Dienstag, 17. Februar 2009

Bauten

Dw i'n credu fod yr adeilad 'ma'n warth

Liest man Austerlitz als ein Kompendium des Bauens, so ist man nicht gravierender vom Weg der Wahrheit abgekommen, als wenn man in dem Buch einen Roman über den Holocaust sieht. Austerlitz, der Held des Buches, ist Dozent am Londoner Kunsthistorischen Institut, mit dem Schwerpunkt Architektur, speziell Bahnhofsarchitektur, und somit vom Fach. Seinen eher unfachmännischen, persönlichen Standort innerhalb der Architektur umreißt er schon an einer sehr frühen Stelle des Buches: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle. – Weniger eine Einschätzung der Architektur als ein Angriff auf die Architektur und die Bautätigkeit des Menschen, eine Zurückweisung der menschlichen Existenz- und Erscheinungsweise auf der Erde, offenbar nahe der Einschätzung Ciorans, nie habe es geschehen dürfen und es sei die größte Katastrophe, daß der Mensch über den Stand des Hirten hinauswuchs. Im Laufe der Jahrhunderte aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsene Stadtagglomerationen, fahle Kalksteingebilde, eine Art vom Exkreszenz, die mit ihren konzentrisch sich ausbreitenden Verkrustungen hinausreicht bis an die im Dunst jenseits der Vorstädte verschwimmende äußerste Peripherie.

Eine Vielzahl schwerbewachter Gebote bestimmt den demokratischen Alltag, einige sollen sowohl für uns Menschen als auch für den Roman gelten. Das erste Gebot lautet: Der Mensch ist immer der Mittelpunkt, alles andere immer nur Zutat, ein anderes: Wenn es um Auschwitz oder Theresienstadt geht oder darauf zusteuert, kann alles andere nur mehr als nebensächlich sein. Ihre Apotheose finden die Gebote im Ehrentitel des Humanisten, den ausnahmslos jeder anstreben muß. Liest man Austerlitz unter derartigen Prämissen, so mag man glauben, es würde nur die gestohlene Geschichte der Susi Bechhöfer nacherzählt und der Autor vertue sinnlos zweihundert Seiten, bevor er zum Thema kommt, das er dann verfehlt. Demgegenüber ist zum einen Sebalds poetologische Selbstspiegelung in dem italienischen Renaissancemaler Pisanello hervorzuheben, wonach allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Blatt und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird – keine Zutat, nichts Nebensächliches also - und zu anderen die immer wieder im Werk aufscheinende poetischen Sehnsucht nach einer vom Menschen befreiten Welt; Sehnsucht nach vollständiger Vernichtung im Kontrast zur Sehnsucht der vollständigen Erinnerung. Eine prekäre Synthese leistet das hydrotechnische Bauwerk des Stausees von Vynwry. Einerseits hat der Stausee die Orte der Kindheit überflutet und vernichtet und sie andererseits wie unter einer Glocke aus dunklem Glas bewahrt: Drunten in einer Tiefe von vielleicht hundert Fuß unter dem dunklen Wasser stünde nicht nur sein Vaterhaus allein, sondern noch mindestens vierzig andere Höfe und die Kirche zum heiligen Johann von Jerusalem, drei Kapellen und drei Bierschenken. Die in mir entstandene Vorstellung von der subaquatischen Existenz der Bevölkerung von Llanwddyn hatte auch etwas mit dem Album zu tun und vor allem der Photographie des kleinen Mädchens darin, das mit dem kleinen Hund auf dem Schoß auf einem Sessel im Garten sitzt, und wurde mir so vertraut, als lebte ich bei ihnen auf dem Grund des Sees.

