Montag, 24. Mai 2021

Los niezłomny

Unbeugsames Los

Daß jemand im Gras liegt oder sich im Grase wälzt, ist keine Seltenheit, von sich selbst erzählt der Dichter derlei nicht, wohl aber von Kafka. Während die Bewohnerschaft von Desenzano auf dem Marktplatz versammelt auf ihn wartet, so heißt es, liegt er drunten am See im Gras, vor sich die Wellen im Schilf, zur Rechten die Landzunge, linker Hand das Ufer bis hinauf nach Manerba. Einfach im Gras zu liegen, das gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Lange Fußwege, eine andere Freiluftbeschäftigung, war auch der Dichter gewohnt. Stachuras Erzähler steht ihnen in diesen Angelegenheiten nicht nach.

*  *  *

Langsam stieg ich von dem Hügel hinab. Ich hatte dort ausgeruht. Ich hatte mich ausgestreckt und  mit meinen blauen Augen gen Himmel geschaut. Ich hatte mich ganz und gar vergessen. Ich war nicht existent. Ich lag da und ruhte aus wie der Unbekannte Soldat im Grab. Ich erweise ihm Ehre und Tribut mit diesem aus meiner Sicht stolzen Vergleich. Jetzt steige ich von diesem Hügel hinab, so wie der Himmel sich zur Erde neigt.

All das ist wahr. Aber die Wahrheit ist größer. Die ganze Wahrheit kenne ich nicht. Wer sie kennt, soll es sagen. Denn ich kenne sie nicht. Ich bin nur jemand, der die Wahrheit sagt. Die ganze Wahrheit aber kenne ich nicht. Nicht mal in diesen Tagen, nicht einmal in diesen göttlichen Tagen ist mir auf irgendeine Weise in den Sinn gekommen, ich würde  die Wahrheit kennen. Noch nie ist mir das passiert. Also, wenn ich die Wahrheit sage und nichts als die Wahrheit, kann ich doch nicht die ganze Wahrheit sagen, denn ich kenne sie nicht und kann sie nicht kennen. Und ich werde sie wohl nie kennen. Ich sage, was ich weiß.

Was ich da erzähle, hört sich an, als wolle ich etwas Schreckliches eröffnen. Irgendetwas Schlimmes: eine große Katastrophe, ein gewaltiges Unglück, ein Verbrechen, von dem man sonst nur hört oder liest, die Haut leidet, und die Kopfhaare beginnen zu stechen wie mit Nadeln. So wie von der der Kälte. So sieht es aus, was ich aufgeschrieben habe. So als sei es ein Zugang zu etwas. So als sei es ein Wort für das hohe Gericht im Saal, wo der Prozeß läuft. Aber nein, so ist es nicht.

Bevor ich den Hügel hinaufgegangen bin, auf dem ich ausgeruht habe, ohne Gedächtnis dagelegen bin, bevor ich auf diesen Hügel gegangen bin, um kraftlos niederzufallen, mit meinen blauen Augen zum Himmel geschaut habe, bevor ich da hin gegangen bin, war ich schon lange gegangen. Noch länger. Nichts lag hinter mir. Ich bin vor niemandem und vor nichts fortgelaufen. Nach normalem Verständnis lag nichts hinter mir. Ich bin vor niemandem und vor nichts fortgelaufen. Keinerlei Panik hatte mich ergriffen, kein Pack hatte mich gejagt. Vor mir lag nichts nach normalem Verständnis, nach normaler Erwartung. Kein Punkt. Ich ging nicht, um irgendwo hinzugehen nach normalem Verständnis. Um jemanden zu sehen und zu küssen oder mich an jemandem zu rächen. Auch Gott hat mich nirgendwo hingeführt. Nichts. Ich ging auf kein Ziel zu. Ich ging nirgendwo hin. Ich ging eine lange Zeit. Länger noch. Ich weiß, was ich sage. 

Also, ich sage die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit kann ich nicht sagen, denn ich kenne sie nicht. Und vielleicht werde ich auch nie erfahren, warum ich heute locker an die fünfunddreißig Kilometer gegangen bin, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig, ich kann die Kilometerzahl nicht nennen, denn ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich gegangen bin, auf die Wegweiser habe ich nicht geachtet, die Zeit habe ich nicht gemessen. Das hatte ich nicht im Kopf. Im Kopf war ein leichtes Rauschen, Sicher. Sicher werde ich nie erfahren, warum ich heute mein Frühstück nicht beendet habe, meinen Kaffee nicht ausgetrunken habe, aufgestanden bin und dem Chef gesagt habe, er möge  abrechnen und mich auszahlen, so viel, wie mir zusteht, weil ich gehen muß. Denn ich mußte gehen. Ich ging über den Hof gegangen bis zum Zaun, so scheint es, stützte mich auf das Geländer, so scheint es, aber nichts konnte ich unterscheiden, nicht einen ersten Plan, nicht einen zweiten und so weiter. Derlei hatte ich nicht vor Augen. Vor den Augen hatte ich einen weißen Fleck. Ich sage, was ich weiß. Dann rief mich der Chef, sagte ein paar Worte wie: so kommen wir überein – sagte er und gab mir das Geld. Dann habe ich mich wohl verabschiedet, die Jacke aus dem Flur geholt, sicher bin ich auf de Hof gegangen, um den Hund zu streicheln. Dann habe ich mich auf den Weg gemacht. Ich bin lange gegangen, länger noch.

