Montag, 20. September 2010

Amerika

An Englishman in Newark

In Ambros Adelwarth erzählt Sebald von Amerika und den Amerikanern. Es ist ganz und gar die Erzählung eines deutschen, in England ansässigen Schriftstellers und in keiner Weise die Erzählung eines englischen Schriftstellers, der sich lediglich die deutsche Sprache nicht abgewöhnt hat. Vorgetragen wird aus einer deutschen Perspektive auf Amerika.

Die für die Generation des Selysses in Deutschland übliche Form des Bekanntwerdens mit Amerika und den Amerikanern ist die Besatzungsmacht, deren allgemeine Moral von den Einheimischen, wie man ihren halb hinter vorgehaltener Hand, halb lauthals gemachten Bemerkungen entnehmen konnte, als einer Siegernation unwürdig empfunden wurde. Die Weiber gingen in Hosen herum und warfen ihre lippenstiftverschmierten Zigarettenkippen einfach auf die Straße, die Männer hatten die Füße auf dem Tisch, und wann man von den Negern halten sollte, das wußte ohnehin kein Mensch. Gerade diese abschätzigen Bemerkungen sind es gewesen, die mich damals bestärkten in meiner Sehnsucht nach dem einzigen Ausland, von dem ich überhaupt eine Ahnung hatte. Es folgte eine kurze Phase der inneren Amerikanisierung seiner Person, während der ich streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen durchquerte, und die ihren Höhepunkt erreichte zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr, als ich die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an mir auszubilden versuchte, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. In der Folge verflüchtigten sich diese amerikanischen Träume allmählich und machten, nachdem die Schwundstufe erreicht worden war, einer bald gegen alles Amerikanische gerichteten Abneigung Platz. – Damit ist ein ambivalentes Amerikabild umrissen, das in der Folge um einiges angereichert, in seinem Charakter aber kaum noch verändert wird.

Den allerersten Kontakt hatte Selysses schon weit früher als Kind noch bei einem an die sechzig Personen umfassenden Familienfest, das zu einem nicht geringen Teil von nach Amerika ausgewanderten Personen bestritten wurde. Von einem Berührung mit Amerika kann gleichwohl nicht die Rede sein, denn kaum etwa hinterläßt die Tante Theres einen amerikanischen Eindruck, sie, die drei Wochen nach ihrer jeweiligen Ankunft in der Heimat noch aus Wiedersehenfreude weinte, und bereits drei Wochen vor der Abreise wieder vor Trennungsschmerz. Nur wenn sie länger als sechs Wochen bleiben konnte, gab es für sie in der Mitte ihres Aufenthalts eine gewisse, meist mit Handarbeiten ausgefüllte Beruhigung.


Bei Besuchen in der Heimat mögen die Ausgewanderten nicht als Amerikaner erscheinen, in Amerika sind sie mehr als nur ein Teil des Gesamtbildes, und das Interesse des Selysses gilt vor allem ihnen. Gleich nach seiner Landung in Newark legt er erste geologisch-archäologische Schichten des amerikanischen Lebens frei: Ich bin auf dem New Jersey Turnpike nach Süden in Richtung Lakehurst gefahren. Es ging hinaus in eine ebene Gegend, in der es nichts gab als Krüppelholz, verwachsenes Heidekraut und von ihren Bewohnern verlassene, teils mit Brettern vernagelte Holzhäuser, umgeben von zerfallenen Gehegen und Hütten, in denen bis in die Nachkriegszeit hinein Millionen von Hühnern gehalten wurden, die unvorstellbare Abermillionen von Eiern legten für den Markt von New York, bis neue Methoden der Hühnerhaltung das Geschäft unrentabel machten und die Kleinhäusler samt ihrem Federvieh verschwanden.

In tiefere Schichten des Einwanderungslandes Amerika führen die Erzählungen des Onkels: Das Schiff war schon langsamer geworden. Ich spürte eine schwache Brise an meiner Stirn, und indem wir der Waterfront uns annäherten, wuchs Manhattan vor uns höher und höher aus dem jetzt von der Sonne durchdrungenen Nebeln heraus. In der Soda- und Seltzerfabrik Seckler & Margarethen nicht weit von der Auffahrt zur Brooklyn Bridge habe ich dann Kessel und Geschirre verschiedener Größe aus rostfreiem Stahl angefertigt. Dann hörte ich, sie brauchen Blechschmiede wie mich, und am nächsten Morgen bin ich schon zuoberst auf dem Turm gestanden. Ich habe in der Folge noch viel zu tun gehabt in den Gipfelregionen der Wolkenkratzer und naturgemäß durch das Herumturnen zweihundert bis dreihundert Meter über der Erde gut verdient. Und dann habe ich mir beim Schlittschuhfahren im Central Park das Handgelenk gebrochen, und das luftige Leben war aus.

