Sonntag, 26. September 2010

Éire

Entsetzliche Dinge

Keltophile Leser rechnen es Sebald hoch an, daß er Austerlitz förmlich im Flug das Walisische erlernen läßt, yn yr hesg ar fin yr afon zitiert er flüssig aus dem Buch Mose. Den frommen Gutenachtgruß kosk yn koseleth in Cornwall hat Selysses freilich nicht gehört und auf den Hebriden ist er nicht gewandert. Irland wird im Achten Teil der Ringe des Saturn ganz aus englische Warte dargestellt, aber wer würde Mrs. Ashbury nicht gern zuhören, wenn sie erzählt aus ihrem Tag für Tag unschuldiger werdenden Leben.

Im einem Landsitz am Fuß der Slieve Bloom Mountains war Selysses vor einigen Jahren einmal für kurze Zeit zu Gast gewesen, nachdem er in einem kleinen dämmrigen Laden in Clarahill sich nach einer Unterkunftsmöglichkeit erkundigt und erfahren hatte: The Ashburys might put you up. Von den hohen Fenstern des großen Zimmers sah man über die Dächer der Stallungen und Remisen und über den Küchengarten hinweg auf ein schönes, vom Wind durchwogtes Stück Weideland. Weiter in der Entfernung blinkte von einer Flußkrümmung her das seitwärts dem tiefen Ufer zuströmende Wasser. Dahinter, in mancherlei Grün, waren Bäume und darüber die schwache, gegen das gleichmäßige Himmelsblau sich abhebende Linie der Berge.

Nach diesem Landschaftsausblick verliert sich das reale Irland weitgehend. Von draußen hörte ich die durch Mark und Bein gehenden Schreie der Pfaue, aber in meiner Vorstellung sah ich nicht den Hof, in dem zuoberst auf dem dort seit Jahren übereinandergetürmten Gerümpel sie ihre Sitzplätze hatten, sondern ein Schlachtfeld irgendwo in der Lombardei, über dem die Aasgeier kreisten, und ringsum vom Krieg verwüstetes Land.

Mrs. Ashbury war 1946 wenige Monate nach ihrer Heirat und nach dem plötzlich erfolgten Tod ihres Schwiegervaters, ganz gegen die Vorstellungen, die sie von ihrem künftigen Leben gehabt hatte, nach Irland gegangen, um mit ihrem Mann den ererbten und damals so gut wie unverkäuflichen Besitz zu übernehmen. Das Land war ihr bis dahin gänzlich fremd, und ihr Mann hat sich zu den irischen Verhältnissen grundsätzlich nie geäußert, obschon oder vielleicht weil er während des Bürgerkriegs entsetzliche Dinge mitangesehen haben mußte. Mehr als schemenhafte Umrisse hat das Bild von Irland, das sie sich machen konnte, nie angenommen.

Immerhin hat sie von der furchtbaren Nacht mitten im Sommer 1920 erfahren, als das etwa sechs Meilen entfernte Haus der Randolphs, die gerade mit meinen nachmaligen Schwiegereltern dinierten, in Brand gesteckt wurde. Insgesamt sollen zur Zeit des Bürgerkriegs zwei- bis dreihundert Herrenhäuser niedergebrannt worden sein. An Personen haben sich die Aufständischen, soweit ich weiß, sagte Mrs. Ashbury, nie vergriffen. Offenbar war das Niederbrennen der Häuser das wirksamste Mittel zur Ausräucherung und Vertreibung der mit der verhaßten englischen Staatsmacht, sei es zu Recht oder zu Unrecht, identifizierten Familien. Autochthone Iren sehen wir nur als huschende Schatten vor der Feuerwand der von ihnen entfachten Brände.

Nach dem Tode von Mrs. Ashburys Mann sind die Überlebenden wie Asche und Staub einer vergangenen, irreal gewordenen Zeit. Im Ruin und ausgestattet mit einer völligen Lebensuntauglichkeit führen sie eine wirklich zauberhafte Existenz. Mrs. Ashbury beschäftigt sich mit dem Sammeln von Blumensamen in Papiertüten, und in solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der sie, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. Edmund, der Jüngste, baut seit seiner Schulentlassung an einem gut zehn Meter langen, dickbauchigen Schiff, that is not going to be launched, und die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina sitzen als wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und verbrachten jeden Tag ein paar Stunden damit, aus Unmengen von Stoffresten vielfarbige Kissenbezüge, Bettüberwürfe und dergleichen mehr herzustellen. Ein aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetztes, mit Seidenfäden besticktes oder vielmehr spinnennetzartig überwobenes Brautkleid von einer solchen Pracht und Vollendung, daß Selysses seinen Augen so wenig traute wie heute seiner Erinnerung. Wir denken an Roza, Lusia und Lea oder vielmehr Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere am Ende der Erzählung Max Aurach.

Als Mrs. Ashbury mit ihrer Geschichte zu Ende war, schien es mir, als bestünde die Bedeutung für mich in der unausgesprochenen Aufforderung, ich möge bei ihnen bleiben und ihr Tag für Tag unschuldiger werdendes Leben teilen. Daß ich es nicht getan habe – dieses Versagen zieht mir heute noch manchmal wie ein Schatten über die Seele. Die Unschuldigen, die büßen für die Schuld der Welt, es ist, als wäre uns die Passionsgeschichte in Irland auf eigenartige und märchenhafte Weise neu erzählt worden, und Selysses in dieser Geschichte ein Petrus, der nicht standhalten konnte.

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