Mittwoch, 19. Mai 2021

Miecz Damoklesa

Ein morgentlicher Ausflug


Der Dichter, so heißt es, habe sich in seiner Allgäuer Jugend zunächst durchaus als Nachwuchskatholik bewährt, sei dann aber plötzlich vom Glauben abgefallen, Einzelheiten des Sinneswandelns sind nicht bekannt. Vielleicht konnte er wie Bereyter einfach die katholische Salbaderei nicht mehr ertragen. Verschiedenen Heiligen ist er aber treu geblieben, vom allem seinem Namenspatron, der unter dem Namen San Giorgio in den Schwindel.Gefühlen eine tragende Rolle hat. Auch Stachura, ohnehin zunächst in Frankreich aufgewachsen, hat den polnischen Katholizismus weitgehend links liegenlassen, er zeigt sich dann aber doch immer wieder. Miecz Damoklesa, das Damoklesschwert liest sich weithin wie eine Neufassung des Buches Hiob, Gott zeigt sich nicht und ist offensichtlich seine Aufgaben auch nicht gewachsen. Stachuras grundlegender Erzählrhythmus tritt hier besonders deutlich zutage, das ständige hin und her zwischen banaler Realität und metaphysischen Aufschwung. Die Prosa ist dadurch in einer ständigen Schwebe, der Boden wird verlassen, der Himmel nicht erreicht. Der Text kreiselt, schraubt sich hoch und stürzt ab. Stilistische Finessen gehen in der Übersetzung naturgemäß den Bach runter:

*  *  *

Das Damoklesschwert

Ich bin ausgeschlafen, und das ist ein großes Glück. Zehn Stunden habe ich geschlafen, ohne ein einziges Mal aufzuwachen und ohne böse Träume, nur von verschiedenen bunten Dingen habe ich seltsamerweise geträumt. Zehn Stunden habe ich mit diesen Farben geschlafen. Wenn ich nur wüßte, wem ich dafür danken kann. Jetzt gehe ich munter die Straße entlang, springe das eine und das andere Mal, pfeife vor mich hin.

Ein wenig aufgekratzt gehe ich dahin, denn ich bin froh, über die Maßen froh, ich bin zutiefst von Freude erfüllt. Ein großes Glück. Wieviel Kraft habe ich gewonnen durch den langen zehnstündigen Schlaf: zehn Kräfte. Die Nerven sind nicht angegriffen. Ich habe geschlafen. Zehn Stunden ohne Unterbrechung habe ich im Land der Träume verbracht. Dort war es mir wohl. Einer Eidechse, die an einem Mauerwerk in der Sonne liegt, könnte es nicht besser gehen. Sind die Tierchen nicht im Paradies, wenn sie sich so langsam in der Sonne ausstrecken, an den erwärmten Steinen, die Augen blinzeln, wacht ein Sonnengott während der ganzen Sommerzeit über sie, still, den Wind vertreibend?

So spreche ich vor mich hin in meiner Munterkeit, denn ich habe derart gut geschlafen, und das ist das beste überhaupt in der Welt, etwas Besseres gibt es nicht, allenfalls: ein weiteres Mal so gut schlafen. Ach, wenn es doch möglich wäre, jeden Tag zehn oder doch neun Stunden ohne Unterbrechung zu schlafen, ohne die Dämonen, ruhig für sich dahinschlafen. Wenn ich jeden Tag so schlafen könnte, wie ich heute ausgeschlafen habe, dann könnte ich den ganzen Tag schöne über schöne Dinge aufweisen. Ich könnte dahingehen, promenieren, daß sich die Leute umschauen, und wenn sie neben mir gingen, dann gingen sie anders, nicht wie bisher, ich weiß nicht wie, aber auf jeden Fall gingen sie anders.

Aber das ist sicher unmöglich, jeden Tag so ruhig zu schlafen. Jeder sieht, daß ich nicht mit der Frage anfange, ob es möglich ist, jeden Tag ruhig zu schlafen, denn offenkundig ist es nicht möglich. Darum sage ich gleich zu Anfang, daß es nicht möglich ist, darum verbinde ich sogleich das eine mit dem anderen. Denn wie kann man hier ruhig schlafen? Wie kann man ruhig schlafen, wenn man alles sieht und hört, wenn man die Augen und die Ohren öffnet und zugleich ein wenig Zärtlichkeit empfindet, ich rede nicht von mir, ein wenig Edelmut, ich rede nicht von mir, besser rede ich nicht mehr von mir. Ach, wenn es den Himmel gibt. Wenn es einen Gott im Himmel gibt. Wenn er gut ist, alles sieht und hört, dann frage ich mich, ob er gut schlafen kann. Das weiß ich nicht, ich weiß überhaupt nicht, ob es ihn gibt, einen derartigen Gott im Himmel.