Meine Beine habe ich nicht gefühlt. Als sei ich den ganzen Tag im Kreis gegangen, wie ein Pferd in der Manege. Und so war es auch. Als sei ich den ganzen Tag geradeaus gegangen, tatsächlich aber bin ich im Kreis gegangen. Denn letztlich wollte ich nirgendwo hingehen. Nirgendwohin im normalen Verständnis. Ich weiß, was ich sage. Die ganze Wahrheit kenne ich nicht. Und wenn sich der Weg im Kreis bewegte, habe ich erst am Ende bemerkt, daß ich dahin gelangt war, wo es begonnen hatte. Aber auch das hätte ich nicht bemerkt und wäre weiter gegangen. Eine weitere Runde hätte ich begonnen. Denn das hatte ich nicht in meinem Kopf. Meine Kopfschmerzen rührten nicht daher. Aus anderem Grund hatte ich quälende Kopfschmerzen. Ein Feuer wogte und stürmte in meinem Kopf. Was ist der Sinn. Worum geht es in diesem ganzen Spiel. In diesem Kartenpaket. Wer kann hier gewinnen und was kann hier gewinnen. Davon handelt der Krieg. Und was ist mein Sinn. Das hatte ich im Kopf. Davon schmerzte mir der Kopf und nicht zum ersten Mal.

Ich gehe. Noch ein wenig. Denn irgendwann weiß ich, daß es nicht so weit ist, ich setze oder lege mich hin und habe keine Kraft mehr, mich zu rühren. Ich versteinere. Keine Kraft kann mich mehr bewegen. Nichts kann mich bewegen aufzustehen. Mich zu erheben. Ich gehe geradewegs, nicht Zickzack, geradewegs und spüre, es kann nicht mehr weit sein. Ein wenig noch, irgendetwas muß ich vorher noch machen, obwohl mir scheint, wenn ich still dasitze oder daliege, dann geht mir sicher durch den Sinn, daß das alles überflüssig war, unnötig, ohne Wert, daß ich mich gleich hätte hinsetzen oder hinlegen sollen, reglos, irgendwo am Wegrand, oder sich irgendwo einmauern, schnell ein wenig Geld verdienen und Ziegelsteine kaufen, Speis und Zement und mich irgendwo einmauern am Wegrand. Und Lebewohl.

Das habe ich gedacht, als ich heute meines Weges ging. So habe ich fast den ganzen langen Weg gedacht, ob es nun dreißig oder vierzig, ich weiß es nicht, Kilometer waren, ich habe nicht auf die Schilder geachtet, die Zeit nicht gemessen. Fast die ganze Zeit habe ich heute beim Gehen nachgedacht. Das ist mit schon oft passiert, viele Male, aber zum ersten Mal habe ich darüber detailliert nachgedacht. In allen Einzelheiten. Weniger über die Zeit als über den Ort. Ich erinnere mich an viele Orte entlang des Weges, die ich betrachtet habe. Einige habe ich erwählt, habe sie erwogen. Viele habe ich verworfen, zwei erwählt. Aber zwischen diesen beiden konnte ich mich nicht entscheiden, mal der eine, mal der andere. Das, wovon ich jetzt rede, das weiß nur ich, worum es sich handelt. Nicht daß ich es detailliert in allen Einzelheiten wüßte, daß ich wie auf der Hand ausgestreckt die beiden Orte sehen würde, der eine besser als der andere, die Zeit weiß ich auch nur ungefähr. Das sind viele unnötige Betrachtungen. Aber vielleicht ein Augenpaar oder zwei.

