Freitag, 21. Mai 2021

Poranek

Frühmorgens

Jeden Morgen machte er sich auf und legte in der inneren Stadt anscheinend end- und ziellose Wege zurück, von denen keiner, wie sich zeigte, über einen genau umrissenen Bereich hinausführte. Das oft stundenlang fortgesetzte Kreuzundquergehen in der Stadt hatte dergestalt die eindeutigste Eingrenzung, ohne daß es ihm je klargeworden wäre. Über die Wege hatte er offenbar nicht nachgedacht, hatte er überhaupt gedacht, und wiederum, ist es möglich, im Wachzustand nicht zu denken?

 

*  *  * 

Nur sehr selten denke ich an nichts. Nur sehr selten gehe ich vor mich hin, und nichts geht mich etwas an, ich denke an nichts, gehe nur so dahin. Meistens ist viel Betrieb in meinem Kopf. Das ist vielleicht irgendein Fehler, irgendeine psychische Erkrankung, daß es mir nur selten gelingt, an nichts zu denken. Ich denke dann gleichsam gar nichts. Ich denke, das ist gut. Es liegt wohl daran, daß ich ein kluger Bursche bin. Ich habe sozusagen immer etwas zu bedenken. Aber gern würde ich ab und zu lieber nichts denken. Sehr gern würde ich ab und zu nichts denken, nur gedankenlos dahingehen, oder einfach so dasitzen mit leerem Kopf, für einige Zeit dem Leben einfach nur hingegeben. Ich denke, eine kleine Erholungspause ab und zu wäre nicht schlecht. An den Abenden könnte das sein, um dann einfach einzuschlafen, in keine Anspannung, kein Lärmen zu geraten. Ein stiller Traum wäre das beste und beruhigend auf jeden Fall. Denn wenn ich mit angespannten Gedanken einschlafe, dann entwickeln diese Gedanken sich weiter und werden zu Ungeheuern. Und der arme Kopf kommt gar nicht zur Ruhe, arbeitet die ganze Zeit weiter, die ganze Zeit lärmt es im Kopf, wenngleich es so aussieht, als sei es ein schlafendes totes Meer. Aber das ist nur oberflächlich. In der Tiefe lärmt es. Braust es.

Hallo, junger Mann, Endstation. Der Schaffner stößt mich leicht an. Nicht einschlafen, Sie werden noch beraubt. Ich schlafe nicht, sage ich zum Schaffner und steige aus der Bahn. In einem Dorf, in dem ich einmal in der Landwirtschaft gearbeitet habe, gab es eine Kuh, die Wojna, Krieg, genannt wurde. Sie war während eines Bombenangriffs taub geworden, und da hatte man ihr diesen Namen gegeben. Wenn sie nicht an einem Seil war und gezogen werden konnte, dann mußte man sie anstoßen und wenn in den Dorf jemand vor sich hin träumte, dann stieß man ihn an und sagte: Wojna.