Die Erstveröffentlichung von Nach der Natur war bebildert mit Photographien einer in den Glückszustand der Menschenlosigkeit versetzten Erde, im Prosawerk treten immer wieder Vernichtungsvisionen auf, große Brände etwa, und mehrfach wird aus der Luft, vom Flugzeug aus eine mit den baulichen Artefakten des Menschen bedeckte Landschaft dargestellt, in der der Mensch selbst nicht zu erblicken ist. Der Mensch verbaut sich die Welt und baut sich aus der Welt: In geraden Linien und leichten Bögen verliefen die Auto- und Wasserstraßen und die Trassen der Eisenbahn zwischen den Weiden und Waldparzellen, Bassins und Reservoiren hindurch. Eingebettet in das ebenmäßige Gewebe, lag als Überrest aus früherer Zeit eine von Bauminseln umgebene Domäne. Ein Traktor kroch, wie nach einer Richtschnur, quer über einen bereits abgeernteten Acker, nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Gleich ob man über Neufundland fliegt oder bei Einbruch der Nacht über das von Boston bis Philadelphia reichende Lichtergewimmel, es ist immer als gäbe es keine Menschen, als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. - Vor allem diese Sicht von oben, die ausschließlich die Artefakte, die Bebauung zu erkennen gibt, ist bestimmend für das Verständnis von Austerlitz, auch wenn man sich in diesem Buch meistens am Boden befindet, nicht umsonst aber hat es in Gerald Fitzpatrick seinen eigenen Flieger.

Gleich schon auf der ersten Seite überfällt das Austerlitzbuch uns geradezu mit Architektur. Der Antwerpener Bahnhof, errichtet unter dem Patronat König Leopolds II., wird überblendet mit dem nahegelegenen Nachtzoo, dem Nocturama, die Bahnhofsmenschen werden zu Lemuren, ein unterweltliches Dämmern erfüllte den Saal, in dem weit auseinander, reglos und stumm, ein paar Reisende saßen. In der Pracht Antwerpens tut sich das Herz der Finsternis auf, das Buch, das uns zum größten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts führen beginnt mit einer verdeckten Evokation des größten Verbrechens des 19. Jahrhunderts, des belgischen Afrikaverbrechens, wie es in den Ringen des Saturn ausgeführt ist: Die Instrumente der Ausbeutung sind Handelskompanien wie die Société Anonyme pour le Commerce du Haut Congo, deren bald legendären Bilanzen beruhen auf einem von sämtlichen Aktionären und sämtlichen im Kongo tätigen Europäern sanktionierten Zwangsarbeits- und Sklavensystem. Ein Stück weit außerhalb des besiedelten Areals stößt man auf einen Platz, an dem die von der Krankheit Zerstörten und von Hunger und Arbeit Ausgehöhlten zum Sterben sich niederlegen. Wie nach einem Massaker liegen sie da in dem gräulichen Dämmer auf dem Grunde der Schlucht. Offenbar hält man diese Schattenwesen nicht auf, wenn sie sich davonschleichen in den Busch. Von Belgien nahm die endgültige Verdunkelung der Welt ihren Ausgang, und ihre Spuren sind nicht zu tilgen im Antwerpener Bahnhof, werden vielmehr nur immer wieder bestätigt, das heraldische Motiv des Bienenkorbs im Pantheon verkörpert nicht etwa den Fleiß als eine gemeinschaftliche Tugend, sondern das Prinzip der Kapitalakkumulation. Das Austerlitzbuch wird sich, abgesehen von Licht durch eine für Augenblicke nur aufreißende Wolkendecke, nicht mehr aufhellen.

