Ende März
In Wien fällt der Dichter für einige Zeit aus dem gutbürgerlichen Dasein. Er läuft den ganzen Tag ziel- undsinnlos durch die Stadt, spricht mit keinem Menschen, das Schuhwerk ist schon nicht mehr in einem präsentablen Zustand, eine aus England mitgebrachte Plastiktasche mit allerlei unnützen Dingen schleppt er wie einen Fetisch mit sich herum. Nicht daß er obdach- und mittellos wäre, er übernachtet weiterhin im Hotel und nicht in einer illegal aufgebrochenen Gartenlaube oder Feldhüte am Stadtrand. Gegen Gartenlaben und Feldhütten als solche wäre nichts einzuwenden, gehören sie doch zur Liste der Bauten unter dem Normalmaß, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen.
* * *
Ich schlafe in einem Garten. In einer Laube, in der Bude, wie man auch sagt, in der im Sommer der Sohn des Gutsherrn oder irgendein alter Knecht die Süßkirchen vor Dieben bewacht und vor solchen wie mir. Aber jetzt ist Ende März und von Süßkirschen ist keine Rede. Es ist kaum die Rede von irgendetwas Grün, einer Knospe an irgendeinem Baum, so als ob an der Rinde etwas grünen wollte, geschweige denn von Süßkirschen. Von Nüssen konnte man nicht einmal träumen in diesem Augenblick. Das wäre verlorene Zeit. Es ist Ende März, sage ich, aber es sieht ganz und gar nicht danach aus. Es sieht mehr nach Mitte Januar oder Februar aus. Es sieht aus nach einem zweiten Erblühen dieser Monate. Seit einer Woche muß man nachts wieder mit Frost rechnen und es weht weiter ein scharfer Nordostwind, so etwas wie ein Wolf ist mir unlängst im Wald begegnet, in diesen Breiten eine Seltenheit. Ja, es sieht überhaupt nicht nach Ende März aus, so als könne der April in einigen Tagen beginnen. Es sieht überhaupt nicht so aus, als könne etwas Neues erwachen. Vielleicht war es ein Fuchs. Nachts habe ich nichts dergleichen gehört. Es gab zwei schöne Tage, die Sonne wärmte schon spürbar, jedes Würmchen dachte, nun geht es los, es wird wärmer von Tag zu Tag, immer wärmer, wärmer.
Heute habe ich die Fallen im Wald überprüft. Wieder war nichts gefangen, und mir ist schon nicht mehr wohl im Kopf vor Hunger. Zwei Tage habe ich nichts gegessen, und es sieht ganz nach einem dritten nahrungslosen Tag aus. Danach sieht es aus. Süßkirschen, Nüsse – das sind exotische Sachen. Besser wäre es wohl, die Bude nicht zu verlassen, das sehe ich jetzt, still daliegen und sich so wenig wie möglich bewegen. Denn das regt mit Sicherheit den Appetit an. Besser ist es also, nur still dazuliegen. Der Boden war noch ziemlich warm vom gestrigen Feuer, das ich gestern in der Bude angezündet hatte, genau in der Mitte, um den Boden zu erwärmen für den Nachtschlaf. Es brannte eine halbe Stunde, nicht zu stark, ich paßte auf, daß es nicht zu stark wurde, daß die Bude nicht herunterbrannte. Zu Anfang rauchte es schrecklich, und ich mußte für einige Zeit rausgehen, dann aber konnte ich mich setzen, der Rauch ließ nach. Es glühte noch eine Weile, dann habe ich die Glut mit den Füßen ausgetreten. Dann habe ich meine Jacke für mich am Boden ausgelegt. Ich lag still, denn es war schon ein weiterer Gottestag, daß ich nichts gegessen hatte, und ich wollte, um unnötige Bewegungen zu vermeiden, nicht hinausgehen, obwohl es eine Nacht war, hell und voller Sterne, ich sah, wie es leuchtete, der Schnee leuchtet unglaublich in solchen Nächten und knirscht unter den Schuhen, blitzt unter dem Mondlicht und es herrscht Stille, eine unaussprechliche Würde, diese Nächte sind nicht den Menschen zuliebe gemacht. Absolut nicht. Aber ich bin nicht aus der Bude gegangen, obwohl ich wußte, wie herrlich es draußen ist, so wie ich es beschrieben habe und wohl noch schöner. Ich war