Ich ging die Chaussee entlang, ging weder zu langsam noch zu schnell. Es war beileibe nicht Abend. Ganz im Gegenteil. Es war früher Morgen. Es war ein herbstlicher früher Morgen, obwohl es vielleicht so aussah, als wäre es Abend, denn auch ich dachte ein wenig an Schlaf, und der Schaffner hatte gesagt: Schlafen Sie nicht. So gesehen kannte es wie ein später Abend aussehen, Nacht geradezu. Es mochte aussehen wie eine späte Rückkehr mit dem Nachtzug. Aber nein. Es war der Morgen. Es war fünfuhrfünfzig auf der großen Uhr im Bahnhofsbuffet. Ich hatte bis fünf Uhr in der Frühe geschlafen, ununterbrochen seit ungefähr halb elf, denn ich war erledigt gewesen. Bis gestern hatte ich drei Tage mit den Waggons zu tun gehabt, Kohle aufladen. Drei Tage also war ich abends völlig erledigt gewesen und hatte gut geschlafen. Ich ging dann morgens zum Bahnhof, dann hat man immer ein Dach über dem Kopf und man kann dort schon in der Frühe etwas essen und etwas Warmes trinken. Heute ging ich besonders früh zum Bahnhof, um halb sechs, bestellte einen Tee, ein Kotelett und zwei Semmel. Ich aß in aller Ruhe ungefähr eine Viertelstunde, rauchte dann die erste Zigarette des Tages und stand auf. Stand auf und kaufte am Buffet zwei Kottelets und vier Semmel, steckte das in den Rucksack, ging zur Straßenbahn und bemerkte gar nicht einmal, daß ich dort hinfuhr, wo ich hinfahren wollte, dorthin, wo die Stadt aufhört und die Welt beginnt. Ich dachte ein wenig nach in der Bahn, und der Schaffner stieß mich an, weil er dachte, ich schlafe. Jetzt ging ich die Chaussee entlang, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Einige Autos fuhren vorbei, ich versuchte aber nicht, eins anzuhalten, denn ich hatte Lust zu gehen. Am Kopf spürte ich die Bewegung der Luft, mir war wohl zumute, mir war wohl, denn ich träume nicht von einer großen Karriere, von einer großen Zukunft, sondern davon, daß ich immer eine Scheibe Brot habe und dann und wann eine Arbeit und daß mein Leben lang gesunde Beine und einen gesunden Verstand habe, das wäre für mich das fortwährende Glück. Denn ich träume nicht von einer großen Karriere, das fiele mir im Traum nicht ein. Nicht, daß ich keine Ambitionen und Fähigkeiten hätte. Mam, ich habe sie. Aber nicht dahingehend. Nicht in dieser Richtung. Denn schon seit langem, seit sehr langem habe ich diese Überzeugung und habe viel in dieser Richtung in den städtischen Bibliotheken studiert und ich dachte und weiß, daß die ganz oben nicht ganz oben sind, sondern die ganz unten sind oben. Man muß ihnen die Hand küssen für ihre Erniedrigung. Aber nicht denjenigen im leuchtenden Glanz. Oh, die meisten von ihnen sollten von Hunden zerrissen werden oder von Rabenvögeln. Wird es irgendwann Gerechtigkeit geben? – so fragen viele arme Leute seit Jahrhunderten und sie sind ohne Antwort gestorben. Neue arme Leute sind gekommen, neue wurden geboren in diesen Städten, wieder haben sie gefragt, keine Antwort. Und einer und ein zweiter und ein dritter sind aufgestiegen zum Weltenglanz, immer höher, auf die allerhöchsten Ebenen, haben auf ihrem Weg alles vergiftet, was sie hinderte, was sie hätte verhöhnen können, was sie beschämt hätte, wenn sie denn noch einen Rest von Schamgefühl  gehabt hätten. Wenn sie noch einen Rest Schamgefühl hätten, dann hätten sie Gift in ihre Kristallkelche geschüttet, tatsächlich aber sind sie immer weiter nach oben geklettert, Gott aber hat es gesehen und einige berühmte Historiker, die armen Leute aber haben wieder gefragt: Wird es irgendwann Gerechtigkeit geben? Und sind ohne Antwort gestorben. Wie oft ist diese Frage schon über unsere Lippen gekommen.

Aber das sind große Karrieren: Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius der Stammler und andere. Viel und aber viel habe ich darüber in den Stadtbibliotheken gelesen, wenn es draußen regnete, schneite und der Wind wehte olala, oder der Frost kniff.

Einige Autos fuhren vorbei, aber ich habe keins angehalten, weil ich weiter noch laufen wollte. Zudem eröffnete sich trotz allem, trotz allem schrecklichen menschlichen Unheil, Hunger, Krieg, Seuchen, Feuerbrunst und Überschwemmung, trotz allem also breitete sich auf beiden Seiten der Straße das Wunder der Natur aus. Die Sonne erhob sich auf der rechten Seite und über der Straße erhob sich ein Nebel, die Feuchtigkeit des Bodens erhob sich, in schwer und in breiten Wogen, langsam, fast ohne Bewegung, nicht so wie im Sommer am frühen Morgen, wenn die Sonne auf einen Schlag aufgeht und den Dunst über den Feldern geradezu verjagt. Wenn ich nur mein Leben lang, so sage ich, ein Stück Brot in den Mund schieben kann und wenn ich weiter gesund bleibe und wie jetzt am Morgen auf der Chaussee entlang gehen kann, dann ist das für mich die schönste Karriere und Schöneres erträume ich mir nicht und traue mich auch nicht, es zu erträumen.