Das also ging mir fast den ganzen Weg durch den Kopf. Nichts anderes, nur das. Ich sah, daß es für mich das Beste ist, das einzig sinnvolle. Ich sah, daß es das Beste für mich ist, einen anderen Weg gibt es nicht. Sei es wie es sei und allen alles. Ich sah, daß ich immer Augen und Ohren offen halten werde, und den Verstand, und ich weiß, daß ich niemals mit dem einverstanden sein werde, was ist. Nicht, weil ich niemals die ganze Wahrheit kennen werde, das ist ohnehin klar. Damit bin ich einverstanden. Damit habe ich mich abgefunden, daran denke ich längst nicht mehr. Damit bin ich sicher schon zur Welt gekommen. Denn das ist eines jeden Los, ob er will oder nicht. Da hilft nichts, das ist klar. Das ist das klarste von allem. Die ganze Wahrheit erfährt man nie. Damit bin ich geboren, damit ist ein jeder geboren. Und damit stirbt auch jeder. Das ist beim Sterben das allerhellste Licht. 

Also nicht aus diesem Grund werde ich niemals einverstanden sein, daß ich niemals die ganze Wahrheit die ganze Wahrheit kenne, daß ich niemals alles wissen werde. Denn ich weiß, daß es so ist und so sein muß. Gleichgültig wie. Ich weiß, daß ich sterbe und damit geboren bin. Aber ich bin nicht als Blindschleiche geboren. Und auch als Rose wurde ich nicht geboren. Nicht als Ratte. Als schöne Hortensie. Sondern als der, der ich bin.  Auch als Schakal oder Hyäne wurde ich nicht geboren. Nicht als große mächtige Eiche und nicht als Erle. Ich wurde als niemand geboren, nur als der, der ich bin. Ich wurde nicht mit Trugbildern geboren, nur mit Nerven. Mit Nerven unter einen dünnen Haut.

Ich habe es verstanden. Unterwegs habe ich heute verstanden, daß niemand einverstanden ist, der zu sein, der er nicht ist. Weder das oder, genauso wenn: wie wird es sein, wenn der Herrgott Gesundheit schenkt und die Muttergottes Geld, was muß sich ändern, spätestens zum Frühjahr. Die ganze Wahrheit kenne ich nicht. Ich sage das, was ich weiß.

Wieder und wieder habe ich verstanden, das Beste für mich ist, einfach nur dazusitzen. Irgendwo am Wegrand zu sitzen, an einen Baum gelehnt oder an ein Gestell, oder im Gras zu liegen, auf den Blättern, mich am Boden ausstrecken, ohne Regung zu sein, regungslos daliegen und sich an alles erinnern, an alles was auch immer, ein großer Appell an das Gedächtnis, bis es so groß ist wie ein Ballon und in der Luft verschwindet. Und dann ist es friedlich für mich, still, reif in der Erde zu versinken wie ein Mairegen.

Ich habe verstanden, daß das die beste Erkenntnis für mich ist. So also dachte ich, während ich meines Weges ging. Das hatte ich im Kopf und vor Augen. Ich folgte einfach dem Weg, geradeaus und schaute nicht links noch rechts. Eine lange Zeit ging ich. Noch länger. Kleine Dörfer zogen vorbei, Hühner, Gänse, Schafe mitten auf dem Weg, Kreuze, Schreine am Wegesrand, dann ein etwas größerer Ort, ich weiß nicht, erinnere mich nicht genau, die ganze Wahrheit kenne ich nicht und das hatte ich auch nicht im Kopf und vor Augen. Vor Augen hatte ich nur eins. Etwas Einfaches. Als die beiden Orte ins Blickfeld kamen, die ich ausgewählt hatte unter den mehr als zwanzig, und weiter nichts, vermochte ich nicht, mich zwischen diesen beiden zu entscheiden, so als ob es eine Barriere gäbe. Keine glatte Wand, aber eine Barriere, ein Hindernis, das sich in den Weg stellte. Und das das Ihre machen konnte. Das alles hätte verspäten können. Aber ich hatte verstanden und aufgepaßt. 

Ich ging einfach weiter. Dann ging ich wie im Schlaf, und dann war es so, als wäre es geschehen. Als ob ich schon nicht mehr da wäre. So, als ginge nicht ich, sondern mein böser Geist, der sich noch lange nach mir herumtreiben wird.

Noch war ich nicht zum Hügel gelangt, wo ich dann kraftlos niederfallen würde und ausruhen wie der Unbekannte Soldat in seinem Grab. Ehre und Tribut habe ich ihm erwiesen. Ich war also noch nicht zum Hügel gekommen, aber es war schon nicht mehr weit, und wenn ich den Kopf hob, konnte ich ihn schon sehen. So kam ich also zu diesem Ort, an dem ich innehielt. Wo ich meinen Schritt verlangsamte und kaum noch voranging, mein Hemd auszog und mir den Schweiß von der Stirn strich.