Aber die Verdunkelung ist natürlich keine belgische Angelegenheit im naturalistischen Sinn, sie hat unzählige in den Bauten der Menschen sedimentierte Ursprungsorte. Die Erzählung geht vom Antwerpener Bahnhof einigermaßen abrupt über zum nun schon uneingeschränkt Macht und Gewalt geschuldeten Wahnwitz des Festungsbaus. In ihrem gegenwärtigen Zustand ist die Festung Breendonk, stellenweise von offenen Schwären überzogen, aus denen der rohe Schotter hervorbricht, und verkrustet von guanoartigen Tropfspuren und kalkigen Schlieren, eine einzige monolithische Ausgeburt der Häßlichkeit und der blinden Gewalt. Nur folgerichtig, daß die Nazis hier eine ihrer Folterkammern unterhielten. Der erste Teil der belgischen Eingangssequenz des Austerlitz schließt mit der Flucht Gastone Novellis zu den kleinen kupfrig glänzenden Leuten in Südamerika, die ganz offenbar keine Bauten im uns gewohnten Sinne unterhalten und insofern, anders als wir, die wir dazu neigen unsere Unternehmungen voranzutreiben über jede Vernunftgrenze hinaus, den Vögeln ähneln, die Jahrtausende hindurch immer dasselbe Nest bauen.

Der kurze zweite Teil der belgischen Eingangssequenz des Austerlitzbuches ist dem zuvor bereits als Kontrastmittel zur Feldhütte verwendeten menschenleeren Brüsseler Justizpalast gewidmet: Türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt. Viele Stunden sei er durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte. Die Episode verläuft sich in skurrile Einzelheiten: In dem Justizpalast hätten, aufgrund seiner tatsächlichen Vorstellungskraft übersteigenden Verwinkelung immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank sich einrichten können, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein. - Für Augenblicke ist Sebald, offenbar einer entsprechenden Neigung folgend, immer wieder ein durchaus fröhlicher Weltentvölkerer.

Skurrilitäten dieser Art fehlen dann gänzlich bei der Darstellung des ebenfalls so gut wie menschenleeren und auch selbst kaum sichtbaren Stadtbilds von Theresienstadt. Terezín duckt sich so tief in die feuchten Niederungen am Zusammenfluß der Eger mit der Elbe hinein, daß weder von den Hügeln um Leitmeritz noch aus unmittelbarer Nähe mehr von der Stadt zu sehen ist als der Brauereischornstein und der Kirchturm. Das Auffälligste und mir bis heute Unbegreifliche an diesem Ort war für mich von Anfang an seine Leere. Es dauerte nahezu eine Stunde, bis ich drüben auf der anderen Seite des Karrees den ersten Menschen erblickte, eine vornübergebeugte Gestalt, die sich unendlich langsam an einem Stock fortbewegte und doch, als ich für einen Moment nur die Augen von ihr abwandte, auf einmal verschwunden war. War schon die Verlassenheit der gleich dem idealen Sonnenstaatswesen Campanellas nach einem strengen geometrischen Raster angelegten Festungsstadt ungemein niederdrückend, so war es mehr noch das Abweisende der stummen Häuserfronten, hinter deren blinden Fenstern, sooft ich auch an ihnen hinaufblickte, nirgends eine einziger Vorhang sich regte. Seine ultimative perverse Vollendung findet der Sonnenstaat im Lagerghetto Theresienstadt, dessen klarer und einleuchtender Plan im Buch doppelseitig abgebildet ist, der böhmische Luftkurort namens Theresienbad mit schönen Gärten, Spazierwegen, Pensionen und Villen. - Wir müssen abbrechen, in den kleinen Sebaldstücken geht es nicht um Interpretation oder Auslegung in irgendeinem kompletten Sinne, immer werden nur spezifische Stellen der Textur für einen kurzen Augenblick ans Licht gehoben und überbelichtet. Wenn Austerlitz von den vier ausgebrannten Wänden seines Gehirns spricht, ist die Vertreibung des Menschen aus dem Stein abgeschlossen, er ist zu Stein geworden, ähnlich wie die Menschen immer ununterscheidbarer werden von den Fahrrädern in Flann O’Briens Third Policeman, ein Buch, das seinen Schauplatz bekanntlich in der Hölle hat, auch wenn sich das erst auf der letzten Seite offenbart.