hungrig, und das rechtfertigte mich. Ich wollte nicht mit dem Gehen den Hunger aufstacheln. Wäre ich nicht hungrig gewesen, so hätte eine solche Nacht mich fünfundzwanzigmal hervorgelockt und zum Horizont getragen. Aber weil ich hungrig war, lag ich ruhig da und dachte über Verschiedenes nach, über verschiedenen phantastische Dinge, denn ich habe eine schreckliche Befähigung zum Denken. Damit sage ich nicht, daß meine Gedanken schrecklich weise und wunderschön sind, so wie die sieben Weltwunder zum Beispiel oder wie Perlen auf dem Meeresgrund. Nein. Sie sind mal so mal so. unterschiedlich. Ach, welche bedrückenden Gedanken habe ich derzeit im Kopf, Jezus mój. Aus dem Grund habe ich eben von meiner schrecklichen Denkfähigkeit gesprochen. Deswegen habe ich eben meine Denkfähigkeit so erläutert: daß sie schrecklich ist. Ach, welche bedrückenden Gedanken hatte ich gestern, als ich mit geschlossenen Augen im Dunklen lag. Ich sage das nicht, um zu klagen. Das sind absolut keine Klageworte. Davon bin ich weit entfernt. Und die Gedanken gingen von da aus noch weiter. Meine gestrigen Gedanken waren keine Gedanken, die sich auf irgendetwas oder auf irgend jemanden bezogen hätten, auf einen lebenden oder einen toten Menschen oder auf irgendeine Sache. Das waren Gedanken in die Luft gesprochen und sie bezogen sich auf nichts. Das waren schrecklich bedrückende Gedanken, kann ich sagen, so bedrückend, daß man in diesem Augenblick vollständig aufhört zu existieren, aufhört zu leben. Das ist sicher von Anfang an schrecklich bedrückend und führt dann zu einer vollständigen Erstarrung des Lebens und der Zeit, in der freien Luft wird der Mensch auf Streckbett gespannt. In der Weite des Raums. Mehr ist da nichts, nur dieser endlose Raum und das ist schrecklich. Nie war ich so nah an dieser Erläuterung, diesem Versuch einer Erläuterung meiner Zustände, die über mich herfallen, mich zerren und irgendwo in der Weite des Raums aufhängen.
Ich rede so viel davon und beschäftige mich die ganze Zeit damit, weil mich das so tief erfaßt, daß ich alles andere zurückstelle und darauf meine ganze Logik konzentriere und sie auf die Frage einstelle: wie kann man so etwas erläutern. Auch in diesem Augenblick, wo ich hungrig in der Bude liege, erschöpft bin, den ganzen Vormittag die Fallen überprüft habe, ohne etwas zu fangen, was soll man machen, in diesem Augenblick sogar, wo ich hungrig daliege, der Nachmittag ist schon vorbei, anderthalb Tage schon habe ich nichts zwischen den Zähnen gehabt, da denke ich darüber nach und erinnere mich, wie mich gestern diese Erscheinung überfallen hat. Ich kann noch einiges darüber erzählen, wie diese Erscheinung mich oft gegen Mittag überfällt, wenn die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, aber noch nicht hervorgekommen ist, das Licht ist noch trüb, aber alles ist doch schon sichtbar im Umfeld, der Gesamtüberblick und die Einzelheiten, ich aber höre auf, an all das zu glauben, sehe es nicht mehr, und mein seltsames Schicksal gewinnt die Oberhand.
Aber das reicht für heute. Ich bin heute so weit gegangen wie noch nie. Daß ich seit anderthalb Tagen nichts gegessen habe, zeigt, daß ich auch in dieser Sache recht weit gegangen bin, obwohl ich einmal schon weiter gegangen bin: drei Tage. Ab und zu höre ich, wie einige sagen, daß auch drei Tage ohne Nahrung so gut wie nichts sind, aber ich denke, da treiben sie Schindluder mit der Freiheit des Wortes. Ich liege in der Bude, der Nachmittag ist schon vorbei, der Sonnenschein draußen ist schön und flimmernd, der Schnee so hell, daß man kaum hinschauen kann, und hier in der Bude ist es sehr angenehm, mild ist es, das muß man sagen.
