Dienstag, 22. September 2009

Ambros Adelwarth

Το βλέμμα του Σελυσσέα



Ja sam właściwie mego wujecznego dziadka Adelwartha nie pamiętam.

Erzählt wird von Ambros Adelwarth, einem Großonkel des Selysses, mithin eine Geschichte, so möchte man mutmaßen, wenn schon nicht erster Blicke, so doch erinnerter erster Blicke aus der Kindheit. Doch diese Erwartung wird umgehend aufgehoben. Gesehen habe ich ihn, soweit sich das jetzt noch mit Sicherheit sagen läßt, nur ein einziges Mal, bei einem an die sechzig Personen umfassenden Familienfest. Selbstverständlich ist er mir in dem allgemeinen Trubel kaum aufgefallen. Die folgende Selyssee ist also die Suche nach einem Unbekannten und kaum Gesehenen. Ein Motiv für die lange Suche wird nicht genannt.

Der Familienverband, der sich trifft auf dem Fest, besteht nicht aus denselben Personen, aber doch aus den gleichen Leuten vom gleichen Allgäuer Stamm, wie die Paul Bereyter in der tiefsten Seele zuwideren Einwohner, die er, offenbar im Einverständnis mit dem Dichter, am liebsten zerstört und zermahlen gesehen hätte. Hier ist dieser Menschenschlag so liebevoll dargestellt, wie es liebevoller nicht geht, man nehme nur die Tante Theres, die drei Wochen nach ihrer jeweiligen Ankunft in der Heimat noch aus Wiedersehenfreude weinte, und bereits drei Wochen vor der Abreise wieder vor Trennungsschmerz. Nur wenn sie länger als sechs Wochen bleiben konnte, gab es für sie in der Mitte ihres Aufenthalts eine gewisse, meist mit Handarbeiten ausgefüllte Beruhigung. Bereits in den Schwindel.Gefühlen hatte Sebald die Mitglieder der Seelosfamilie in der Ortschaft W. mit einer ähnlichen, an die niederländische Malerei erinnernden Liebe gezeichnet. Wie der Alltagsmensch Sebald mit diesem Widerspruch umgegangen ist, wissen wir nicht, dem Dichter bereitet er offensichtlich keine Schwierigkeiten.

Der Blick auf Ambros Adelwarth wird über eine lange Strecke der Erzählung ein Blick durch die Augen der Verwandten sein, durch die Augen der Tante Fini und des Onkels Kasimir, die Selysses, die Selysses 1981 in der retirement community in Lakehurst nahe New York aufsucht. Da Ambros Adelwarth um diese Zeit längst tot ist, sind es durchweg erinnernde Blicke und kaum solche, die auf reale Blicke in einer vergangenen Gegenwart zurückgehen, viel aus zweiter Hand, Hörensagen, Annahmen. Der aktuelle Blick muß sich begnügen mit mehreren Photoalben, über die sich Tante Fini und Selysses gemeinsam beugen, an Postkarten und an einem Ölgemälde, das wiederum nur noch als Photospur auf einem Lichtbild vorhanden ist. Ihre Augen benötigt die Tante Fini denn auch kaum: Die Tante schaltete die kleine Leselampe an, behielt aber die Augen weiter geschlossen. Ein erheblicher Teil ihres Berichtes gilt dem Cosmos Solomon, der seinen Lebensunterhalt mit geschlossenen Augen verdient: In einer Art Selbstversenkung versuchte, die inmitten einer sonst undurchdringlichen Nebelhaftigkeit jeweils nur für den Bruchteil eines Augenblicks auftauchende richtige Ziffer zu erkennen. Mit halbgeschlossenen Augen setzte er Mal für Mal auf das richtige Feld. Und es sind nicht nur die Roulettzahlen, die der Cosmo mit geschlossenen oder halbgeschlossenen Augen erblickt: Er habe sich mit der Hand immer wieder vor den Kopf geschlagen und behauptet, in seinem Kopf wahrzunehmen, was in Europa vor sich ging, das Brennen, das Sterben und das Verwesen unter der Sonne auf dem offenen Feld. Schließlich versinkt Cosmo, der Flieger, dem Ambros Adelwarth halb als Diener und halb als Gefährte und Freund über lange Jahre durch die Welt gefolgt war, im Irrsinn seiner inneren Gesichte.

Wenn die Tante aber ihre Augen einsetzen will, dann versagen sie den Dienst: Meiner schwachen Augen wegen habe ich bis auf einzelne Wörter nichts Rechtes herausbringen können. So kommt immer eine zum anderen, lautet Tante Finis Zwischenresümee, eine epische Grundformel, der sich der Erzähler sicher nicht verschlossen hat, denn schließlich kann nur auf dieser Grundlage zur Erfüllung seiner dichterischen Berufung ein Wort das andere geben. Was die Tante nicht gesehen aber vom Ambros Adelwarth gehört hat und wiedergibt, wird von ihr selbst unter den Wahrheitsvorbehalt gestellt: Manche seiner Erlebnisberichte dünkten mich dermaßen unwahrscheinlich, daß ich glaubte, er leide an dem Korsakowschen Syndrom, bei dem der Erinnerungsverlust durch phantastische Erfindungen ausgeglichen wird.

