Dienstag, 28. September 2010

Corsica

Scornu di lu mondu

Der Name Korsika hat auf mich seit langem eine besondere, mir selber nicht recht erklärliche Anziehungskraft ausgeübt. Bald tauchte die Insel vor uns auf, ein düsteres, noch von Nachtschatten umfangenes Gebirge. Wenig später aber waren wir, in der Höhe, in der wir uns befanden, umgeben von strahlendem Morgenlicht, und auch drunten auf dem Wasser wichen westwärts die Schatten zurück. Der Pegel des Lichts senkte sich nun auf die Steinwüsten oberhalb der Baumgrenze nieder. Es war, als würde auf der Morgenseite der Berge eine graue Stoffbahn eingeholt und Zoll für Zoll ein auf der glatten Fläche des Meers aufgebahrter Riesenkörper enthüllt oder doch die Überreste eines Felsenskeletts, eine Wirbelsäule, ein Schädeldach, eine Kinnlade, Schulterblätter und Rippen, bizarre Formen aus Quarz- und Feldspatgranit, die aufragten aus dem seit der Zeit des Tertiärs andauernd von ihnen abgefallenen Schutt. - Überwältigender ist die Insel vor uns aufgestiegen aus dem Dunkel, als wir sie, angeschnallt auf unseren Sitzen, durch das schmale Fensteroval eines Passagierflugzeugs hätten whrnehmen können. Nicht zum ersten Mal erzeugt der Dichter den bei aller Beglückung auch deprimierenden Eindruck, es lohne sich kaum, mit dem eigenen geringen Vermögen in die Welt zu schauen und besser verließen wir uns ganz auf seinen Blick.

Welche Gestalt Sebalds Korsikabuch angenommen hätte, wäre es denn geschrieben worden, wissen wir nicht, und dem Autor war es wohl längst auch noch nicht klar. Es hätte sich in der Art der Schwindel.Gefühle entwickeln können oder in die Richtung der Ringe des Saturn oder aber in eine noch andere Richtung, die wir nicht erahnen können. Sicher ist nur, es wäre nicht bei einem Reisebuch geblieben, Korsika wäre in der einen oder anderen Art überwuchert worden, so wie Oberitalien im Buch der Schwindelgefühle und Ostengland im Saturnbuch überwuchert sind von den verschiedensten Erwägungen, Betrachtungen und Exkursen; rätselhafte Motivfäden hätten die Insel spinnennetzartig überwoben. So können wir denn auch dem Cavaliere Barbabiètola nicht ohne Vorbehalt folgen, wenn er Sebald zu den Reiseschriftstellern rechnet. Ohne Zweifel ist die Motorik des Reisens unverzichtbar für die Motorik seiner Prosa, die sich dann aber in ganz andere Räume entfaltet. Vielleicht ließe sich sagen, daß das Reisen bei Sebald an der Stelle steht, die bei Bernhard das Schimpfen einnimmt.

Ohne Zweifel wäre das Korsikabuch ein Werk betörender Schönheit geworden, das verbürgen die bereits endgültig literarisierten Stücke wie die kleine, ungemein elegante Erzählung La cour de l’acienne école, in der Selysses für einmal ortsfest bleibt, und eine Postkarte für ihn die Reise nach Porto Vecchio unternimmt, seinerzeit eine ständig von der Malaria heimgesuchte, halbtote Stadt, umgeben von Salzböden, Sümpfen und grünem, undurchdringlichem Busch; oder die unendlich suggestive Eingangszene der Moments musicaux – man wünscht sich Sergio Leone für die filmische Umsetzung: Eine Stunde später, als ich gerade beim Ausbrechen des Unwetters Evisa erreichte und dort im Café des Sports Zuflucht gefunden hatte, schaute ich lange durch die offene Tür hinaus auf den schräg in die Gasse rauschenden Regen. Der einzige Gast außer mir war ein greiser, mit einem wollenen Kittel und einem ausgedienten Armeeanorak bereits für die Wintermonate gerüsteter Mann. Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Aus einem Kassettenrecorder drang eine Art von türkischem Trauermarsch und zwischendurch eine hohe, aus dem Kehlkopf hervorgepreßte Männerstimme. – Hier ist offenbar der Kern der Faszination erkennbar, die Sebald für Korsika empfunden hat, die Verbindung von tiefarchaischen und disparat modernen Elementen, wobei das eine dem anderen in Sebalds Augen an Schrecken nicht nachsteht. Die Moderne ist in der Szene in Gestalt des Kassettenrekorders nur schwach angedeutet, insgesamt aber natürlich weitaus stärker präsent, denn immerhin hat ihre Wiege leibhaftig und wortwörtlich hier in Korsika gestanden, und der Knabe Napulione hat darin gelegen. Die Annahme, das Korsikabuch würde sich um diese Kern und ausgehend von diesem Spannungsfeld entwickelt haben, ist wahrscheinlich nicht übertrieben riskant.