Allerdings hält man sich im Winter besser in der Stadt auf, im Sommer dagegen kann man in Wald und Feld wie auf Gold leben und hinreichend Valuta beiseitelegen. Für Maiglöckchen, Beeren, Blaubeeren, für Nadelhölzer der Bauern, für Stangen vorwiegend oder Bauholz, ein Schuppen oder ein Häuschen, da werden gleich größere Mengen bestellt, sieben Tage Arbeit. Man kann auch den Wald verlassen und zur Sense greifen und dann zum Dreschflegel, und wenn man mit einer Maschine arbeitet, dann kann man den ganzen Sommer über von Landwirt zu Landwirt gehen, von Dorf zu Dorf, Essen der Extraklasse wird gereicht, man kann gut schlafen und erhält eine Menge Valuta, kann ordentlich ansparen. Das Ausgraben von Kartoffeln und ähnlichen gefällt mir weniger. Ich liebe diese Arbeit wegen der Weiber nicht. Sie hecheln alles durch, das ganze Dorf und noch drei andere. Dann fangen sie an mit ihren Kerlen, meiner ist so und meiner so, ihnen fehlt jedes Schamgefühl. Einerseits ist das gut, weil so die Arbeit schnell vonstatten, du schaust, und schon ist Nachmittag. Aber meistens nehme ich diese Arbeit nicht an. Nur wenn es nichts anderes zu tun gibt auf dem Feld um diese Zeit, alles schon eingebracht ist, gepflügt und neu gesät; morgens, wenn man aufs Feld geht, dann ist es kalt, Rauhreif, das ist dann das Ende der Feldarbeit. Nun, Rüben gibt es noch um diese Zeit. Kartoffeln sortiert man schon im Haus. Ja, den Sommer über kann man sich die Arbeit auf dem Feld aussuchen. Zur Sommerzeit gibt es immer zu wenig Leute für die Feldarbeit. Im Sommer vor zwei Jahren, weiß ich noch, hatte ich jede Menge Valuta. Es ging nicht darum, daß ich am anderen Ende des Vaterlands war, aber ich hatte genug Valuta und eine schöne Schlafstelle die ganzen Festtage über bis zum Dreikönigstag. Ich hatte übrigens nicht gut gearbeitet und eine Reihe von Kunden verloren, weil ich nicht pünktlich für die Weihnachtsbäume gekommen bin. Ich hatte mich nicht gut verhalten und mußte mich entschuldigen, geholfen hat es nicht. Ich denke jetzt, daß ich mich wirklich nicht gut verhalten hatte, man muß den Leuten rechtzeitig mitteilen, wenn man nicht kommen will und sie nicht mit einem rechnen können. Das muß man, dann ist alles in Ordnung.
Jetzt denke ich über etwas anderes nach, eine sehr interessante Sache, obwohl sie mir so gut wie nie in den Sinn kommt, sie ist wie unter einem Mantel verborgen. Zum Beispiel, ich liege hier in meiner Bude, der Bauch redet die ganze Zeit vor Hunger, was soll ich noch mehr davon erzählen, aber dort, in anderen geographischen Gegenden, da gibt es andere Gegenden, da scheint jetzt die Sonne, der Himmel ist ganz blau und unten, am Boden, da grünt alles, Obstgärten, Süßkirschen, Schattenmorellen, Jezuz mój, alles gibt es da und noch andere nicht genannte Güter, und ich, um ein Beispiel zu nennen, bin da nicht. Und ich zum Beispiel bin da nicht, sage ich, und das ist in Ordnung, der normale Lauf der Dinge. Aber so schnell kann ich das nicht verstehen, denn warum bin ich akkurat hier und nicht akkurat da? Wenn ich nicht hier wäre und zum Beispiel da, wäre das nicht auch der normale Lauf der Dinge? Wäre das nicht ganz in Ordnung? Wenn ich da wäre? Ich denke, dann wäre auch alles in Ordnung und sogar in einer besseren Ordnung. Wenn ich jetzt sechs Monate Wind, Regen, Hagel, Schnee, Frost und Arbeitslosigkeit durchlebt habe, warum soll ich dann nicht in einem warmen lauen Wind lebe, in der Sonne, in Nahrungsüberfluß, Obst und Arbeit, in einer malerischen Umgebung? Warum soll ich mir derlei nicht erhoffen? Einen weiteren Verlauf dieser Art? Kann man das nicht auch als einen normalen Verlauf der Dinge ansehen? Auf jeden Fall.