Die umbaute Leere der weltlichen Macht und des nicht nur verfehlten insofern als nicht erreichten, sondern als Idee bereits grundlegend fehlgehenden Sonnenstaates der Frühaufklärung. Sakralbauten sind in Austerlitz, anders als in anderen Büchern Sebalds, betont abwesend, sie huschen gelegentlich vorüber, bleiben aber Momente des Hintergrunds. Jeder Kulturtourist kennt, unabhängig vom Grad seiner Gläubigkeit oder Ungläubigkeit, den Unterschied zwischen dem Besuch eines Palastes und dem Besuch einer Kathedrale. In den Palästen spürt er den öden Sog des Nichts. Den Dombaumeistern lag der Gedanke, sie könnten eine Leere umbauen, ferner als irgendetwas sonst, und ihre Gewißheit ist in Jahrhunderten nicht zu vertreiben aus den Mauern und Fenstern. Läßt man Ciorans ketzerische Bemerkung stehen, wonach Gott Johann Sebastian Bach alles zu verdanken hat, ist sie auf jeden Fall zu ergänzen: Bach und den Kathedralen.

In der gesamten belgischen Eingangssequenz, die abschließt mit dem Übersetzen auf einer Fähre nach England, halten sich Selysses und Austerlitz in umbauten Räumen auf. Bauten wiederum haben bei Sebald eine ständige und starke Tendenz, sich in Schiffe zu verwandeln. Die großen Hotelpaläste in Marienbad, Pacifik, Atlantic, Metropole, Polonia und Bohemia mit ihren Balkonrängen, Ecktürmen und Dachaufbauten tauchen aus dem Frühnebel auf wie Ozeandampfer auf einem dunklen Meer; durch das aus der Höhe herabsinkende Zwielicht hindurch glaubte man auf den Galerierängen des Prager Staatsarchivs eine dichtgedrängte Menschenmenge zu sehen, in welcher einige die Hüte schwenkten oder mit dem Taschentuch winkten, so wie einstmals die Passagiere an Bord eines auslaufenden Dampfers; auf dem Vorplatz der Pariser Bibliothek wiederum meint man, an Tagen, an denen der Wind, was nicht selten vorkommt, den Regen über diesen gänzlich ungeschützten Plan treibt, durch irgendein Versehen auf das Deck der Berengaria oder eines anderen Ozeanriesen geraten zu sein; und auch Industriebauten geraten ins Schwimmen: Wie Schiffe trieben in der Düsternis die Schemen der Kraftwerke, in denen die Braunkohle glühte, kalkfarbene Quader, Kühltürme mit gezackten Kronen, hochaufragende Schlote. So kann, umgekehrt, denn auch die Fähre nach England als weiteres Gebäude gelten. Das Flagschiff der Sebaldflotte aber ist die Barke des Jägers Gracchus, die die Einfahrt zum Tod verpaßt hat.

Virginia Woolf stellt in zwei ihrer Romane, The Years und The Waves, jedem Menschenkapitel ein kleines Kapitel aus der menschenfreien Welt voran. Im Austerlitzbuch dominiert in der Eingangssequenz das verbaute Mineral gegenüber den handelnden Personen, und in der Schlußabrechnung des Buches stellt sich allenfalls ein Pari ein. The story of the Fisherman and his Wife was like the bass gently accompanying a tune, which now and then ran up unexpectedly into the melody. Der Baßpart der Bauten in Austerlitz ist noch um einiges bedeutender als der des Grimmschen Märchens in Mrs. Ramsays Bewußtseinsmusik in Virginia Woolfs vielleicht schönstem Buch.