Der Blick zurück in die archaische Welt führt bis zu den megalithischen Zivilisationen in der Gegend von Filitosa und vielleicht noch tiefer in die Zeit, denn aus schwarzen Eingängen und Mauerlöchern schauen die mageren korsischen Katzen, stumm und klug, als hätten sie ein Gedächtnis, das um vieles weiter zurückreicht. Auch in der kaum erst vergangenen Zeit, in der es in Korsika fast nirgendwo Straßen gab, dauerte die archaische Welt noch an, und die Menschen saßen in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnungen so gut wie verurteilt zu lebenslänglicher Gefangenschaft. Von Geburt aus ausgesetzt auf einer Insel, deren Küsten sie nur von Hörensagen kannten, wurde das Tal, in dem sie aufwuchsen und zumeist auch starben, zu einer zweiten Insel inmitten der endlosen Wogen der Vegetation.

Diese Umgebung bot die Gewähr dafür, daß das Prinzip der Blutrache auf der Insel intensiver und länger galt als irgendwo sonst, eigentlich bis in unsere Tage. Zwischen 1683 und 1715 fielen ihr 30 000 Menschen zum Opfer bei einer Gesamtbevölkerungszahl von damals kaum 120 000. Ein böses Wort, ein schiefer Blick genügte oft, um die Rituale der Rache ins Rollen zu bringen. Selbst die unter Anwesenheit zweier sich befehdender Parteien oftmals gelesenen Versöhnungsmessen endeten nicht selten damit, daß man sich gleich nach dem Gottesdienst wieder Beleidigungen an den Kopf warf. In gewissem Sinne wurde der hohe Blutzoll der fortwährenden Rachefeldzüge dadurch relativiert, daß die Toten einigermaßen unbeirrt weiterlebten. Überall zogen sie herum, in kleinen Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film.

Dem ungewöhnlichen, uns jedenfalls in dieser Form nicht vertrauten Verhalten der Toten auf Korsika korrespondieren die ebenso aufwendigen wie zweideutigen Klage- und Bestattungssitten; zweideutig, denn nicht nur beschränkt sich die Kundgebung der ewig währenden Untröstlichkeit der Hinterbliebenen auf das absolute Minimum, sondern sie wirkt fast wie ein den Toten nachgesandtes Schuldbekenntnis, wie eine halbherzige Bitte um Nachsicht an diejenigen, die man vor der Zeit unter die Erde gebracht hat. Und auch bei den dramatischen Trauerveranstaltungen besteht kein Widerspruch zwischen Berechnung und einer echten, tatsächlich bis an den Rand der Selbstaufgabe gehenden Verzweiflung, denn das Schwanken zwischen dem einem Erstickungsanfall gleichenden Ausdruck zutiefst empfundener Seelenschmerzen und einer auf ästhetische Modulation bedachten, geradezu durchtriebenen, um nicht zu sagen abgefeimten Manipulation des Publikums ist ja, auf sämtlichen Stufen der Zivilisation, das wohl bezeichnendste Merkmal unserer verstörten, an sich selbst irre gewordenen Art. Friedhöfe, die dem Nachlaßband Campo Santo seinen Titel verliehen haben, sind auf Korsika überhaupt erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf amtliche Anordnung hin eingerichtet worden. Allen Anschein nach waren die Hinterbliebenen nicht willens oder wagten es nicht, einen Toten fortzutragen von seinem Besitz. Überall, da paese a paese, stößt man darum auf kleine Leichenhäuser, Totenkammern und Mausoleen, hier unter einem Kastanienbaum, dort in einem licht- und schattenbewegten Olivenhain.

