Montag, 17. September 2018

Menschen getroffen


All’estero

Die englische Wallfahrt wird fast ausschließlich zu Fuß absolviert, All’estero ist Selysses vorwiegend mit Verkehrsmitteln unterwegs, in den Städten legt er allerdings häufig nicht unbedeutende Fußstrecken zurück. In England trifft er vor allem Bekannte, mit denen er sich offenbar verabredet hat, all’estero macht er so gut wie nur Zufallsbekanntschaften.

Wien
Mit drei oder vier Personen hätte er sprechen können, aber die Telefone blieben stumm. Einige hat er getroffen die mit Sicherheit nicht mehr am Leben waren, die Mathild Seelos etwa. Außer mit Kellnern und Serviererinnen hat er mit niemanden ein Wort gewechselt. Nur mit den Dohlen in den Anlagen und mit einer weißköpfigen Amsel hat er einiges geredet. Zurück im Hotel spürte er den fragenden Blick des Nachtportiers im Rücken. Er faßte den Entschluß, mit dem Abendzug nach Venedig zu fahren, vorher aber noch den Tag mit Ernst Herbeck zu verbringen.

Der Tag mit Ernst Herbeck ist eine Geschichte in der Geschichte und der übergreifenden Erzählung nicht wirklich eingepaßt. Man sollte sie gesondert lesen und bei der Lektüre von All’estero dann überspringen. Folgt man dieser Anweisung, bleibt niemand, abgesehen von den Dohlen und der weißköpfigen Amsel, mit dem Selysses in Wien ernstlich gesprochen hätte, niemand, den er getroffen hätte.

Venedig
Unweit entfernt saß ein Mensch, den er sogleich als Ludwig II. von Bayern erkannte. In der Bar an der Riva ist er mit einem Venezianer namens Malachio, Astrophysiker seines Zeichens, ins Gespräch gekommen. In der Ferrovia findet er zwei Augenpaare auf sich gerichtet.

Ludwig II. ergänzt die Reihe der Zombies (Mathild Seelos u.a.) aus Wien. Die Begegnung mit Malachio ist eine der wichtigsten, auch wenn man ihren Ertrag nicht recht deuten kann. Wie ernst die beiden Augenpaare zu nehmen sind, läßt sich nicht klären.

Verona
Indem er sich dem Ausgang des Gartens zuwandte, erwiderte er den Gruß der Pförtnerin, die ihm aus ihrem dunklen Gehäuse heraus zunickte. Den Cicerone in der Arena betrachtet er nur aus der Ferne. Die beiden jungen Männer mit den beiden Augenpaaren finden sich auch hier wieder ein, sie betrachten ihn, wie er glaubt. An einem Gespräch mit der Mesnerin von Sant’Anastasia ist er anscheinend nicht interessiert. In der Pizzeria VERONA vermag er nicht, den Kellner herbeizurufen. Im Zug setzt sich eine alte Tirolerin mit ihrem vielleicht vierzigjährigen Sohn, sie steigen in Bozen aus.

Einen Menschen getroffen: zu einem minimalen beiderseitigen Kontakt kommt es nur mit der Pförtnerin.

Wieder Venedig
Keinen Menschen getroffen, nur eine Masse von Touristen und eine Ratte. 

Padua
Begegnung mit Giotto in der Kapelle Enrico Scrovegni.

Desenzano
Er beobachtet, wie ein Carabiniere sein Auto unmittelbar vor dem Bahnhof ins Halteverbot stellt, die versammelten Taxifahrer spielen daraufhin eine Art Komödie mit ihm, um sich die Langeweile zu vertreiben. In den Bus nach Riva steigen zwei Knaben zu, die dem jungen Kafka wie zwei Eier dem dritten ähneln. Ein Versuch, mit dem Elternpaar ins Gespräch zu kommen, scheitert aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse auf desaströse Weise.

Der Carabiniere und seine Quälgeister werden aus sicherer Distanz beobachtet. Die sprachliche Barriere verhindert den Meinungsaustausch mit den Busreisenden.

Limone
Er füllte die Bogen des Schreibblocks, Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, als wolle sie sich vergewissern, daß ihm der Faden nicht abgerissen sei. Der Padrone tritt erst in Erscheinung, als es gilt, das Rätsel des verlorenen Passes zu lösen. Der Brigadiere stellt auf der Polizeistation schwungvoll die nötige Verlustbescheinigung aus.