Es besteht die Absicht, weitere Gebäude näher zu betrachten, denen im Austerlitzbuch eine Hauptrolle übertragen wurde, die uns auf der Ebene handelnder Personen entgegentreten. Hauptrollen werden nur Gebäuden anvertraut, die für eine Fragwürdigkeit stehen, die entweder und seltener nur in ihnen selbst liegt oder aber in dem, was sie vertreten oder in beidem. So wird von dem Ort der geringsten Fragwürdigkeit im Buch, Andromeda Logde, nur knapp verzeichnet, daß es ein zweistöckiges, aus hellgrauen Ziegeln gemauertes Haus ist. Das unglückliche Haus in Bala, in dem Austerlitz den zweiten Teil seiner Kindheit verbracht hat, ist demgegenüber schon mit mehr Einzelheiten ausgestattet: es ist zu groß, im oberen Stock gab es mehrere Zimmer, die abgesperrt waren jahraus und jahrein. Ausgehend von der Einschätzung, daß nur Gebäude unter dem Normalmaß der domestischen Architektur ohne Schuld sein können, ist ein zu großes Wohnhaus in jedem Fall auf der falschen Seite. Das allen baulichen Vorbehalten entzogene Geburtshaus in der Prager Šporkova Nr. 12 wird nicht als Ganzes, sondern nur in Fragmenten und Details erfaßt, der gleich neben der Mauer eingelassene Blechkasten für das Elektrische mit dem Symbol des herabfahrenden Blitzes, die achtblättrige Mosaikblume, taubengrau und schneeweiß, die sanft ansteigende Stiege, die haselnußförmigen Eisenknöpfe in bestimmten Abständen auf dem Handlauf des Geländers – lauter Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge.

Die markantesten Gebäudeindividuen in Austerlitz sind zweifelsohne in der Gruppe der Bahnhöfe zu finden, der Antwerpener Bahnhof, die Liverpool Street Station in London, der Wilsonbahnhof in Prag, die Pariser Bahnhöfe und insbesondere natürlich der Austerlitzbahnhof. Wollte man sich weitergehend kaprizieren und Austerlitz als einen Bahnhofsroman verstehen, läge man immer noch nicht entscheidend schiefer als mit einer Kennzeichnung als Holocaustroman.

Während beim Antwerpener Bahnhof der gegenwärtige Blick auf die Architektur und der auf den historischen Gehalt sich in etwa die Waage halten, dominiert bei der Liverpool Street Station der in einer wahrhaft grandiosen Erzählschleife aufgedeckte archäologische Hinter- und Untergrund, der für Austerlitz wiederum die entscheidende Erinnerung an sein Eintreffen in England und seine Kindheit in Prag freigibt, ein paar Wochen höchstens, ehe der fragliche Ort im Zuge der Umbauarbeiten für immer verschwand. Ausgangspunkt ist Austerlitz’ Wohnung in der Alderney Street in einer erzählerisch für ihn eigens entvölkerten Gegend. Ich erinnere mich an einen grasgrünen Kiosk, in dem ich, obwohl die Waren offen auslagen, keinen Verkäufer sah, an den von einem gußeisernen Zaun umgebenen und, wie man meinen konnte, von niemand je betretenen Rasenplatz. Man sieht förmlich den sich seine Szenerie vorbereitenden Filmregisseur Antonioni am Werk. Die äußere Leere setzt sich fort in die geräumige, so gut wie ausstattungsfreie Leere der Wohnung, in der Austerlitz eine Schreib- und Sprachaphasie erlebt und, in seinem Fall naturgemäß bauwerkgestützte Selbstmordphantasien: Nur der eine Gedanke war noch in meinem Kopf, ich müsse mich vom Treppenabsatz im dritten Stockwerk eines bestimmten Hauses in der Great Portland Street über das Stiegengeländer hinunterstürzen in die dunkle Tiefe des Schachts. Schlaflosigkeit und nächtliche Wanderungen durch London führen immer wieder zur Liverpool Street Station - vor seinem Umbau einer der finstersten und unheimlichsten Orte von London, eine Art Eingang zur Unterwelt - und zu stundenlangen Nachsinnen über ihr Entstehen. Ursprünglich Sumpfwiesen, auf denen die Londoner in kalten Wintern Schlittschuh liefen wie die Antwerpener auf der Schelde, dann Standort des Klosters des Ordens der heiligen Maria von Bethlehem mitsamt einem Krankenspital für verstörte und sonst in Elend geratene Personen. Später dann, beim Bau des Bahnhofs im neunzehnten Jahrhundert und bei seinem Umbau hundert Jahre danach, werden Leichenfeldern aufgedeckt, in jedem Kubikmeter Abraum sind die Gerippe von durchschnittlich acht Menschen gefunden worden. Von einem Menschen in einer abgewetzten Eisenbahneruniform und einem schneeweißen Turban, ausgestattet mit einem Pappdeckelkarton statt einer richtigen Kehrschaufel, läßt sich Austerlitz hinter den Bauzaun locken, in den bereits aufgelassenen Ladies Waiting Room, der jetzt aber noch einmal kathedralenartige Züge annimmt, ich sah riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, Gewölbe und gemauerte Bögen, als dehnte sich der Innenraum, in dem ich mich befand, als dehnte er in der unwahrscheinlichsten perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort, und tatsächlich wird der Warteraum überblendet mit dem Schiff der wunderbaren, auf weiter Flur allein sich erhebenden Kirche von Salle in Norfolk wo ich gestanden bin und die Worte nicht herausbrachte, die ich ihr hätte sagen sollen. – Jeder ist gehalten, die gesamte Sequenz zum eigenen Segen ungekürzt ein weiteres Mal zu lesen.

