, tragen vorzugsweise wissenschaftliche Masken reduktionistischer Machart.

Regelmäßig lockt die Versuchung des Biographismus und Psychologismus. So sind etwa ein Vatertrauma und eine psychoanalytische Fixierung des Schriftstellers W.G. Sebald bloßgelegt worden. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt. – Was hat der Leser damit gewonnen für sein Lesen? Den Raum zwischen der Phantasie des Autors und seiner eigenen hat er mit Überlegungen dieser Art sicher verlassen.

Noch verbreiteter ist das, was als Thematismus bezeichnet werden könnte, das alleinige oder doch weitgehende Abstellen auf die Themen der Prosa. Mit der Berücksichtigung des Holocaustthemas vor allem in Austerlitz war die Ernennung zum prime speaker of the Holocaust wohl nicht vermeidbar. Beim Thema des Holocaust fühlen sich viele - und wahrscheinlich völlig zu recht - befähigt mitzureden, aber nur wenige unter ihnen offenbar verfügen über ein Lesevermögen, das Züge eines dichterischen Vermögens aufweist.

Soziologismus, Historismus &c. sind weitere Klippen, von denen fader Sirenensang ertönt. All das kann ohne weiteres mitschweben bei der Lektüre - und je mehr und tiefer wir einen Dichter lesen, desto nachdrücklicher wird uns nicht selten seine Gestalt und zumal sein Antlitz zum Abbild seiner Texte, so als liege dort ihr Geheimnis verborgen, so als könnten wir sie auch unmittelbar dort entziffern -, viel kann also mitschweben und sich überblenden, ständig aber muß klar bleiben, daß Dichtung hier erst beginnt und in ihren eigenen Bahnen fortfährt, indem sie alles Vorausliegende nur als Material zu benutzt, ähnlich wie die Worte die Phoneme als Material benutzen. Wer einem der Sirenenliedchen folgt und sich ihm ausliefert bis hin zum reduktionistischen, es sei „nichts anderes als“, der steht mit den Worten des Dichters zwar nicht unbedingt stumm aber doch dumm und betrogen da.


Höchste und kaum zu erreichende Maßstäbe setzen Sebalds eigene Leseabenteuer, sofern sie Gegenstände seiner Prosa werden, seine Begegnungen etwa mit Stendhal und Kafka in den Schwindel.Gefühlen oder mit Rousseau im Landhaus. Ohne den Blick so hoch zu heben, wird in den kleinen Sebaldstücken im Verlauf immer neue Lesedurchgänge versucht, die Textur vorsichtig einmal hier und einmal dort ein wenig anzuheben, um, unter Vermeidung von Verletzungen, genauere Blicke zu ermöglichen, Blicke auf das Vorhandene und, nicht weniger wichtig, Blicke auf das Fehlende wie etwa Kinder, Ehepaare, Berufstätige. Ab und zu, das ist zu gestehen, kann beim fortwährenden Lesen dann ein übermütiges Gefühl aufkommen ähnlich dem, das sich einstellte, als man vor langen Jahren auf dem Schoß des Großvaters sitzend, weit über das wirkliche Vermögen hinausgehend, das Steuerrad des fahrenden Autos betätigen durfte.

Unter allen Motivfäden scheint einer vor allem das Muster zu bestimmen und zwar der, der die Flieger mit den Vögeln und den Heiligen verbindet. Zwar gelingt es Thomas Browne, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. – Das Thomas Browne Abgelesene gilt uns als Offenlegung der eigenen künstlerischen Absicht, Levitation also als letztes Ziel auch der Prosa Sebalds, das Schweben aber taugt nur dann etwas, wenn es die ganze Schwere des Lebens und Leidens mit sich trägt. Das Christentum hat sich ikonographisch am Kreuz festgemacht, beansprucht gleichzeitig, Frohe Botschaft zu sein und läßt der Crucificatio die Ascencio Christi folgen.

Sebald wählt den dem ästhetischen Effekt angepaßten Begriff der Levitation, die vielen Heiligen im Werk lassen ohne weiteres auch an Ascencion denken. Allerdings gelingt den Heiligen ihr spirituelles Kunststück nur noch unvollkommen: In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. - Die alte Nähe aber von Kunst und Religion ist auf eigenartige Weise gewahrt.

Levitation & Ascencion sind nicht Thema der Prosa Sebalds, sie sind ihre innerste Gestalt, die Seinsweise, die sie für uns, die Leser, bereitstellt als frohe Botschaft einer streng textimmanenten Erlösung. Coming down is the hardest thing, das gilt für Sebaldleser in ganz besonderem Maße. Sie müssen fliegen lernen, auch wenn sie vielleicht von haus aus keine Flügel haben, und sollten, wie die Mauersegler, einmal aufgestiegen, nie wieder zur Erde zurückkehren. Viele aber schlagen heftig auf, und selbst die weiche Landung ist hart, und wer gar nicht erst aufgestiegen ist, hat es nicht besser getroffen.


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