Karrieren. Die größten und prächtigsten Karrieren, was sind sie gemessen an diesem Morgen, an der Sonne, die so prächtig aufgeht. Wozu, so frage ich, hat man Augen? Ich bin jetzt stehengeblieben, bin stehengeblieben und schaue nach Osten, die Augen sind zu dieser Stunde dafür bestimmt, die aufsteigende Sonne zu sehen. Denn das ist der wahre und wirkliche Ruhm und ich sage noch einmal, das die Menschen zu dieser Stunde über die Schwelle ihres Hauses treten müssen, denn viel ist uns nicht gegeben, nicht viel ist uns gegeben. Denn eines wissen wir, wir wissen das Wichtigste von allem, daß wir irgendwann und irgendwo, irgendwann und irgendwo sterben, daß man uns mit Erde bedeckt, mit Sand, in der Dunkelheit. Eine ewige Dunkelheit bedeckt uns und nirgendwo berührt uns mehr ein Licht, spiegelt sich in unseren Augen ein Glanz. Aus diesem Grund, im Gedenken daran sage ich, daß die Menschen im Morgenlicht über die Schwelle ihres Hauses treten müssen, um den beginnenden Tag zu begrüßen, die aufgehende Sonne am Horizont. Denn, wen man bedenkt, irgendwann, irgendwo … Was kommt dem Tod gleich? Was läßt sich vergleichen mit dem unvergleichbaren Tod? Gibt es so etwas? Eine Trompete vielleicht, eine Trompete, die aufspielt, ist das nicht eine schreckliche Sache? Oder eine Kriegstrommel. Im ersten Augenblick, auf den ersten Blick sind das Dinge schlimmer als der Tod. Aber das gilt nur für den ersten Moment, sage ich. Dann liegt die Trompete schon auf der Brust des toten Trompeters, und die Trommel ist zerfetzt wie der Bauch des Trommlers.  Und was ist über ihnen? Was kreist über ihnen? Der Tod. Und die Sonne. Denn sie allein kann sich vergleichen mit dem unvergleichlichen Tod.

Oh, ich, der ich weiß und der ich nicht vergesse, daß der Tod mich eines Tages erfaßt, ich begrüße die aufgehende Sonne jeden Morgen mit schrecklicher Freude, und ich lerne, jeden Tag einfach und klar zu leben und ich lerne zugleich, die unbegreifliche Traurigkeit nicht zu vertreiben, denn sie läßt sich nicht vertreiben, man muß sie ertragen als sein Schicksal, nicht wie Sommer- und Winterschuhe, sondern wie den von Schmerzen geplagten Kopf.

Ich ging weiter meines Weges. Die Sonne erhob sich langsam und es wurde ein wenig wärmer, in zwei, drei Stunden aber wird es noch wärmer sein, wenn auch die Sonne im November nicht allzu hoch steigt. Und sie wird sich immer weniger erheben, jeden Tag wird sie ein wenig niedriger verweilen, auf einer immer niedrigeren Umlaufbahn. Dafür aber beginnt mit den neuen Jahr ein neuer Aufschwung. Jeder nachrückende Tag wird ein wenig länger, die Sonne steigt ein wenig höher auf ihrer Umlaufbahn, es wird Frühling, Sommer, und dann muß man, um die Sonnenbahn zu zeigen, weit ausholen mit dem Arm.

Ein Schauder überkommt mich plötzlich, und es ist mir, als wollten die Knie einknicken. Was ist es wirklich, daß mich ab und zu ein Schauder durchläuft und die Knie einknicken auf einem einfachen Weg ohne Stolpersteine? Manchmal mag es an der Kälte liegen, aber so kalt ist es jetzt gar nicht, wie eine plötzliche Erschütterung ist es. Die Leute sagen, der Tod durchläuft den Menschen. Das ist sehr bildhaft gesprochen, aber nicht nur, es ist wie eine Warnung, bescheiden zu sein und den Tod nicht zu vergessen, denn er ist überall und kann den Menschen in Stücke zerreißen, auch wenn der ihn nicht erwartet.

Der Mensch erwartet so etwas eher nicht, so ist es. Nehmen wir zum Beispiel folgendes. Das ist mir gerade in den Sinn gekommen. Wir sehen einen Nekrolog an einer Mauer und kennen den Namen nicht. Wir treten näher heran an den Aushang, nur ein paar Schritte noch, und lesen den Namen unseres Bekannten – er ist tot. Wir treten noch näher heran und sehen, Alter und Beruf passen nicht zu unserem Bekannten. Warum komme ich darauf zu sprechen? Deshalb, weil unser Bekannter mit diesem Namen irgendwo herumging oder saß und etwas trank und in keiner Weise damit rechnete, daß er für jemand anders tot war, daß er gleichsam von dort zurückgekommen ist, von wo man nicht zurückkommt.