Dem Wilsonbahnhof in Austerlitz’ Geburtsstadt Prag, gleichzeitig die Stadt des heiligen Franz K., ist ursprünglich baulich und auch sonst nichts vorzuwerfen. Das einst weit über Prag hinaus berühmte Jugendstilbauwerk war 1919 zum Andenken an den freiheitsliebenden amerikanischen Präsidenten Wilson eingeweiht worden. Wie ausnahmslos alles Schöne wurde er dann aber in der Folge zielstrebig ruiniert und in den sechziger Jahren umgeben mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton. Auf einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter messenden Plattform standen in mehreren Batterien gewiß an die hundert in debilem Leerlauf vor sich hindudelnde Spielautomaten. Von einer Art Mezzanin konnte man emporblicken in den mächtigen Kuppeldom des vormaligen Wilsonbahnhofs, oder vielmehr nur in die eine Hälfte dieser Kuppel, denn die andere Hälfte war sozusagen weggeschnitten durch die in sie hineinragende neue Konstruktion.

Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac war bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten. Über siebenhundert Eisenbahnzüge sind von hier abgegangen in die zerstörten Städte des Reichs. Dieser Bahnhof, sagte Austerlitz, ist für mich von jeher der rätselhafteste aller Pariser Bahnhöfe gewesen. Die von der Bastille herkommenden Métrozüge werden, nachdem sie die Seine überquert haben und über das eiserne Viadukt seitwärts in den oberen Stock des Bahnhofs hineinrollen, gewissermaßen verschluckt von der Fassade. Zur gleichen Zeit fühlte ich mich beunruhigt von der hinter der Fassade gelegenen, nur von einem spärlichen Licht erhellten und fast vollkommenen leeren Halle, in der sich eine aus Balken und Brettern roh zusammengezimmerte Bühne mit galgenartigen Gerüsten und allerhand verrosteten Eisenhaken erhob. Unangenehm berührte mich auch, daß am oberen Rand des kunstvollen Gitterwerks der Nordfassade, wie ich erst nach einiger Zeit bemerkte, zwei winzige, wahrscheinlich mit Reparaturen beschäftigte Figuren an Seilen sich bewegten gleich schwarzen Spinnen in ihrem Netz.