Dem blutigen Treiben der Vendetta eng verwandt und nach deren Abklingen gänzlich unverzeichtbar ist offenbar das der Jagd. Obwohl das in früherer Zeit so zahlreich in den Inselwäldern wohnende Wild heute nahezu restlos ausgerottet ist, bricht in Korsika nach wie vor jeden September das Jagdfieber aus. Unrasiert, mit schweren Gewehren und bedrohlichem Gehabe, sehen die Jäger aus wie die kroatischen und serbischen Milizen, die ihre Heimat zugrunde gerichtet haben mit ihrem aberwitzigen Aktionismus, und wie die Marlborohelden im jugoslawischen Bürgerkrieg verstehen auch die korsischen Jäger, wenn man sich auf ihr Territorium verirrt, keinen Spaß. An dieser Stelle und bei diesem Thema hätte man im fertigen Korsikabuch mit einiger Sicherheit eine Ausweitung in Richtung Flaubert und seiner Legende vom Heiligen Julian erwarten können, dieser mit jeder Zeile tiefer in das Grauen eindringende, von grundauf perversen Erzählung über die Verruchtheit der Menschengewalt.

Napoleon, der kleine Korse mit den Worten des Cavaliere Barbabiètola, wurde nun allerdings nicht in einem der versperrten Orte im Landesinneren geboren, sondern in Ajaccio, zu dieser Zeit auch eine recht bescheidene Siedlung, aber mit Blick aufs Meer. Aber nur wenig zuvor, nach der Niederlage von Corte, hatte sich Napoleons Vater mit seiner Frau Letizia, die zu dieser Zeit schwanger war mit dem künftigen Kaiser, durch die wüsten Berge und Schluchten des inneren Landes in die Küstenstadt begeben, und die beiden winzigen Personen müssen auf ihren Mauleseln inmitten des überwältigenden Panoramas oder allein in der finsteren Nacht bei einem Lagerfeuerchen sitzend, ausgeschaut haben wie Maria und Joseph auf einer der vielen Darstellungen der Flucht nach Ägypten. Den Lebensablauf des dann bald geborenen, von den Eltern Ribulione gerufenen Messias, der als Knabe in den Gassen des Quartiers ständig in Streitereien verwickelt war, konnte niemand im voraus absehen, aber was wissen wir denn auch vom Verlauf der Geschichte, der sich entwickelt nach irgendeinem, von keiner Logik zu entschlüsselnden Gesetz, bewegt und in seiner Richtung verändert oft im entscheidenden Moment von unwägbaren Winzigkeiten, durch einen kaum spürbaren Luftzug, durch ein zur Erde sinkendes Blatt oder durch einen von einem Auge zu einem anderen quer durch eine Versammlung gehenden Blick. Rousseau, der sich mit einem Projet de constitution pour la Corse befaßte, hat immerhin vorausgesehen, qu’un jour cette petite ile étonnera l’Europe, wenn er auch nicht wissen konnte, in welch schreckenerregender Weise sich diese Prophezeiung binnen fünfzig Jahren erfüllen sollte.

