Samstag, 1. Mai 2021

Fahrgastgespräche

Schirmende Hand

Im Westen
Der Erzähler ist oft mit der Bahn unterwegs, so gut wie nie ergeben sich Gespräche mit den Mitreisenden. Auf der ersten Fahrt von Wien nach Venedig mag er einige Worte mit der einzigen Mitreisenden in seinem Waggon gewechselt haben, wie sonst sollte er wissen, daß es eine neuseeländische Schullehrerin war. Im völlig überfüllten Zug der zweiten Reise vertieft er sich auf seinem Koffer hockend ganz in seine Aufzeichnungen. Auf der Fahrt nach Mailand sitzen ihm eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern gegenüber. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte er sich, abwesend und anwesend zugleich, und er bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. Ein Gespräch kommt nicht auf, er greift seinerseits zu einem Buch, in schöner Stummheit fährt man dahin. Etwas anders sieht es auf der Fahrt rheinabwärts in Begleitung der Winterkönigin aus. Sie steht neben ihm auf dem Gang des ICE, beide schauen zum Fenster hinaus, sie beginnt, leise Verse eines Gedichts aufzusagen, offenkundig ein Gesprächsangebot, das er nicht anzunehmen vermag, sich selbst zum Trotz steht er nur dumm und stumm da. Zum ersten Gespräch mit Austerlitz kommt es nicht im Zug, sondern im Bahnhof von Antwerpen, ein Gespräch, das sinnigerweise von Bahnhöfen und anderen Monumentalbauten handelt und im Zug wohl nicht zustande gekommen wäre. Der Erzähler und Austerlitz sind später noch häufig mit der Bahn unterwegs gewesen, aber nie gemeinsam. Zu einem Fahrgastgespräch der beiden ist es nie gekommen, es paßte wohl nicht zu ihnen.

Im Osten
Eine Nachtfahrt, nocna jazda pociągiem, ist für ein Gespräch besonders ungeeignet, umso mehr, wenn die Fahrt nicht auf ein Ziel ausgerichtet ist, sondern auf eine rollende Unterkunft für die Nacht. Bei Fahrten am Tag, dzienna jazda pociągiem, können sich gerade in abteillosen Waggons interessante und vielfältige Gespräche ergeben, die angesichts weltanschaulicher Verschiedenheiten und des unterschiedlichen Bildungsstands der Fahrgäste aber auch Mißstimmungen hervorrufen können. Bei einem gemeinsam erlebten Unglück mag es wiederum anders aussehen, noch unter Schock stehend ist man sich einig. Alle diskutieren und reden wild durcheinander, nur Pradera sitzt, ähnlich wie Adroddwr bei seiner zweiten Italienreise, auf seinem Reisegepäck, nah am Boden, zwischen den Beinen der eng beieinander stehenden Reisenden, Arm am Arm und Bein an Bein. Die brennendene Zigarette hält er unter der schirmenden Hand, um niemanden die Kleidung zu verbrennen. Von allen Seiten fliegen ihm Gesprächsfetzen zu: Er geriet unter die Räder, wurde zerquetscht und kaputt. Es war noch früh für den Expreßzug in die Hauptstadt. Er wollte auf den letzten Wagen springen. Er mußte umkommen und ist umgekommen, Schicksal. Pradera saß schweigend und wie festgezurrt auf seinem Rucksack, eine brennende Zigarette verborgen unter der schützenden Hand, w zwiniętej trąbce dłoni. In Rußland, um noch weiter nach Osten zu schauen, sind die überlangen, oft Tage beansoruchenden Fahrstrecken wie geschaffen für ausufernde Gespräche. Tolstoi mußte nur lauschen und das Gehörte wortgetreu festhalten, und schon hatte sich ein Roman unter dem Titel Kreuzersonate wie von selbst ergeben.

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