Ist das überhaupt möglich? Alle sehen, daß ich damit beginne: ist das möglich, und ich sage nicht sofort, daß es nicht möglich ist, ich verbinde nicht gleich das eine mit dem anderen, obwohl es vermutlich eine augenfällige Wahrheit ist, daß es nichts gibt im Himmel, so wie es auch nicht möglich ist, jeden Tag ruhig zu schlafen. Und warum sage ich das nicht, fragen sich einige. Aber hat der riesige wissenschaftliche Fortschritt nicht die phantastischsten Dinge erklärt? Sind nicht die geheimnisvollsten Dinge erforscht worden, die reinsten Wunder? Eröffnet sich nicht alles langsam für uns? Die größten, unbegreiflichsten Himmelssphären und die allerkleinsten Objekte: Körnchen, Saaten, Blütenstaub? Darum sage ich nicht ohne weiteres, daß es das nicht gibt, daß es keinen Gotte gibt, weder im hohen Himmel noch im Herzen des geringsten Samenkorns, nirgends. Warum sage ich das nicht sofort, warum sage ich es nicht.

Aus Sehnsucht. O Gott. Ein Daunenfederchen bin ich, ein Blütenstäubchen in diesen unauslotbaren Himmelssphären, schleppe mich von Ort zu Ort, von Planet zu Planet, von Stadt zu Stadt, der Wind trifft mich, die Kälte, der Frost, eine Hundekälte aus dieser Erdkruste, das Schwert des Damokles, Eisen, Feuersbrunst, Ausdünstungen, Lava, das Schwert des Damokles, Eisenbauten, Bleiwolken. Oh Gott, ein elendes Federchen bin ich, ein kleines Blütenstäubchen, und wo soll ich hier das kleinste bißchen Liebe suchen? Wo ist hier ein Stückchen Erde, wo kann ich hier aufblühen, bei diesen Blechen überall, jeder Schritt ein Blech, Eisen, Beton, ein Tribunal, das Schwert des Damokles, oh Gott, mein Gott, warum gibt es Dich nicht? Wo bist Du? Wo hast Du Dich hinbegeben? Wohin hast Du Dich gewendet, mein Gott? In welche Gegenden?

Ich sitze zum Beispiel in einem Café, suche Dich, schaue, blicke um mich in die Runde, die einen lachen, die anderen nicht, die einen trinken Kaffee, die anderen Tee, wieder andere Obstsaft, die einen lesen ein Boulevardblatt, andere auch, der Herr dort hat graue Haare, die junge Frau violettfarbene, die ältere Frau grüne Haare, die Frau da trägt eine Korallenhalskette, der Mann, der mit ihr spricht, hat ein Drei- oder Vierfachkinn und der junge Mann trägt eine dunkle Sonnenbrille, obwohl es Abend ist, später Abend sogar, die Sonne ist längst untergegangen, oh, längst schon ist die Sonne untergegangen, auf den Tischchen stehen Blumenvasen mit Gänseblümchen, ich sehe, sehe alles, höre, halte Augen und Ohren offen, aber Dich, Dich sehe ich nicht, mein Gott, sehe Dich ganz und gar nicht, ich würde Dich betrachten, so wie Du bist, wie Du wärest, wenn Du nur Dein Wort wärest, Dein göttlicher Finger, Dein Geist, Dein winziges Stäubchen, Partikel, Krümel, minimales Teilchen, aber ich bin, ich bin, ich bin hier.