Worte werden mit Luciana nur wenige gewechselt, aber es herrscht ein tiefes Einverständnis. Einmal hat sie möglicherweise sogar seine Schulter berührt. Der Padrone und der Brigadiere sind flüchtige, wenn auch einprägsame Erscheinungen

Mailand
Ihm gegenüber im Zug nach Mailand saßen eine Franziskanerschwester von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchenmit mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schulter. Von vollendeter Schönheit waren sie beide. Am Ausgang des Bahnhofs kommen zwei junge Männer, heftig aufeinander einredend auf ihn zu, und plötzlich spürte er ihre Hände unter seiner Jacke. Mit dem Taxifahrer tauscht er sich während der Fahrt zum Hotel über die Gefährlichkeit des Mailänder Pflasters aus. Im Hotel Boston hält die Signora, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen, skeptisch ihren Vogelblick auf ihn gerichtet. Im Wartesaal des deutschen Konsulats trifft er auf eine Artistenfamilie, bestehend aus dem Oberhaupt, einer nordländisch wirkenden jungen Frau, der Nonna und drei Töchtern. Ein zwergwüchsiger Konsulatsbeamter stellt ihm den neuen Paß aus. Von der obersten Galerie des Domes sieht er die Menschen über die Piazza hasten, lauter Mailänder und Mailänderinnen.

Unmittelbar nach der Trennung von Luciana findet er Trost in den beiden schönen Mitreisenden, die Härte des Lebens trifft er dann in Gestalt der beiden Raublustigen. Der Taxifahrer mit dem Medaillon Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen beeindruckt ähnlich wie zuvor der Brigadiere mit der Rolexuhr und der Goldkette, die Signora in der Rezeption ist kein rechter Trost, umso mehr die Artistenfamilie im Wartesaal des Konsulats. Der Konsulatsbeamte verrichtet still seine Pflicht. Die Mailänder und Mailänderinnen sind auch bei aufkommendem Sturm unterwegs.

Wieder Verona
Im Hotel wird er vom Portier und dann von der Geschäftsführerin mit ausgesuchter Zuvorkommenheit behandelt. Obzwar die Bibioteca Civica offiziell geschlossen ist, sieht der Bibliotheksangestellte keine Schwierigkeit, ihn einzulassen. Als er am späten Nachmittag die Uferpromenade des Adige entlangspaziert, schließt sich ihm ein herrenloser hellfarbiger Hund an. Zwei Männer in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen tragen aus einem Hinterhaus eine Bahre heraus, auf der unter einem blumengemusterten Tuch offensichtlich ein Mensch lag. Der Photograph gegenüber der geschlossenen Pizzeria VERONA stellt sich taubstumm. Das aus der Erlanger Gegend stammende Paar macht auf seinen dringenden Wunsch hin ein Photo der Pizzeria, weigert sich aber, ein zweites zu machen. Salvatore Altamura berichtet über drei Dinge, über das Buch, das er gerade liest, dann, auf Wunsch des Erzählers, über die GRUPPE LUDWIG und schließlich über die Aufführungsgeschichte der Oper Aida.

Liste der Begegnungen:
Wien
Mögliche Telefonkontakte
Mathild Seelos u.a. Zombies
Kellner und Serviererinnen
Dohlen
Nachportier
Ernst Herbeck
Venedig
Ludwig II 
Malachio
Zwei Augenpaare
Verona
Pförtnerin
Cicerone
Zwei Augenpaare
Mesnerin
Kellner
Mutter und Sohn
Desenzano
Carabiniere und Taxifahrer
Zwei Knaben und ihre Eltern
Limone
Luciana Michelotti
Il Padrone
Il Brigadiere
Mailand 
Die zwei Schönen
Zwei Unholde
Taxifahrer
Signora im Hotel Boston
Artistenfamilie
Konsulatsbeamter
Mailänder und Mailänderinnen
Verona
Portier und Geschäftsführerin
Bibliotheksangestellter
Hellfarbiger Hund
Zwei Männer mit Bahre
Photograph
Paar aus Erlangen
Salvatore Altamura

