Samstag, 15. Mai 2021

Straßen

Bei Tag und bei Nacht


Jeden Morgen machte er sich auf und legte in der inneren Stadt anscheinend end- und ziellose Wege zurück, von denen keiner, wie sich zeigte, über einen genau umrissenen Bereich hinausführte. Das oft stundenlang fortgesetzte Kreuzundquergehen in der Stadt hatte dergestalt die eindeutigste Eingrenzung, ohne daß es ihm je klargeworden wäre. Das ständige Gehen und die Unfähigkeit, die unsichtbaren und völlig willkürlichen Grenzlinien zu überschreiten, war das eigentlich Unbegreifliche an seinem damaligen offenkundig krankhaften Verhalten. Nachtmenschen sind anders als Tagmenschen, was wäre gewesen, wenn er nachts noch einmal hinausgegangen wäre auf die große breite Straße, besser gesagt auf den fünf Meter breiten Gehweg, chodnik, bepflanzt mit liebevoll gepflegten Bäumen, daneben die eigentliche Straße fünfmal so breit. Viele Menschen sind unterwegs, obwohl es schon weit nach elf Uhr ist, die Sonne längst untergegangen, so wie es ihre Art ist unterzugehen: mit großer Bescheidenheit. Ein junges Paar kommt ihm entgegen, er hört, wie das Mädchen sagt: Ich glaube, ich tanze gut. Sicher hat sie recht, er lächelt dem Paar hinterher. Nicht immer und überall stellt sich die nächtliche Straße so menschenfreundlich da, Austerlitz, um die Überlegungen abzuschließen, hat auf seinen endlosen Nachtgängen durch London kaum jemals jemanden getroffen, er war wohl nicht auf der richtigen Straße. Nicht die richtige Straße, oder die englischen Nachtmenschen unterscheiden sich grundlegend von anderen Nachtmenschen, oder das eine ist so wahr wie das andere.

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