Genau darum geht es, daß man über so einfache Dinge überhaupt nicht nachdenkt und lieber mit dummen Hoffnungen lebt. Oft schon habe ich gesagt, daß Hoffnung nicht gut ist, vielmehr falsch, trügerisch, ein Blendwerk. Glaube, Vertrauen, sage ich, Glaube ist das einzig richtige. Ich liege in meiner Bude, mein Bauch redet vor sich hin und ich habe nichts, nichts als Glaube. Und ich sage das nicht, um mir Mut zu machen, weil ich in einer nicht beneidenswerten Situation bin, Winter, Frost, ein leerer Bauch, Sommer und Pan Turowski und der liebe Pan Artur sind fern, wissen nicht, wo ich bin, aber meine Gedanken sind klar, ich habe einen klaren Verstand, wenn ich ganz still sage: Glaube, Glaube ist das einzige.
Heute werde ich nirgendwo mehr hingehen, um Essen aufzutreiben. Ich will mich überhaupt nicht mehr rühren. Es ist nicht so, daß ich kaum mehr lebe. So ist es gar nicht. So schnell krepiert man nicht. Es ist nicht so schlecht, bei Licht besehen also nicht schlecht. Ganz schlecht wäre es, wenn es anfinge, gut zu werden. Das ist mir noch nicht vorgekommen, aber ich habe gehört, daß es so ist. So sehe die letzte Station aus. Das sei der schönste Augenblick des Lebens. Das verstehe ich halbwegs.
Draußen wird es sicher schon Abend. Den Monat zuvor war es um diese Stunde schon tiefe Nacht. Aber jetzt beginnt es erst langsam. Ganz allgemein möchte ich sagen, daß sich das Klima verändert. Ganz allgemein möchte ich sagen, daß sich das Klima vielleicht verändert. Das läßt sich wohl beobachten. Früher, erinnere ich mich, da war der März bereits Frühling und alles grün. Juni, Juli, August, September, da war es prächtig warm. Jetzt ist der Sommer überhaupt kein Sommer, allenfalls ein warmer Herbst. Wenn man die letzten Jahre betrachtet, wo war da der Sommer? Ein paar warme Wochen, und das nannte sich Sommer. Der Rest war ein kaltwarmer Herbst: Regen und Regen, alles verkam auf den Feldern, das Korn fiel in alle Richtungen wie Vogelfuß. Maschinen sah ich keine auf den Feldern. Aber ich sah, wie die Leute mit Sicheln arbeiteten. Die armen. Nicht jeder kann sich eine Orangerie bauen und Tomaten pflanzen bei künstlich erwärmten Temperaturen. Nicht jeder kann es sich leisten, sich sein eigenes Klima einzurichten. Und was tut sich dann in den Städten? Knappheit und Panik. Die Leute kaufen alles weg. Was es gerade gibt: Zucker, Salz, Mehl, Grütze, Nudeln, was es gibt.
Schauen wir uns jetzt an, wie der Winter ist. Schnee fällt so gut wie keiner. Wenn er fällt, dann ist es nasser Schnee. Dann schlägt der Frost ein wenig zu, alles überfriert, die Gefahr steigt an auf den Straßen. Und so ist es zwei Wochen lang, drei Wochen. Kein Schnee fällt, nur der Wind pfeift. Dann dreht es sich wieder, und alles beginnt von vorn, wieder ein schreckliches hin und her. Kein schöner weißer Diwan. Und so ist es in einem fort, einmal der Frost und gleich wieder Tauwetter und dann sinkt die Temperatur wieder. Ist das nicht eine schreckliche Vermischung der Jahreszeiten? Die Leute sagen, alles kommt von den Atom- und Wasserstoffbomben, aber ich denke, die Wissenschaftler haben ihre eigene Sichtweise.