*
Begegnungen, denen eine gewisse Prominenz zukommt, sind unterstrichen. Die wortreichste Begegnung ist die mit Salvatore Altamura. Aber auch wortlose Begegnungen, wie die mit den zwei Schönen im Zug nach Mailand, können Prominenz erlangen. Die Begegnung in Limone hat die Besonderheit, daß der Erzähler hier womöglich mehr spricht als Luciana Michelotti. Alle Begegnungen sind flüchtig und wiederholen sich nicht. Klang und Rhythmus der Prosa sind davon entscheidend bestimmt, dem ruhigen Fluß der Sätze widerspricht ständig die Rastlosigkeit der Begegnungen. Der Prosaerstling steht in dieser Hinsicht in einem krassen Gegensatz zu Austerlitz, dem letzten Werk des Dichters. Hier trifft sich der Erzähler im Prinzip nur mit einer Person, Austerlitz, und das immer wieder. Wäre der Dichter bei den betörenden, flüchtigen Nichtigkeiten der Schwindel.Gefühle geblieben, hätten wir womöglich noch mehr Grund ihn zu bewundern.

Tiefbau

Kotlowan

Josef K. wird eines Morgens verhaftet, obwohl er nichts Böses getan hatte, Woschtschew, der auch nichts Böses getan hatte, wird entlassen wegen Träumerei bei der Arbeit in einer Maschinenfabrik. Dem ersten Anschein nach ergeht es Woschtschew besser als Josef K., er wird nicht verhaftet und findet bereits in der nächsten Ortschaft eine neue Arbeitsstelle beim Aushub der Grube für den Bau eines Allproletarischen Gemeinschaftshauses. Einen Einblick in die Baupläne erhalten wir nicht und wir sind auch nicht sicher, daß es Baupläne gibt. Noch während des Aushubs wird beschlossen, den Umfang der Grube um ein Mehrfaches zu erweitern, ohne daß von einer Anpassung des Bauplans für das Gebäude die Rede wäre. Auf keinen Fall wäre der fertiggestellte Bau nach Austerlitz‘ Einteilung auf der richtigen Seite, nicht bei den Bauten unter dem Normalmaß der domestischen Architektur, nicht bei der Feldhütte, der Eremitage, dem Häuschen des Schrankenwärters, dem Aussichtspavillon, der Kindervilla im Garten, Bauten die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Im Gegenteil, das Allproletarische Gemeinschaftshaus soll die einfachen, friedlichen bäuerlichen Katen ersetzen. Das Allproletarische Gemeinschaftshaus würde, wie der Brüsseler Justizpalast zweifellos zu den Riesengebäuden zählen, von denen niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß sie ihm gefallen.

Das einzige Bauwerk, das in Platonows Kotlowan fertiggestellt wird, ist ein Floß, auf dem man die Großbauern und andere sogenannte Kapitalisten ins Verderben schickt. Was das Allproletarische Gemeinschaftshaus anbelangt, so bleibt es beim Grubenbau zu Babel, ein getreues Abbild des auf ungezählten Toten vom Baumeister Stalin errichteten, von Menschen nicht bewohnbaren Gebäudes der kommunistischen Gesellschaft in den frühen dreißiger Jahren. Aber ist nicht alles Bauen auf Toten gegründet? Gerade wie die Lebendigen ziehen die Toten, wenn es ihnen zu eng wird, nach draußen in eine weniger dicht besiedelte Gegend. Aber es kommen ja immer neue hinzu, in unendlicher Folge. In jedem Kubikmeter Abraum, den man aus einer Grube entfernt, mögen die Gerippe von durchschnittlich acht Menschen gefunden werden. Über die solchermaßen mit dem Staub und den Knochen zusammengesunkenen Leiber versetzte Erdschicht hinweg wuchs dann eine neue Stadt, oft in einem immer verwinkelter werdenden Gewirr fauliger Gassen und Häuser, zusammengebacken aus Balken und Lehmklumpen und jedem sonstigen verfügbaren Material. Dem sollte mit den Allproletarischen Gemeinschaftshäusern ein Ende gesetzt werden. Der Erfolg ist ausgeblieben.