Die Bahnhöfe, Kathedralen der Fortschrittsverheißung des neunzehnten Jahrhunderts – der Einband von Jürgen Osterhammels Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts – ist mit einem Eisenbahngemälde William Turners versehen - sind bereits hundert Jahre später gründlich entzaubert, nurmehr Mahnmale für Verbrechen, die ihnen vorausgingen (Antwerpen), in ihnen (Austerlitz Paris) oder an ihnen begangen wurden (Wilson Prag), oder sie sind gar Inbegriff dessen, daß alle Gegenwart auf Leichenbergen gegründet ist (Liverpool London). Vorsichtig werden sie mit Andeutungen an die alten Kathedralen überblendet, die sich aufs Ganze gesehen deutlich besser gehalten haben und vom Dichter verschont bleiben. Die alten unwirklichen Verheißungen sind haltbarer und unübertroffen die Deutungen der Conditio Humana, die die alten Illustratoren sakraler Innenräume wie Grünewald oder Giotto hinterlassen haben.

Die neue Pariser Nationalbibliothek nahe dem Austerlitzbahnhof zeichnet sich aus durch die geringe Fragwürdigkeit ihrer Inhalte, den Büchern, und den Insassen, den Lesern also. Die Fragwürdigkeit des Lesens und Schreibens wird zwar wiederholt angesprochen in Sebalds Werk, und auch beim Lesesaal der alten Pariser Nationalbibliothek in der Rue Richelieu war nicht ganz klar, ob man sich auf der Insel der Seligen oder, im Gegenteil, in einer Strafkolonie befand, gegen die Monstrosität des neuen Pariser Bau- und Machwerks aber sind Bücher und Leser in jeder Weise und rückhaltlos zu verteidigen. An keiner anderen Stelle ergießt sich Spott und Hohn in so scharfer Weise unmittelbar auf das Architekturerzeugnis selbst, ein in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisendes und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegenstehendes Gebäude. Die vier gläsernen Türme, denen man in einer an Zukunftsromane erinnernden Geste die Bezeichnungen, La tour des lois, La tour des temps, La tour des nombres und La tour des lettres gegeben hat, machen auf den, der an ihren Fassaden hinaufblickt und den größtenteils noch leeren Raum hinter den geschlossenen Lichtblenden erahnt, tatsächlich einen babylonischen Eindruck. Der Boden der großen Vorhalle ist ausgelegt mit einem rostroten Teppich, auf dem weit voneinander entfernt ein paar niedrige Sitzgelegenheiten aufgestellt sind, Polsterbänke ohne Rückenlehnen und klappstuhlartige Sesselchen, auf denen die Bibliotheksbesucher nur so hocken können, daß die Knie ungefähr genauso hoch sind wie der Kopf, so daß der erste Eindruck war, daß diese vereinzelt oder in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihrem Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai - &c., ein über eine Reihe von Seiten sich erstreckendes satirisches Kabinettstück, bei dem sich der Autor offenkundig selbst von seinen Wegen durch steinerne Wüsten erholt. Zu verdanken ist das Werk dem Selbstverewigungswillen des Staatspräsidenten und sozialistischen Sonnenkönigs, der womöglich Zeit seines Lebens den Confrère beneidet hat, der im Bukarester Sonnenstaat in noch günstigeren Umständen gedeihen durfte.