Der Onkel Kasimir resümiert: Je älter der Adelwarth-Onkel geworden ist, desto hohler ist er mit vorgekommen, es war, als werde er bloß noch von seinen Kleidern zusammengehalten; er bestand nurmehr aus Korrektheit, wie die Tante an späterer Stelle ergänzt – bei Paul Bereyter hatte es in Beschreibung eines ähnlichen Sachverhaltes geheißen, er sei von seiner inneren Einsamkeit nahezu aufgefressenen. Was die Erzählung sucht und was wir lesend suchen, ist in gewissem Sinne gar nicht mehr vorhanden. Zweifellos nähern wir uns lesend den Protagonisten an, gleichzeitig aber entfernen sie sich von uns, und besonders in der Adelwartherzählung kann sich der Eindruck einstellen, daß der Titelheld der schnellere ist in seiner Fluchtbewegung. Ist das nicht auch ein Bild unseres Lebens als Odyssee der Suche nach uns selbst, wir glauben uns immer näher zu kommen und werden uns doch immer fremder, bis wir uns dann ganz aus den Augen verlieren, so wie sich die Spur des Adelwarth, wie zuvor schon die des Cosmo, in der Nervenheil- und Geisteszerstöranstalt Ithaca verliert.

1984, also drei Jahre nach dem Ersten Besuch, bricht Selysses erneut auf in die USA , diesmal, um in Ithaca nach den letzten Spuren des Ambros zu suchen. So als sei die dreijährige Unterbrechung und Abwendung vom Ambros Adelwarth noch nicht genug, eröffnet der Erzählstrang über Seiten mit einem ersten Blick, aber natürlich nicht auf Ambros Adelwarth, sondern auf New York State, zeitlupenartige Überholvorgänge auf den Highways, Begegnungen, nach der Art des Selysses mit Empfangsdamen und Hausdienern. In der inzwischen verfallenen Geisteszerstöranstalt Ithaca trifft Selysses auf den unmittelbar von Ambros Adelwarth zur Auswanderung aus dem Leben angeregten Dr. Abramsky, ein Eremit und seltsamer Heiliger vom Schlage des Dr. Selwyn und des Major Wyndham Le Strange, aber soweit noch recht guten Mutes. Vom ihm erfährt Selysses nicht wenig über die Lebens- und Sterbeumstände des Adelwarth, nichts aber, das in dessen Inneres führen würde, aber ein Inneres war nach Einschätzung der Fini und des Kasimir auch schon längst nicht mehr vorhanden.

Die nächste Inkubationsphase, während der sich Selysses nicht erkennbar mit dem Onkel Adelwarth beschäftigt, kein Auge auf ihn wirft, beträgt sieben Jahre. 1991 besucht Selysses Deauville, das ehemalige mondäne Seebad, in dem Cosmo Solomon in der Begleitung von Ambros Adelwarth einen nicht geringen Anteil seiner verzweifelten Spieler- und Lebemannexistenz verbracht hat. Der erste Blick stößt aber nicht auf den Glanz, sondern nurmehr auf den schalen Abglanz der Belle Epoque, in die, in grotesker Übersteigerung und Verdrehung, Selysses sich in einem Traum zurückversetzt. Die Groteske dauert auch noch nach dem Erwachen an, denn ein realer Blick fällt auf die auf das geschmackloseste zusammengerichtete und auf das entsetzlichste geschminkte Person mit einem hoppelnden weißen Angorakaninchen an der Leine und einem giftgrün livrierten Clubman, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt.

Vor mir auf dem Schreibtisch liegt das Agendabüchlein des Ambros – Selysses ist endlich für einen Augenblick in der zeitlich nicht näher bestimmten Gegenwart angekommen, um sie aber umgehend wieder zu verlassen zugunsten der kommentarlosen Wiedergabe der in dem Büchlein geschilderten Ereignisse aus dem Jahre 1913.

Die erzählte Erzählzeit reicht von 1981 bis in die neunziger Jahre, die insgesamt erzählte Zeit reicht bis in das neunzehnte Jahrhundert zurück. Der größere Teil der Erzählzeit bleibt unerzählt. Man darf sich sicher auch nicht vorstellen, Selysses sei die gut zehn Jahre vorwiegend mit Adelwarth beschäftigt gewesen. Nicht nur, daß so gut wie kein direkter Blick auf den Protagonisten fällt, auch jede Fixierung auf ihn als Thema wird vermieden. Wer sehen will, sollte die Augen schließen, das meiste in reine Inkubation. Unerzählt, und das Fazit über Ambros Adelwarth bleibt alles in allem die Leere, und doch lebt er in den Sätzen und Absätzen.

Welche Erzählung Sebalds auch immer man gerade liest, es scheint die schönste zu sein. Tritt man aber zurück und entscheidet sich dann für Ambros Adelwarth, sollte niemand widersprechen. Wenn Sebalds Erste Welt die der wittgensteinesken Asketen ist, so ist die proustianische Gegenwelt, das Leben der Ricchissimi, nirgends so üppig vertreten wir hier; hinzu kommen die Gerüche und Farben des Orients. Dabei geht es naturgemäß nicht um ruhigen Nießbrauch der Güter. Beim Major Wyndham Le Strange ist es, wie zuvor schon bei verschiedenen Figuren Thomas Bernhards, das Ausschlagen und die Mißachtung des Reichtums, das Leben des Cosmo Solomon scheint zu erheblichem Anteil der Kapitalvernichtung gewidmet, und am Ende gelingt es ihm, dem seltsamen Messias, zwar nicht die Güter loszuwerden, aber doch als Ärmster der Armen im seinem Inneren elend zu krepieren und dem Ambros Adelwarth, der gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun aus dem Kreis der schlichten Allgäuer, der Finis, Kasimirs, Theos, Flossies und Theresen, in diese Welt geraten war, in einer Art Witwenverbrennung ein ähnliches Schicksal aufzuerlegen.

.. z wielkiej wysokości, z jednej z owych wież, które giną w niebiosach.

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