Nun bin ich am Bahnhof, im Speisesaal, der Winter, Frost und Wind haben mich hierher getrieben, ich rauche eine Zigarette und trinke gewärmtes Bier, ich ziehe an der Zigarette und sehe wie andere Bier trinken oder essen, Bigos vornehmlich, die jungen Burschen aber essen etwas anderes und das bleiche Mädchen aus der Küche ist mit dem Essenwagen unterwegs und sammelt die schmutzigen Teller ein, die schmutzigen Gläser, die schmutzigen Seidel, das ganze schmutzige Geschirr, einer von den Burschen gefällt ihr, denn sie lächelt ihn an und er lächelt sie an, daneben streiten sich zwei schon die ganze Zeit seitdem ich hinzugekommen bin, vielleicht haben sie sich schon gestritten, als ich noch nicht da war, als ich noch woanders war, als ich Dich woanders gesucht habe; sie streiten sich also, ich weiß nicht worum es geht, der eine trinkt Bier, der andere ißt Bigos und unterstellt dem anderen, er habe Leute ertränkt, einer von den jungen Leuten, der daneben steht lacht und sagt: bul bul bul, und der, der Leute ertränkt hat sagt dem anderen, er sei ein Hitleranhänger, er selbst aber habe als Partisan tausend Hitleranhänger umgebracht, darauf der andere, du bist ein Bandit, ein Schurke und kein Partisan, darauf der Partisan zum Hitleranhänger: du Lump, du Mistvieh, und dann sagen sie plötzlich nichts mehr, sie hören plötzlich auf zu reden, sie schauen sich nur an, ermorden sich mit den Augen, wenn das möglich wäre, wenn es möglich wäre, daß sie sich beißen wie tollwütige Hunde, sich ertränken in einer Wasserlache, und plötzlich ruft das Mistvieh dem Banditen, der seinen Bierseidel in der Hand hält, zu: Was guckst du, hast wohl Hunger, was? Der Bandit antwortet voller Hohn: du Mistvieh, du Scheißkerl, und zieht eine Halbliterflasche Wodka aus der Tasche. Siehst du, hörst du, fragt er. Aus der anderen Tasche zieht er ein Bündel Bargeld, hält es ihm vor Augen und vors Ohr, andere versammeln sich um die beiden, junge Banditen hauptsächlich, lachen und stacheln die beiden an zum weiteren Wortgefecht, das sich, so die Hoffnung, in einen Faustkampf verwandelt, das ist ihre Hoffnung, ich sehe das, sehe alles und höre, halte Augen und Ohren auf, aber wo bist Du, mein Gott, ich sehe Dich hier nicht, ich würde Dich sehen, Dich sofort finden, wenn Du da wärst, ich suche Dich überall, rundum im Kreis, überall, wo ich bin.

Ich sitze in einem Zug, komme zurück aus den Bergen, hatte mich dort für eine gewisse Zeit aufgehalten. Das Jahresende rückt heran. Alles ist leer. Ich sitze für mich in einem Abteil. Am Fenster zwei Frauen, nicht jung und nicht alt, die eine sagt, mehr zu sich selbst: Die Blätter fallen schon, schauen Sie. Die andere: Es ist Herbst. Und wieder die erste: Ich mag es nicht, wenn die Blätter fallen, es ist mir unangenehm. Die ander: Ja, es wird einem traurig zumute. – so reden sie miteinander. Nicht jung und nicht alt, aber eher alt als jung.

Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Herbstfarben: eine großartige Rotfärbung, andere großartige Farben, einen Abhang sehe ich, wie zum Berühren hingestellt, zum Anfassen, der Himmel verborgen hinter wandernden Wolken, Bäume den halben Abhang hinauf, Felder, Wiesen, das meiste Land bearbeitet, einige Felder schon neu gepflügt, für den Winter, schon für die Neubepflanzung, der Mais ist noch nicht zu sehen, worauf wartet er, auf Regen? Später werden sie den Mais vom Feld holen, wenn es für kurze Zeit aufklart, aber er wird ihnen dann in der Scheune vermodern, Schimmel wird ansetzen, er wird vergammeln, man wird Garben binden und sie auf der Tenne zum Trocknen auslegen, die Maschinen sind ratlos, Dreschflegel wird man einsetzen, aber so oder so wird man nicht gut schlafen, wie es sich gehört, man wird sich schlaflos wälzen, und wo bist Du, Gott, wo bist Du?