Das war kein Gedankenblitz, der von irgendwo hervorsprang, sich einfach und klar zeigt, und Verwunderung hervorruft, daß er noch längst nicht in den Kopf gesprungen war sich vielmehr versteckt hatte, um jetzt aufzuleuchten. Das war auch kein Blitz, wie ich ihn kannte. Vielmehr ein Blitz so fein wie Seide, kaum spürbar, den ich versuche festzuhalten, und wenn mir das gelingt, dann probiere ich weiter: ich drehe ihn in alle Richtungen, probiere ihn von allen Seiten, ob sich da vielleicht etwas versteckt: irgendeine Weisheit. Eine allgemeine Wahrheit.

Das war auch kein Wunder, wie sie üblich sind, mir allerdings fremd. Nie habe ich eines gesehen, solange, solange ich voller Sehnsucht lebe. Das ist vielleicht mein unbeugsames Los, mein Feinsinn.

Das ist das Beste für mich, der einzige Sinn dessen, was ich tue. Ohne Zweifel. Das alles ist die Wahrheit. Am besten man geht dahin, wo man will, ohne zur Seite zu schauen, ohne im Kreis zu gehen, nicht umkehren, einfach nur den kürzesten Weg gehen. Das alles ist wahr. Man stimmt zu. Aber gibt es da vielleicht eine Ungerechtigkeit? Ist das für mich, den Sohn der Freiheit, nicht das Leichteste? Ist da nicht etwas Ungerechtes?

Wieder sage ich das, was ich weiß, alles ist wahr, was ich sage und verstanden habe. Daß ich geboren wurde als der, der ich bin, nicht als irgendein anderer. Ich bin der, der ich bin. Mit Nerven unter dünner Haut. Die Augen und Ohren werde ich immer offen halten, und den Verstand, all das ist wahr. Und daß ich verrückt werden kann, das ist wahr.

Aber die Wahrheit ist mehr.  Die ganze Wahrheit werde ich nie kennen, das weiß ich, das ist klar, das ist das klarste von allem. Aber so viel wie möglich, soviel muß man lernen, obwohl es sicher besser wäre, man bleibe am Wegrand sitzen, lehnt sich an einen Baum  oder an ein Gestell, oder streckt sich aus, läßt sich auf den Erdboden fallen und bleibt so, um nicht wieder aufstehen, bleibt nur bewegungslos liegen, nimmt das ganze Gedächtnis zusammen, ruft einen großen Appell an das Gedächtnis  auf und jagt dann alles hinaus in die Luft wie einen Ballon, und dann wird es ruhig, still, so wie es paßt, geeignet in der Erde zu versinken wie ein Mairegen. Das wäre sicher das Beste, und nur das hat Sinn. Aber das ist eine Ungerechtigkeit, sagt mein Feinsinn. So geht es nicht, sagt mein Feinsinn.

So weit wie möglich muß man die Wahrheit erfahren. So viel wie möglich muß man trinken, obwohl das Trinken häufig, so sage ich, das weiß ich, nur Undankbarkeit ist. Bitter wie Wermut, scharf wie Kwas, weißglühend wie flüssiges Eisen. Und blutig, wie ausgegossenes Blut. Das alles ist wahr. Darüber gibt es weiter nichts zu sagen. Aber so viel, so viel wie möglich, muß man trinken. Das ist sehr bitter, aber das ist gerecht, sagt mir mein Feinsinn. Dann kann man niemandem etwas vorwerfen, sagt mein Feinsinn.

Und so näherte ich mich langsam dem Hügel, wischte mit dem Ärmel den nassen Hals und die nasse Stirn ab. Auf dem Hügel war ein Grab, ein Kreuz und ein Hinweisschild, daß hier ein Unbekannter Soldat ruht. Ehre und Tribut habe ich ihm erwiesen, und neben ihm habe ich mich in das trockene warme Gras fallenlassen. Lange bin ich da gelegen, regungslos, ohne einen Gedanken, die Augen zum Himmel gerichtet. Ich ruhte so, wie er ruhte, und so, wie ich es schon einmal gewollt hatte, viele Male und so, wie ich heute den ganzen Tag unterwegs gedacht hatte, vierzig Kilometer weit vielleicht. Aber jetzt schon nicht mehr.

Jetzt bin ich langsam vom Hügel abgestiegen, so wie sich der Himmel zur Erde senkt. Oder  wie man aus dem Grabe aufersteht.  

   *  *  *

Er hat einen Ruf erhalten, sich aufzumachen, aber der Hügel, den er findet, ist kein Berg. Er beteuert, sich stets an die Wahrheit zu halten, die sich ihm aber nicht vollständig eröffnet, als er herabsteigt vom Hügel, hat er keine gültigen Gesetzestafeln unterm Arm, nicht die ganze Wahrheit, hat keine gottgeschriebene Orientierung anzubieten. - Nur eine Randbemerkung, eine Schattierung unter vielen.

Keine Kommentare: