Mittwoch, 15. September 2010

Selysses liest

Si hortum in bibliotheca habes

Wollte man nach einer Metapher für Sebalds Gesamtwerk suchen, könnte man auf Stanisław Lems lebendigen Stern Solaris verfallen, lebendig in einem uns nicht bekannten oder verständlichen Sinne. Das rätselhafte Plasma würde im Fall von Sebalds Prosa aus der Menge der für die Texte ver- und in sie eingearbeiteten Bücher bestehen. Keinen Zweifel kann es geben, daß dieses Plasma lebt, wo wären uns Stendhal oder Kafka, Conrad oder Rousseau je lebendiger entgegengetreten. Auch verstellt der Blick auf die Bücherwelt nicht, wie ein ständig lauernder Verdacht es will, den auf die Welt. Wenn die Augen auftauchen aus der verborgenen Welt der Texte und sich nach außen richten, werden Eindrücke mystischer Tiefe gewonnen, die dem immer nur auf das Reale Schauenden eher verschlossen bleiben: Einmal, als wieder ein Blitz über den Himmel fuhr, blickte ich herab in den weit unter mir liegenden Garten des Hotels des Hotels und sah dort im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide ein Entenpaar, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers. Mit solch vollkommener Klarheit ist dieses Bild auf einen Sekundenbruchteil aufgetaucht aus der Dunkelheit, daß ich jetzt noch jedes einzelne Weidenblatt, die feinsten Schattierungen im Gefieder der beiden Vögel, ja sogar die Punkte der Poren der über ihre Augen gesenkte Lidhaut zu sehen vermeinte. – Den Bruchteil eines Augenblick scheint es, als sei vor dem Hintergrund all der Bücher auch die Welt lesbar geworden, aber ihr Text bleibt mehr als rätselhaft, wir können nicht hinter die über ihre Augen gesenkte Lidhaut schauen.

Den Insassen von Lems Raumstation gelingt es nicht, das Geheimnis von Solaris aufzuklären. Die kleinen Sebaldstücke mögen in ihrer Gesamtheit sich eine ähnlich mutige und hoffnungslose Aufgabe wie die Solarisforscher stellen, hier, an dieser Stelle, ist das Thema weitaus schlichter, es geht um im Werk auftretende Leser und Leseszenen.

Selysses stammt aus einem nicht lesenden Elternhaus: Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. Selysses findet das Tor zum Buch auf dem kindgerechten Weg des Betrachtens von Bilderbüchern, auch wenn es sich nicht um eigens für Kinder entworfene handelt: Ich habe mich auf einen der Gartensessel an den grünen Blechtisch gesetzt und den alten Atlas angeschaut. Da gab es ein Blatt, auf dem die größten Ströme und die höchsten Erhebungen der Erde ihrer Länge beziehungsweise ihrer Höhe nach angeordnet waren, und es gab wunderbar kolorierte Karten, sogar von den entferntesten, kaum erst entdeckten Erdteilen. Lese-, Welt und Reiselust, bestimmende Merkmale des Selysses, sind in eins erweckt. Ganz ähnlich frühe Lektüreerlebnisse hat Dafydd Elias, der jungen Austerlitz: Jeden Quadratzoll der mir gerade in ihrer Vertrautheit unheimlich erscheinenden Abbildung durchforscht. Was damals auch in mir vorgegangen sein mag, das Lager der Hebräer in dem Wüstengebirge war mir näher als das mir mit jedem Tag unbegreiflicher werdende Leben in Bala.

Für Selysses ist neben der Textlektüre die Bildlektüre eine lebenslange Leidenschaft geblieben, in der er, exerziert sowohl an trivialen Photographien und Postkarten als auch an Bildwerken der Hochkunst, eine unübertroffene Meisterschaft entwickelt hat. Den Zugang zur Textliteratur findet Selysses nicht bei den in glatter Reihe im Aufsatz des Schranks aufgestellten Shakespeare, Schiller, Hebbel und Sudermann im Elternhaus, sondern auf den verschlungenen Wegen der Bibliothek seiner Tante: In einem Regal, zu dem es mich gleich hinzog, lehnte, in sich zusammengesunken, wie es den Anschein hatte, die bald an die hundert Bände umfassende und mir in zunehmendem Maße wichtig werdende Bibliothek der Mathild. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert, neben Reiseberichten aus dem hohen Norden, neben Lehrbüchern der Geometrie und der Baustatik und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es da zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und dem frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein.


Ähnlich wie die Ziellosigkeit des Reisens, der wir uns gebannt anschließen in den Schwindel.Gefühlen oder den Ringen des Saturn, ist offenbar auch die Ziel- und Planlosigkeit des Lesens Voraussetzung, freilich längst nicht Garantie dafür, auf Spuren wahren Lebens zu stoßen. Die Steigerung könnte bestehen im planlosen Lesen während einer ziellosen Reisen, das uns wiederum in den Schwindel.Gefühlen mehrfach vor Augen geführt wird. Keinen Augenblick zweifeln wir beim Lesen der Werke Sebalds, daß wir uns in einem Magnetfeld des Wahren befinden, an- und aussprechen aber läßt sich diese Wahrheit nicht.

In einer der Bars an der Riva blätterte ich in Grillparzers Tagebuch einer Reise nach Italien. Ich hatte es in Wien gekauft, weil es mir unterwegs nicht selten so geht wie Grillparzer. Wie er finde ich an nichts Gefallen und bin von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht. – Das lustlose Blättern beim plan- und lustlosen Reisen als ultimative Form der Wahrheitssuche: soweit wollen wir den spekulativen Charakter der Überlegungen nicht treiben, denn wir stoßen durchaus auch auf anderes.

Auf der Fahrt nach Mailand wird Selysses zum Teilnehmer eines bezaubernden Kammerstücks, besser noch: Abteilstücks des Lesens: Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Ich versuchte mich also selber zu üben in einer ähnlichen Bescheidenheit und holte den Beredten Italiener heraus, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache.

Auf der Fahrt im Zug entlang des Rheins trifft Selysses auf die fraglos eindrücklichste Leserin im Gesamtwerk: Die junge Frau war, kaum hatte sie Platz genom­men und in ihrer Ecke sich eingerichtet, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer mir unbekannten Autorin namens Mila Stern. Der Zug rollte hinein nach Bonn, wo sie, ohne daß ich noch etwas zu ihr hätte sagen können, ausgestiegen ist. Seither habe ich immer wieder und bislang vergebens versucht, wenigstens das Buch Das böhmische Meer ausfin­dig zu machen; es ist aber, obschon zweifellos für mich von der größten Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, es ist nirgends verzeichnet. - Kennt nicht jeder Leser diesen Traum von dem einen Buch, das, könnte man es nur ergreifen und festhalten, alle Fragen lösen und jedes Glück möglich machen würde; sind nicht die großen Buchreligionen eine Verlängerung nur und Verstetigung dieses Traums vom Lesen?

Wenn hier also die Sehnsucht nach Erleuchtung und Erlösung durch das Buch anklang, so enden die Schwindel.Gefühle auf dem gegenteiligen Ton der Verdammnis: Ich blätterte ein wenig in der Dünndruckausgabe des Tagebuchs von Samuel Pepys, die ich am Nachmittag erstanden hatte. Willkürlich las ich hier ein Stückchen und da in dem über eineinhalbtausend Seiten sich ausbreitenden Zehnjahresbericht, bis der Schlaf mich ankam und ich dieselben paar Zeilen wieder und wieder entziffern mußte, ohne sie doch verstehen zu können. Dann träumte mir. Als ein fast vergangenes Echo kehrten in diese atemlose Leere die Worte zurück – Fragmente aus dem Bericht über das große Feuer von London. Ich sah es wachsen mehr und mehr. Die Kirchen, Häuser, Holz und Mauersteine, alles brennt zugleich. Ist dies die letzte Stunde? Und andern Tags ein stiller Ascheregen – westwärts, bis über Windsorpark hinaus. – 2013 – Ende -. Selysses prognostiziert das Weltenende für das Jahr 2013, aber er hatte nur recht achtlos in einem alten Buch geblättert, und die Müdigkeit hatte ihn übermannt, allzu sehr müssen uns seine dunklen Aussichten nicht belasten.


Selysses wird uns immer wieder als berufsmäßig Lesender und Schreibender dargestellt und als solcher liest er natürlich nicht nur zum Zeitvertreib während der Reise, sondern auch an speziell für die Lektüre vorgesehenen Orten. Die Arbeit in der Bibliothek der Stadt Verona ähnelt allerdings nicht wenig dem Blättern im alten Atlas aus der Kinderzeit: Obzwar eine Notiz am Portal dem Publikum avisierte, daß die Bibliothek während der Ferialmonate geschlossen sei, stand die Eingangstür doch halb offen. So saß ich denn bald in der Nähe eines der Fenster und blätterte in den Folianten, in welche die Veroneser Zeitungen des Jahres 1913 gebunden waren. Die Ränder waren so brüchig geworden, daß man mit Vorsicht die Seiten umwenden mußte. Allerhand Stummfilmszenen begannen sich nun vor mir abzuspielen.

Anders schon geht es in der alten Pariser Nationalbibliothek zu, der Ernst und die Fragwürdigkeit des Lebens mit und von den Büchern tritt hervor, die Gefahr des Versinkens im Plasma der Texte: Unter der Woche ging ich tagtäglich in die Nationalbibliothek in der rue Richelieu, wo ich meist bis in den Abend hinein in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an meinem Platz gesessen bin und mich verloren habe in die kleingedruckten Fußnoten der Werke, die ich mir vornahm, in den Büchern, die ich in diesen Noten erwähnt fand, sowie in deren Anmerkungen und so immer weiter zurück in einer Art von ständiger Regression. Nicht selten beschäftigte mich damals die Frage, ob ich mich in dem von einem leisen Summen, Rascheln und Räuspern erfüllten Bibliothekssaal auf der Insel der Seligen oder, im Gegenteil, in einer Strafkolonie befand. – Und doch gilt es diese ambivalente Welt entschlossen zu verteidigen gegen den fatalen Angriff auf sie, den die neue Pariser Nationalbibliothek darstellt, ein in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisendes und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegenstehendes Gebäude. Die vier gläsernen Türme, denen man in einer an Zukunftsromane erinnernden Geste die Bezeichnungen, La tour des lois, La tour des temps, La tour des nombres und La tour des lettres gegeben hat, machen auf den, der an ihren Fassaden hinaufblickt und den größtenteils noch leeren Raum hinter den geschlossenen Lichtblenden erahnt, tatsächlich einen babylonischen Eindruck.

Intimer als in den großen Bibliotheken läßt sich das Leben mit den Büchern in den Arbeitszimmern der Schreibenden beobachten, die, ähnlich wie das Studio des Malers Aurach, einen eigenen, hier ganz der Lese- und Schreibarbeit geschuldeten Charakter annehmen: Oft, zu Ende des Tages habe ich mich mit Janine über die Weltauffassung Flauberts unterhalten in ihren Büro, in dem solche Mengen von Vorlesungsnotizen, Briefen und Schriftstücken jeder Art herumlagen, daß man meinte, mitten in einer Papierflut zu stehen. Auf dem Schreibtisch war eine richtige Papierlandschaft mit Bergen und Tälern entstanden. Auch dem Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden auf der es fortwährend aus halber Höhe herabsank, wieder die Wände emporzusteigen, die bis zum oberen Türrand bedeckt waren mit einzelnen, jeweils nur an einer Ecke mit einem Reißnagel befestigten, teilweise dicht übereinandergehefteten Papierbögen und Dokumenten. – Hier nun ist Solarischarakter der Bücherwelt sozusagen nach sichtbar außen gekehrt und zu verfolgen in den eigengesetzlichen, man weiß nicht recht ob bedrohlichen oder fröhlichen, allem Anschein nach jedenfalls von der menschlichen Hand und vom menschlichen Wollen unabhängigen Bewegungen des Papiers.

Si hortum in bibliotheca habes, deerit nihil – getreu dem Vorhaben, auch darüber zu berichten, was nicht geschrieben steht, stellen wir fest, daß wir Selysses kein einziges Mal lesend in seinem Heim zu Gesicht bekommen; allerdings bekommen wir ihn dort auch in keiner anderen Weise zu Gesicht, fast müssen wir annehmen, er ist heimatlos, wenn nicht wiederholt berichtet würde, er sei aufgebrochen von zuhaus zu der einen oder anderen Reise. Im Hotel Sole in Limone aber brachte Luciana ihm auch, wie er es von ihr erbeten hatte, in regelmäßigen Abständen einen Express und ein Glas Wasser. Meistens blieb sie dann eine Weile bei ihm stehen und knüpfte eine kleine Unterhaltung an, in deren Verlauf sie ihre Augen über die beschriebenen Blätter gleiten ließ. Einmal fragte sie ihn, was er jetzt gerade zu Papier bringe, worauf er ihr sagte, in zunehmenden Maße habe er das Gefühl, es handle sich um einen Kriminalroman. Nicht nur Limone käme vor in der Geschichte, sondern auch das Hotel und sogar sie selber. Daraufhin zog sie sich geschwind hinter die Theke zurück, wo sie ihre Arbeit mit der ihr eigenen zerstreuten Genauigkeit erledigte. - In ihrer stillen Heimeligkeit, nimmt man die als Tertium Comparationis, übertrifft die Szene noch die Vorstellung einer Biblioteca hortusque.

Später ist es ihm dann gewesen, als spürte er ihre Hand auf seiner Schulter, und schließlich war es ihm, als seien er und Luciana von dem Brigadiere getraut worden – wohl kaum der Traum von einem Haus mit Bibliothek mit Garten, sondern eher der ganz und gar flüchtige vom Ausscheiden aus der durchaus ambivalenten Welt des Lesens und Schreibens und der Rückkehr in die Welt der Nichtleser. Das freilich ist ein mehr noch als flüchtiger Anflug, und ähnlich wie die Berührung der Hand an der Schulter ist nicht sicher, ob er tatsächlich stattgefunden hat.

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