Zwischen Sebald und Cioran, um damit abzuschließen, gibt es offenbar Bereiche der Kongruenz. Beide stammen aus einem kleinen Dorf, Cioran aus Răşinari bei Hermannstadt, Sebald aus Wertach im Allgäu. Cioran hat seine Kindheit nach eigener Aussage als Paradies erlebt, Sebald deutet immer wieder gegenteiliges an. Aber das dürften zu nicht geringem Teil Rückprojektionen aus einer späteren Gegenwart sein, in den Erzählungen Il Ritorno in Patria und Moments musicaux sehen wir den kleinen Selysses bei seinen Gängen durch Wertach nicht als einen rundum Gebeutelten. Der zum Tode eilende Lebensverlauf des Individuums läßt sich eher mit der überkommenen Vorstellung eines goldenen Zeitalters im Rücken als mit dem neuzeitlichen Versprechen einer nicht in das Jenseits verlegten glänzenden Zukunft synchronisieren. Die Übersiedlung in die Stadt ist für beide ein Bruch und ein Schockerlebnis, bei Sebald ausdrücklich auch baulich begründet: Trümmerfelder scheinen ihm eine feste Eigenschaft der Städte zu sein und tatsächlich liegen sie ja immer zu großen Teilen, wenn nicht als Kriegsfolge, so doch durch die fortwährende Bau- und Umbautätigkeit immer zu einem nicht geringen Teil in Ruinen. Beide haben dann die längste Zeit ihres Lebens im ausländischen und sprachlichen Exil verbracht. Beide sehen einen grundsätzlich verkehrten Weltenbau, an dem alle Meliorationsabsichten versagen müssen. Der Philosoph und der Dichter machen beide Gebrauch vom religiösen Vokabular, wobei Cioran sich zu seiner rasenden und zumeist blasphemischen Verwendung durch eine Sekunde Gläubigkeit täglich legitimiert sieht, der weitaus dezentere Sebald könnte sich bei diesem Maßstab mit einer Gläubigkeit im zeitlichen Nanobereich bewegen, so wie sie uns alle ohnehin bisweilen durchzuckt und sei es nur als Wunsch, sie möge einen Grund haben. Worauf wir an dieser Stelle aber eigentlich hinauswollen: beide, Cioran und Sebald, bewegen sich zwischen den Extremen von harter Askese und dekadentem Luxus. Cioran legt immer wieder ein gutes Wort ein für den römischen Kaiser Nero als seither nie wieder erreichten Gipfel der Dekadenz, bei Sebald sind es die Grand Hotels der Belle Epoque, die in üppiger und bereits welker Blüte die ursprünglichen Glücksverheißungen des 19. Jahrhunderts bewahren so wie die Bahnhöfe seinen technischen Fortschrittsglauben. Im Austerlitzbuch ist es das Great Eastern Hotel: einer Luxusunterkunft der Jahrhundertwende, jetzt größtenteils stillgelegt. Der Diningroom umfasste dreihundert Gäste, es gab Rauch- und Billardsalons, Zimmerfluchten und Stiegenhäuser, ein kühles Labyrinth zur Lagerung von Rheinwein, Bordeaux und Champagner, allein der Fischkeller, wo Barsche, Zander, Schollen, Seezungen und Aale zuhauf auf den aus schwarzem Schiefer geschnittenen, unablässig von frischem Wasser überflossenen Tischflächen lagen, war ein kleines Totenreich für sich. Es sind ferner Marienbad und seine Entstehung. Immer mehr und immer stolzere Hotels wuchsen aus dem Boden, und Kursäle, Badehäuser, Lesekabinette, ein Konzertsaal und ein Theater. 1873 wurde die große gußeiserne Kolonnade errichtet, und Marienbad gehörte zu den gesellschaftsfähigsten unter den europäischen Bädern. Das Meisterstück in der Dekadenzschilderung hatte Sebald aber bereits in der Deauvillesequenz der Erzählung Ambros Adelwarth abgeliefert. Alte Herrenhäuser, schon im Verfallsstadium, gehören zur gleichen Baukategorie, in Austerlitz ist es Iver Grove, ihr Schwerpunkt liegt aber in den Ringen des Saturn.

Selysses reist viel mit der Eisenbahn, wünscht sich dann aber immer wieder, er wäre bei seinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben. Er übernachtet oft in Hotels und Pensionen, in einem wahrhaftigen Luxushotel allerdings wohl nur einmal und das auch nur im Traum und er vermag dort überdies wegen Überfüllung durch ein horrendes Bestechungsgeld nur in einem Abstellraum eine Pritsche zu ergattern, die wie ein Gepäcknetz hoch an der Wand angebracht war. Auch sonst verlaufen die Hotelnächte in aller Regel ungut, ein schwacher Abglanz alter Verheißungen schimmert aber immer noch wie Mondlicht hinter Wolken.

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