In andere Bezirke des amerikanischen Lebens, in die Welt des Großen Gatsby und des Letzten Tycoons, dringt Ambros Adelwarth vor: Der Ambros war Majordomus und Butler bei den Solomons, die am Rock Point auf der äußersten Spitze von Long Island einen großen, auf drei Seiten von Wasser umgebenen Besitz hatten und zusammen mit den Seligmanns, den Loebs, den Kuhns, den Speyers und den Wormsers zu den reichsten jüdischen Bankiersfamilien von New York gehörten. Mit dem jungen Cosmo Solomon, der zweifellos zum Exzentrischen neigte, hielt Adelwarth sich viel an Plätzen wie Saratoga Springs und Palm Beach, noch mehr aber an europäischen Plätzen wie Deauville und dann auch im Orient auf, bis sie dann zum Schluß auf den nordamerikanischen Kontinent zurückkehren und den ganzen Sommer in dem berühmten Banff Spring Hotel verbrachten. Cosmo sah viele Stunden lang zum Turmfenster hinaus auf die ungeheuren ringsum sich ausdehnenden Tannenwälder und den gleichmäßig aus unvorstellbarer Höhe niedertaumelnden Schnee. Er hielt sein Taschentuch zusammengeballt in der Faust und biß wiederholt vor Verzweiflung in es hinein. Als es finster wurde draußen, legte er sich auf den Boden, zog die Beine an den Leib und verbarg das Gesicht in den Händen. – In Scott Fitzgeralds Augen waren die Reichen different, und Hemingway hatte ihm zugestimmt mit den lakonischen Worten: Yes, they have more money. Cosmo Solomon ist wohl reicher noch als der Hiob des Buches, das in der Heiligen Schrift zumeist vor dem Buch der Sprüche Salomos positioniert ist, und, obwohl ihm sichtbar nichts genommen wird, ärmer noch als dieser Ärmste der Bibel und ganz untröstlich.


Weder an den Rändern, wo die Neuankömmlinge kämpfen um ihren Einlaß zum gelobten Land, noch im kapitalistischen Zentrum trifft Selysses so recht auf die Bevölkerungsgruppe, in der wir - geschult vor allem durch die Hollywoodfilme, die erst in jüngerer Zeit eine Art ethnischen Proporz eingeführt haben – ohne viel Überlegung die eigentlichen Amerikaner gesehen haben, die Weißen Angelsächsischen Protestanten also, die Ureinwohner anstelle der Ureinwohner, und das, obwohl die Reisen an die amerikanische Ostküste und also in ihr angestammtes Reich führen. Der greise Portier des Guesthouse Ithaca, der aus dem Inneren des offenbar schon schlafenden Hauses herbeikam und so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen, mag zu dieser Bevölkerungsgruppe gehören, wirft aber kein erhellendes Schlaglicht auf sie. Der Dr. Abramsky, der die Narrenburg Haus Samaria, diesen extravaganten Bretterpalast, dem Mäusevolk, den Holzbohrern, den Klopfkäfern und Totenuhren überantwortet hat, mag weiß und vielleicht auch protestantisch sein, aber eher nicht angelsächsisch. Auch die prominenten Einwandergruppen der Iren und Italiener bleiben unberücksichtigt. Ein kurzer aber schöner und unvergeßlicher Blick fällt dagegen auf die schwarze Bevölkerung des Landes: Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen.

Eine schnell aufkeimende Freundschaft im unaufhaltsamen Vorwärtsdrang und abgesichert durch zwei trennende Glasscheiben, vielleicht ist das ein geeignetes Bild für das Verhältnis der Europäer zu den Amerikanern. Sebalds Amerika ist mehr als fragmentarisch und umso beeindruckender. Amerika ist anders, hier trifft sich die Neuzeit mit der Vorzeit. Noch in der Nähe des Flughafengeländes sah ich über einem dort aufgeworfenen wahren Riesengebirge aus Müll einen Jumbo wie ein Untier aus ferner Vorzeit schwerfällig in die Luft sich erheben. Er zog einen schwarzgrauen Rauchschleier hinter sich her, und einen Augenblick lang war mir, als habe er die Schwingen bewegt.


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