Ein wenig wundere ich mich, daß mir nicht der Kopf vor Hunger schmerzt, aber nichts dergleichen, und auch der Bauch schmerzt mir nicht, ab und zu Geräusche, einmal leise, dann wieder so laut, daß ich aufschrecke. Was kann das sein? Vielleicht einfach Luft. Also, nichts tut mir weh, nur so ein scharfes Gefühl. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber das Wort scharf paßt. Zum Beispiel, ich habe einen sehr scharf aufgestellten Verstand, denke ich. Aber das besagt nicht, daß es den ganzen lieben Tag so ist, wenn ich nichts esse und es darüber schon nichts mehr zu sagen gibt, denn warum sollte man in Wunschträumen und Utopien leben.
Auf dieser Welt ist es draußen bereits dunkel. Nacht. Sicher die gleiche, wie schon gestern. Der Mond ist vielleicht schon aufgegangen, irgendwie spüre ich ihn, Schnee beginnt zu leuchten und Behaglichkeit breitet sich aus. Eine unendliche Stille herrscht. Nichts ist zu hören, aus dem Wald kein einziges Geräusch, aus dem Dorf nicht oder vom Himmel, von nirgendwo. Ich liege still da. Still und würdevoll. So wie es paßt. Meine Augen sind auf und im Kopf jede Menge Gedanken.
Krieg. Ich liege die ganze Zeit still und würdig in der Bude und denke über das Wort Krieg nach. Ein bißchen wundert es mich, daß ich über so verschiedene Dinge nachdenken kann: Traurigkeit, verschiedene Arbeiten auf dem Feld, über die Hoffnung, das Klima und zum Beispiel auch über das Wort Krieg. Ein wenig wundert es mich, daß mein leerer Bauch mich dabei kein bißchen behindert, auch nicht der Speichel, mit anderen Worten der Hunger. Ein wenig Brot mit Zwiebel oder ein paar Kartoffeln mit Salz oder ein bißchen Fleisch, Rindfleisch, Hammelfleisch, Schweinefleisch, Pferdefleisch, was auch immer, oder auch nichts davon, sondern etwa ein Stück Schokolade. Man muß nicht ins Reich der Utopie fliegen. Krieg. Das Wort Krieg. Ich spreche vom Wort Krieg, weil ich mit dem Krieg nicht besonders vertraut bin. Ich habe wohl ein wenig von ihm gesehen, erinnere mich aber nicht. An was ich mich entsinne, sind zwei Partisanen am Waldrand, wie sie auf ein Flugzeug schossen. Ich bin zu ihnen hingegangen und habe von einem einen kräftigen Tritt in den Hintern bekommen, und als ich nach Hause kam noch mehr. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie die Amerikaner mit ihren Panzern vorbeifuhren und Kaugummi und Schokolade herabwarfen und den Mädchen halfen, auf die Panzer zu steigen. Was das Wort Krieg bedeutet, habe ich nicht dort erfahren, sondern hier, als führen wir durch den Krieg. Hier ist es mir erst klargeworden. Und niemand hätte es besser machen können. Denn der größte und schrecklichste Krieg war wohl hier. Hier habe ich über das Wort Krieg sehr viel gelernt. Viel stelle ich mir jetzt vor unter diesem Wort. Ich sprechen über das Wort Krieg und nicht über den Krieg, denn selbst war ich nicht im Krieg und habe nicht bis zum letzten Blutstropfen gekämpft. Alles was ich weiß, weiß ich aus Erzählungen, Filmen und Büchern. Das wird niemals das gleiche sein, als wenn man mit den eigenen Augen die Bombardierung sieht, den Schußwechsel, die Trennung von Kindern und Müttern, das Brennen, Foltern, wenn man sich so verhält, daß ein Mensch, der das sieht, aufhört, sich Mensch zu nennen, kein Mensch mehr sein will, lieber ein Affe, zurückkehren zu den Affen, auf keinen Fall ein Mensch sein, wenn sich auch einer von der Gestapo Mensch nennt. All das habe ich nicht mit den Augen gesehen, sage ich. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wäre, wenn ich das mit eigenen Augen gesehen hätte. Solche Dinge habe ich nur in Filmen gesehen, und anschließend bin ich steif und blind daher gegangen und habe still für mich gesagt: Ich will kein Mensch sein, ich bin kein Mensch. So bin ich lange Zeit durch die Straßen gegangen, als ein Untoter nahezu, hätte mich jemand berührt, hätte er womöglich einen Stromschlag davongetragen.