Ich stand ein wenig herum. Ich schaute nach hinten, zur Stadt, die sicher schon völlig erwacht war, den es war schon um die acht Uhr, die Leute unterwegs zur Arbeit, die Kinder zur Schule, viel Bewegung herrscht jetzt. Immer wenn ich in der Stadt bin und dieses Treiben betrachte, wenn alle es ständig eilig haben, dann denke ich, daß dieser gewaltige städtische Verkehr gar kein Verkehr ist, sondern eine sogenannte Illusion. Alles rennt und flitzt hier und dort hin, so schnell wie irgend möglich. Abends aber befinden sich alle dort, wo sie am Morgen aus ihrem Federbett gesprungen waren. Das hört sich vielleicht ein wenig albern an, aber gar nicht bösartig, denn darum geht es nicht, ich bediene mich nicht der Bösartigkeit. Ich leide unter bösartigen Menschen. Das sind schlimme Typen. Üble Typen. Ich habe bemerkt, daß nach ihrem Verständnis die Bösartigkeit zum Intelligenzbereich gehört und geradezu einen siebten Sinn erfordert.

Aber ich war schon weit fort. Und ich entfernte mich noch weiter, denn schon lange ging ich wieder voran. Die Stadt blieb zurück und mit ihr der große Scheinverkehr. Und still war es in der Welt. Der Wind zeigte sich irgendwie nicht, und schöne bunte Blätter lagen unter den Bäumen, die auf einen gleichsam göttlichen Lufthauch warteten, um einen letzten Tanz zu tanzen, bevor der erste Schnee fiel, bevor der weiße Tod sie begräbt. Ich nahm einige Blätter auf, um sie genauer zu betrachten, bevor auch mich der Schnee überrascht. Von schöner Gestalt waren sie bei diesem letzten Tanz, in den wunderschönsten Kleidern, die es nur gibt. Nicht zum ersten Mal hebe ich Herbstblätter auf und betrachte sie, das mache ich jedes Jahr, und ist mein Entzücken bei diesem Mal geringer als beim ersten Mal? Keineswegs. Und ich muß wohl gar nicht erst sagen, daß es umgekehrt ist. Ganz ähnlich ist es mit bestimmten Melodien, die man immer wieder hört, ohne sie leid zu werden, im Gegenteil, man entdeckt immer neue Schönheiten, und man hört sie nicht mehr nur mit den Ohren, der ganze Körper hört und gibt sich hin. Ich schaute auf die Blätter, auf die noch nie getroffenen Farben, und ich fühlte, daß nicht allein meine Augen betroffen waren, sondern der ganze Körper und sogar die Beine und die Schuhe, und sogar die Schultern im Rücken unter dem Hemd, und die Stirn fühlte ich, wie sie mich anschaut. 

Der Wind aber wollte sich nicht zeigen. Das war ziemlich seltsam für diese Jahreszeit. Der November und der Dezember sind nämlich die bevorzugten Monate für Wind und das Dahintreiben dunkler Wolken. Aber her war es ganz still. Und schön. Obwohl es nicht eine überwältigend schöne Gegend war, war es doch abwechslungsreich und reich, nur eine gewöhnliche Ebene, eine gewöhnliche Chaussee mit ungleich gepflanzten Bäumen, hier und dort niedrige Büsche, ganz kahl, ohne Blätter, aber mit roten Früchten, rote Kugeln, und es sah so aus, als ob aus den Büschen reines Blut tropfe. Das war sicher einer der letzten dieser Tage.

Das war sicher einer der letzten dieser Tage. Ich weiß, wenn der Wind jetzt auffrischt, dann gibt er nicht wieder auf, dann versteckt er sich nicht wieder, er wird dahinfegen bei Tag und bei Nacht. Ich sehe, wie die Wolken jetzt am Himmel aufsteigen, den Blick werden sie nicht wieder freigeben, sie werden sich drehen und wenden von der einen Seite zur anderes, und nach ihnen kommen andere, noch dunklere, und die Nacht werden immer früher einfallen, fast schon am Nachmittag, wenige Stunden bleiben nur für den Morgen, dem Tag nur wenige Stunden, und dann fällt die schwarze schreckliche Nacht ein, man streckt die Hände aus und tastet sich durch die schwarze Luft.

 

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Die Erzählung folgt durchgehend einem rhythmisierten inneren Monolog, der durchaus auch spaßhafte Elemente kennt, so wenn als Musterbeispiel eines Karrieristen die doch etwas abgestandenen römischen Kaiser ins Feld geführt werden, oder wenn der Erzähler bekennt, seine Kenntnisse allein der Stadtbücherei verdankt, die er aber ausschließlich bei schlechtem Wetter frequentiert. Aber das sind naturgemäß nur Nebengeräusche, die Stimmung ist kosmisch, klimatisch, existentiell, Morgen und Abend, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Die Themen sind, wie jeder weiß, nicht neu, ungewohnt und fesselnd ist die Art des Vortrags.

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