Sonntag, 16. September 2018

Nachsicht

Nur sehr wenig

Als die Bedienerin in den Tiroler Stuben ihm auf die seines Erachtens gar nicht unfreundliche Bemerkung hin auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul anhängt, scheint er einigermaßen nachsichtig darüber hinwegzugehen. Gut denkbar aber, daß er seinen Groll später im Bus an den Tiroler Weibern ausgelassen hat. In gewissen Abständen standen sie unter ihren schwarzen Regendächern an den Haltestellen. Es kam auf diese Weise im Bus bald eine ganze Zahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in einem hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt, so als seien es keine Menschen. Ist sein Ohr verantwortlich für diese Wahrnehmung oder aber der nachhallende Groll? Vielleicht, wenn auch er zuvor den junge Mann gesehen hätte, wie er auf dem Boden saß, die Schultern an die Tischbeine gelehnt, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Mit den Händen hielt er die Knie umfaßt. Er saß unbeweglich da in dieser melancholischen Grundhaltung, und schaute, und hörte, und ein Schauder hätte ihn, den Betrachter, überlaufen, denn es war als würde der junge Mann urteilen über die Welt. Mit aller Strenge. Ohne Nachsicht (bez pobłażliwości). Und das war schrecklich. Denn ohne Nachsicht würde von all dem hier wenig bleiben. Von dem, das ich kenne, hätte er sich sagen müssen, nur wenig. Nur wenig und nur Wenige. Von allem, was ihm bekannt ist, nur sehr, sehr wenig.

Dienstag, 11. September 2018

Brunnen der Höflichkeit

Ein Fest

Auch wenn den Hauptdarstellern und den Komparsen dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen ist, sind sie sich doch nicht in allen Punkten gleich. Zwischen den Protagonisten ist Höflichkeit so selbstverständlich, daß man sie gar nicht bemerkt. Das Verhältnis zwischen Hauptdarstellern und Komparsen steht dagegen nicht immer im Zeichen der Freundlichkeit und Feingefühl. In Restaurants wird Selysses in der Regel schlecht bedient, in Hotels und Pensionen nicht immer mit einem Lächeln empfangen. Im Hotel Boston zu Mailand kommt die Signora, ein völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig bis siebzig Jahren aus dem Fernsehzimmer hervor und hält skeptisch ihren Vogelblick auf Selysses gerichtet, in Kissingen ist das Foyer des Hotels so leer wie der Bahnhofsvorplatz und die Empfangsdame mustert ihn mit einem Blick, als befürchte sie von ihm einen Hausfriedensbruch. Im Lift sieht er sich einem gespenstischen alten Ehepaar gegenüber, das ihn mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrt. Selysses selbst läßt sich wohl keine unmittelbare Unfreundlichkeit zu Schulden kommen, lästert aber hinter dem Rücken von Leuten, die ihm mißfallen, so über die Tirolerinnen im Bus von Innsbruck nach Oberjoch oder über den Brotzeitesser im Zug nach Kissingen.

Szerucki ist ein großer Freund von Höflichkeit. Gern genehmigt er sich schon am Morgen in der Knajpa einige Gläschen, parę kieliszków, es graust ihm aber, wenn er dabei die wenig höflichen Gespräche wahrer Männer über die Frauen mitanhören muß. Darin ähnelt er schon fast Aljoscha Karamasow. Andererseits sind auch ihm Grobheiten nicht fremd. Als ihn jemand auf der Straße um ein paar Złote bittet, fertigt er ihn ab mit dem Wort Spierdalaj, das bei wörtlicher Übersetzung in korrektes Deutsch Fuck off ergibt. Als Szerucki bei anderer Gelegenheit die Öffentliche Bibliothek auf Rädern aufsucht, kommt es zwischen ihm und der Bibliothekarin, Panna Halinka, zu einem ausufernden Fest, einem Tanz der Höflichkeit, schließlich hat Szerucki das Gefühl, in einem Brunnen der Höflichkeit (studnia uprzejmości) zu versinken. Tief ist der Brunnen der Höflichkeit, es scheint kein Entkommen zu geben, jedes höfliche Abschiedswort auf der einen Seite fordert unweigerlich das nächste höfliche Abschiedswort auf der anderen Seite heraus und so fort, schließlich aber gelingt es Szerucki doch zu entweichen mit einem: Es hat mich sehr gefreut, Pani Halinko, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Auch wenn die Situation am Ende, im Brunnen, schon fast bedrohlich schien, ist das Fest der Höflichkeit doch eine wahre Freude in einer Welt, für die Feindseligkeit und Entsetzen nicht ungewöhnlich sind. 