Krieg. Immer wieder habe ich gehört, der Krieg sei eine Strafe für den schlechten Lebenswandel der Menschen, weil sie ausschweifend leben. Das ist die Wahrheit, das ist die heilige Wahrheit, daß die Menschen so leben und nicht anders. Aber was ist das für eine Strafe für die schlechten Menschen, die im Krieg umkommen, geradeso wie die Kinder, so viele Kinder und so viele stille Menschen, weder gut noch schlecht, die von der Arbeit ihrer Hände in den kleinen und großen Städten leben. Und ebenso die Handvoll unschuldiger, völlig reiner Menschen. Also hat niemand das Recht, diese Strafe zu verhängen. Niemand. Kein Mensch und kein Volk. Das kann ich jedem Menschen und jedem Volk beweisen. Und dann, was ist das für eine Strafe, wenn die, die strafen, keinen Deut besser sind, sondern zehnmal schlimmer.
Arm sind die Menschen. Ich weiß, wie die Menschen in der Mehrzahl sind, welch einen Absturz es gibt in der menschlichen Sphäre, das weiß ich sehr gut. Aber ich kann mit gutem Gewissen sagen, in einer Hinsicht sind die Menschen arm: darin, daß der Mensch nicht von sich selbst abhängt, daß viele Leute nicht von sich selbst abhängen, sondern von anderen Menschen, oder gar von einem einzelnen Menschen. Darin sind die Menschen arm. Sterben sogar müssen sie nicht wie erwartbar nach einer Erkrankung, die sie verzehrt, oder des Alters wegen mit sechzig, siebzig, achtzig Jahren, das hängt von einzelnen ab, es muß nur ein Krieg ausbrechen, und die Menschen sterben allesamt der Reihe nach.
Die ganze Zeit liege ich schon in der Bude, den halben Tag schon liege ich da, um nicht vor Hunger die Nerven zu verlieren. Normalerweise bin ich den ganzen Tag zu Fuß unterwegs, und liege nicht herum. Normalerweise bin ich den ganzen lieben Gottestag unterwegs, fahre auch schon mal, wenn es sich ergibt, ein paar Tage bin ich hier, dann wieder woanders, dann wieder woanders, und treffe dabei viele Leute, sehr viel Leute, selten nur dieselben, immer neue Gesichter. Und ich kann sagen, daß ich auf meinen Wegen unter so vielen Menschen noch nie jemanden getroffen habe, der sich den Krieg gewünscht hätte, oder sich in dieser Angelegenheit auch nur zweideutig oder gleichgültig geäußert hätte. Es ist wahr, die Leute wollen leben.
Meine Augen
verkleben. Die Menschen wollen leben. Aber wie wollen sie leben? Die Diebe
wollen stehlen, die Stolzen wollen ihren Stolz zeigen, die Hyänen suchen nach
Beute, die Betrüger wollen betrügen, Banditen, Gecken, Geizhälse, Intriganten,
Scheinheilige, Trinker, Überschlaue, Ränkeschmiede. Sie verspielen jedes
Gefühl, den letzten Rest von Würde, den letzten Rest.
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Ein Engpaß auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung erfordert Bewegungseinschränkung, am besten zu erreichen in einer engen Behausung auf dem Lager ruhend. Das wiederum lädt ein zum Denken und Nachdenken, zunächst im Hinblick auf sich selbst, dann auf die Menschheit gerichtet, ein bohrendes, wenn auch unscharfes und schwankendes Denken. Nur wenigen Menschen kann die Note Gut erteilt werden, mehr schon erreichen ein Befriedigend oder Ausreichend, das Sagen aber haben die mit der Note Ungenügend. Die Zukunftserwartungen sind dunkel.