Beim Besuch der als Museum ausgestalteten Casa Bonaparte fühlt Selysses sich von weiblichen Napoleoniden bedrängt. Weit eigenartiger noch als das Divamäßige ihrer Erscheinung war ihre erst auf den zweiten Blick deutlich werdende, dann freilich umso verblüffendere Ähnlichkeit mit dem Franzosenkaiser, in dessen Geburtshaus sie als Türhüterin amtierte. Ich stieg die schwarze Marmortreppe hinauf und war nicht wenig verwundert, als mich an ihrem oberen Absatz eine weitere Dame empfing, die anscheinend gleichfalls der napoleonischen Linie entstammte. Eine recht bizarre Form des kaiserlichen Fortlebens, und vielleicht kann man mehr auch nicht erwarten, denn einer, allerdings ziemlich apokryphen Quelle zufolge sollen sämtliche vom dem Franzosenkaiser in den europäischen Ländern und Reichen bewirkten Umwälzungen auf nichts anderes zurückzuführen sein als auf dessen Farbenblindheit, je mehr das rote Blut floß auf dem Schlachtfeld, desto frischer schien ihm das grüne Gras zu sprießen. Nur seine Blindheit für farbliche Kontraste hätte den Korsen also veranlaßt und befähigt, das auf der Insel übliche blutige Treiben auf einen mundialen Maßstab auszuweiten. Dinge, die bei nüchterner Betrachtung der kaiserlichen Habenseite zugerechnet werden könnten, finden in Sebalds Korsikafragmenten keine Erwähnung.

So sehr wir das fertige Korsikabuch auch vermissen mögen, die Insel selbst wird aus den Fragmenten vielleicht direkter und vollständiger sichtbar, als das in dem abgeschlossenen Werk der Fall gewesen wäre. Vor allem erleben wir eine wahre Eruption von Landschaftsprosa und baden in den endlose Wogen der Vegetation: Immense Waldungen steigen aus der blauen Düsternis des Solenzaratals über die steilsten Hänge und bis hinan zu den lotrechten Schroffen und Klippen, auf deren Vorsprüngen, Simsen und obersten Stufen kleinere Baumgruppen standen wie Federbusche auf einem Helm. Auf den ebeneren Flächen der Paßhöhe zu bedeckt ein dichtes Kleid der verschiedenen Kräuter und Sträucher den sanften Boden, und aus all den niedrigen Pflanzen heraus streben die grauen Stämme der Larizio-Pinien, deren grüne Schirme weit, sehr weit droben zu schweben scheinen in der vollkommen klaren Luft. Durch ein Unwetter wird die Landschaft zusätzlich dramatisiert: Ein Sturmwind erhob sich und beugte die Zypressen drunten im Garten bis weit gegen die Erde und mit einem jähen Aufleuchten tauchten aus der Finsternis über dem grauen Meer und dem von der Luft durchfurchten Maquis die fantastischen, bis zu dreihundert Meter hohen Felsen der Calanches auf, die in dem flackernden, nicht einmal einen Herzschlag anhaltenden Widerschein aussahen wie überdimensionale Baumgewächse; oder aber sie liegt da in völligem Frieden als Seelandschaft: Als meine Augen sich an das sanfte Zweilicht gewöhnten, konnte ich das Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Es war eine weiße Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon.

Auf den Exkursionen ins Innere der Insel Korsika aber verspürte ich jedesmal, trotz der wahrhaft staunenswerten Schönheit der Ansichten, die sich mir boten, in der Herzgegend eine dumpfe, allmählich die Sinne abtötende Bedrängnis, eine Art Weltverlassenheit, die, wie ich glaube, herrührt von der in zunehmenden Maße in einen Zustand der Sprachlosigkeit mich versetzenden, überall offenbaren Gewalt der Natur. - Die Prosa hat nicht weniger Gewalt als die vom Auge erfaßte Landschaft und überträgt den Zustand der Sprachlosigkeit auf den Leser, der seinerseits verstummt. Zu vermerken ist lediglich noch, daß Selysses schon gegen zehn Uhr wieder im Hotel war. Der Verkehr rauschte noch in den Straßen, doch dann war es auf einmal ganz still, ein paar Sekunden bloß, bis, offenbar nur ein paar Straßen weiter, eine der in Korsika ja nicht selten hochgehenden Bomben mit einem kurzen trockenen Schlag explodierte. Er legte sich nieder und schlief schon bald ein, den Klang der Sirenen und Martinshörner im Ohr.

Abendmahl

Bucklige und Irre

Evisa

Far West

Fleisch und Blut

Gedankenverloren 

Ortsfest

Prozessionsspinner

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.