Ich bin immer noch im Gebirge. Dieselbe Herbstzeit des Jahres, dieselbe Stunde, nicht gerade dieselbe Minute, aber auf jeden Fall dieselben zehn Minuten, denn mehr Zeit ist nicht vergangen, seit ich aus dem Fenster schaute auf den zum Anfassen nahen Hang, auf die kupferroten Farben und aus dem Zug sprang, denn ich wollte noch einmal durch die Felder laufen und über die Abhänge: eine Sehnsucht für die Zeit, bevor ich wieder zurückkehre ins Gebirge und mich erneut dort befinde. Ich sprang aus dem Zug, der langsam fuhr und die ganze Zeit bremste, denn ziemlich steil ging es nach unten, würde er nicht bremsen, ginge es rasend dahin, so als sei er ganz ohne Bremsen, als seien sie außer Kraft, dann würde der Zug dahinjagen in die tiefliegende Ebene und erst dort zum Stehen kommen, wenn es ihn nicht zuvor aus den Gleisen geworfen hätte in einer tödlich engen Kehre, oder mit einem entgegenkommenden Zug kollidiert wäre, das wäre ein schreckliches Unheil, eine schreckliche Klage würde sich erheben in den Städten, Dörfern und Vororten. Und wie dringlich war die Hoffnung gewesen, noch einen Tag in dem Gebirgsferienort bleiben zu können, vielleicht war ihm das Geld ausgegangen, vielleicht hatte sie sich für diesen Zug verspätet, vielleicht fehlte auch ihr das Geld, sie kennt hier niemanden, von Fremden wird sie kein Geld erbitten wollen, die beiden treffen und verlieben sich auf den ersten Blick und bleiben noch einige Tage, sie beschließen, jedenfalls noch einen gemeinsamen Tag hier zu verbringen; groß ist die Hoffnung, daß sie nicht an dem vorbestimmten Tag den vorbestimmten Zug besteigen, all diese Blüten der Hoffnung. Und dann kommt ein Telegramm mit wenigen Worten, wenigen Worten. Mein Gott. Nun läßt sich schon keine Hoffnung mehr finden, die Blüten der Hoffnung verwandeln sich in einen Totenkranz.

Wo warst Du, mein Gott? Warst Du anwesend? Hast Du gesehen, wie es passierte? Hast Du den Knall gehört, Metall gegen Metall? Das schreckliche Kreischen, Metall gegen Metall? Hast Du gesehen, wie sich alles zur Seite neigte, wie es splitterte, wie die Scheiben zerbrachen, als wären sie nichts, hast Du den Knall gehört, den Absturz, den Donner. Hast Du diesen Höllenanblick wahrgenommen? Und hast Du dann gesehen, wie die aufgerissenen Waggons immer langsamer und langsamer wurden? Und hast Du gehört, wie das vernarbte Blech noch einmal aufbegehrte, wie das klang, wie das Meeresrauschen in einer Muschel? Hast Du das alles gehört und gesehen? Hattest Du die Augen und Ohren geöffnet? Warst Du dort? Wo warst Du? Wo?

Warst Du vielleicht da? Kann es sein, das Du dort warst? Mittendrin? In der Hölle? Vielleicht hast Du alle gesehen, ihre Gesichter, ihre Augen? Vielleicht hast Du diesen Anblick erlebt? Vielleicht hast Du auch gesehen, wie sie sich trafen: er und sie? Wie sie einander getroffen haben? Denn es ist nie zu spät. Wie sie gemeinsam diesen Zug bestiegen haben, jeder für sich, und erst dann haben sie sich erblickt, sie ihn, er sie. Und als sie sich anschauen, haben sie alles vergessen, ihr ganzes bisheriges Leben, ihre Verwandten, ihre Namen, Vornamen, alles, und sie kamen zueinander, den Waggon entlang, kamen zueinander, lächelten auf eine wundervoll schüchterne Art, sahen nichts, hatten nicht im Sinn, daß sie ins Verderben fahren, fühlten nichts, wie das Volk zerdrückt wurde, in all der grenzenlosen Hysterie kamen sie einander näher, sie gingen zueinander, immer enger und enger, aber ich kann nun nicht mehr, ich kann nicht weiterreden, denn der Atem stockt mir und ich habe schon keine Worte mehr, nur Tränen habe ich in den Augen. Ich weine.

Ich weine. Ich gehe die Straße entlang und weine. Die Tränen fließen mir zum Mund. Nur wenig zuvor war ich so froh gewesen, bin gegangen, fröhlich gesprungen. Jetzt aber weine ich. Der ganze Körper zittert vom Weinen.

*  *  *

Berichtet wurde von einem morgentlichen Ausflug nach einem ausführlichen und erholsamen Nachtschlaf, man denkt an den Dichter und seine wundersame Übernachtung in der Goldenen Taube in Verona. Äußerlich passiert nichts, der Umschwung von Frohsinn zu purer Verzweiflung vollzieht sich allein im Kopf, einige sprechen von der Seele.

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