Montag, 17. Mai 2021

Schnee

Im Nichts


Schnee ist die beliebteste Niederschlagsart, Regen, Hagel, Tau, Graupel, Reif, Nebelnässen und was es sonst noch gibt, kommen da nicht mit. Dabei ist es durchaus zwiespältig mit dem Schnee, er hat ein freundliches und ein feindliches Gesicht. Das freundliche Gesicht verzaubert die Landschaft und erlaubt den beliebten Wintersport, Lawinen und Schneesturm aber können den Tod bringen. Im Voralpenland konnte man zum Winteranfang zuverlässig mit Schneefall rechnen, mit kräftigem, aber kaum mit feindlichem, tödlichem Schnee. Als Kind mochte man wünschen, alles würde zuschneien, das ganze Dorf und das Tal bis zu den obersten Höhen hinauf, im Frühjahr aber würde es auftauen und alle kämen unbeschadet hervor aus dem Haus. Jan Pradera hat als Erwachsener eine ähnlich zwiespältiges Schneeerleben mit gutem Ausgang wie Adroddwr als Kind: Schnee war in den Augen, er war wie Sand in den Augen und der Nase, auf den Lippen, wenn man sie von Zeit zu Zeit öffnete, um ein wenig Luft zu schöpfen, Luft, die irgendwie nicht da war, denn alles war in den Schnee gestopft, in alle seine Zimmern und Vorzimmern, in seine Geldschränke, auch alle Verstecke und Schlupfwinkel waren mit Schnee verstopft wie die Felder, hier im Wald war es deutlich besser, seltsamerweise im Wald besser als auf dem Feld, er ging mit nach vorn gebeugtem Kopf, den Rucksack auf den Schultern und mit einer großen Kugel voller Milde und Wehmut in der Brust, ein lebendige Feuer loderte in der Brust. - Gelegentlich seiner Beschäftigung mit Joseph Conrad kommt der Dichter auf den beglückenden Schnee zurück. Versorgt mit einem bis an die Fußspitzen reichenden Mantel aus Bärenfell und einer enormen, mit Ohrenklappen versehenen Pelzmütze besteigt Korzeniowski den Schlitten, der gleich darauf anruckt. Begleitet von dem leisen, gleichmäßigen Schellengeräusch wird es einer Wintereise zurück in die Kindheit. Schon begann die Dämmerung sich auszubreiten, wie eine große, rote Scheibe senkte die Sonne sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Der Schlitten fuhr in die nun einbrechende Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatteninseln die von Bäumen umstandenen ukrainischen Dörfer trieben.

In Krieg und Frieden wird von einer wohl noch beglückenderen Schlittenfahrten der jungen Rostows, Natascha und Nikolai, erzählt, zweimal aber wendet Tolstoi sich der feindlichen Seite des Schnees zu, einmal in der frühen Erzählung Метель (Schneesturm) und dann wieder in der späten Erzählung Хозяин и работник (Herr und Knecht). Метель, der Schneesturm, ist insofern nicht feindlich, als sich keine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben der Schlittenfahrer ergibt, die Folgen des Sturms beschränken sich auf Richtungszweifel, Umwege und Zeitverlust. Herr und Knecht handelt mit dem Tolstoi eigenen souveränem Ernst und ebenso souveräner Kargheit von der Übermacht der Natur gegenüber menschlicher Planung und menschlichem Handeln. Der Chosjain denkt nicht im entferntesten daran einen wichtiger Handelsabschluß dem Unwetters zuliebe aufzuschieben, auch dann nicht, als die Welt gleichsam vom Weiß der Schneelandschaft verschluckt wird und verschwindet, so daß der Schlitten schon nach kurzer Zeit alle Wege verfehlt und orientierungslos dahinfährt. Aus purem Glück stoßen Herr und Knecht auf eine menschliche Behausung, Unterkunft wird ihnen gewährt, doch nach einigen Tasse belebenden Tees drängt Chosjain erneut zum Aufbruch. In der detailreichen, peniblen Schilderung der Unangemessenheit menschlicher Ansprüche und der Nichtigkeit menschlichen Handelns, symbolisiert in der Irrfahrt zum Tode im Schnee, kommt Tolstois Genie zum Tragen. Auf Chosjains Bekehrung, als es für ihn schon zu spät ist, muß weiter nicht eingegangen werden.

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