Montag, 10. September 2018

Distanz

Bildungsgrade

Malachio hatte in Cambridge Astrophysik studiert und sah alles aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. Riesenhafte Entfernungen sind das ihrem Gegenstandsbereich inhärente Markenzeichen der Astrophysik, die richtige Entfernung aber ist der Prüfstein einer jeden Wissenschaft, wie weit muß man zurücktreten, um das rechte Bild zu erlangen. Es ist nicht so, daß für jede Wissenschaft eine und nur eine Distanz die richtige wäre, vielmehr bringen unterschiedliche Distanzen unterschiedliche Ergebnisarten zu Tage. Luhmann schwingt sich in extreme Höhen der Theorie, er ist gleichsam der Malachio der Soziologie. Andere bleiben auf dem festen Boden der Empirie und wollen durch Umfragen zur Wahrheit vorstoßen. E. Todd verläßt sich auf die Statistik, die er auf sonst wenig beachteten und verborgenen Feldern zur Anwendung bringt. Zentral für seinen Ansatz ist die in der jeweiligen Gegend dominante Familienstruktur, die durchaus bereits der Vergangenheit angehören kann, als sogenannte Zombiestruktur aber weiterhin die Vor- und Einstellungen der Menschen beeinflußt. Alphabetisierung, Bildungsstand und Rückgang der Kinderzahl sind für ihn entscheidende Meßbereiche fortschreitender Modernisierung. Einen Namen hat sich Todd damit gemacht, daß er den Untergang der Sowjetunion auf der Grundlage seiner Vermessungen weit vor der Zeit voraussagen konnte.

Wenn man den Fritz als Banknachbar in der Schule hat, sieht alles ganz anders aus, Distanz ist bei dieser Nähe nicht möglich. Auch der Fritz war sichtlich um seine Arbeit bemüht, doch ging sie ihm unendlich langsam vonstatten. Sogar als die Nachzügler längst fertig waren, hatte er nicht mehr als ein Dutzend Kreuzchen auf seinem Blatt. Nach einem stillschweigenden Blickwechsel führte der Banknachbar geschwind das fragmentarisches Werk zu Ende. Der Lehrer, Bereyter, hatte an dieser Kooperation nichts auszusetzen gehabt. Ob der Einfluß der im Alpenvorland vorherrschenden Formation der Stammfamilie diese Schüler und Lehrer übergreifende Hilfsbereitschaft ermöglichte, müßte der Fachmann entscheiden. Indem der Fritz durch hilfreiche Hände zum erfolgreichen Schulabschluß geführt wurde, ergab sich in jedem Fall ein positiver Einfluß auf die Bildungsstatistik, ohne daß man dabei über ein vernünftiges Maß hinausgeschossen wäre. Wem hätte es genutzt, wenn aus dem Fritz nach Abitur und Diplom ein weiterer Astronom und Sternengucker geworden und der Menschheit gleichzeitig ein begnadeter Koch verlorengegangen wäre. Denn ein Koch von Weltruf ist schließlich geworden aus dem Fritz, der sich schon während der Schulzeit eigentlich immer nur für das Essen interessiert hatte. Er hat in den besten Hotels in Zürich und Interlaken, in Madrid, New York und London gearbeitet. Der akademisch gebildete seinerzeitige Schulbanknachbar hat ihn nach langen Jahren wiedergetroffen im Museum des British Museum, der eine beschäftigt mit der Geschichte der Beringschen Alaskaexpedition, der andere mit französischen Kochbüchern aus dem 18. Jahrhundert, ein wirklich schönes Bild der Überwindung der von Todd lebhaft beklagten neuen gesellschaftlichen Ungleichheit durch die Hierarchie der Bildungsabschlüsse.

Donnerstag, 6. September 2018

Liebesgeschichten

Metaphysische Ausnahmen

Liebesgeschichten, läßt Douglas, der leidenschaftliche Flieger, wissen, kämen ihm, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vor. In der zeitgenössischen Literatur, die in der Geschlechterbegegnung zu Lasten der Metaphysik das Handfeste sucht und bevorzugt, findet er für seine Einstellung wenig Widerhall, andererseits muß er aber auch nicht zurückgehen bis zu Tristan und Isolde oder gar zu Salomos Hohem Lied.

Stachuras Erzähler, Szerucki, der gern schon am Vormittag einige Gläschen, parę kieliszków, leert, ist gleichzeitig nichts so zuwider, als wenn er dabei im Wirtshaus die Frauengespräche wahrer Männer  mithören muß. Er selbst hat während seiner Arbeit als Saisonarbeiter, beim Holzfällen oder beim Beckenreinigen, nur ein daheimgebliebenes Mädchen im Sinn, dessen Bild er immer wieder unter dem Namen Gałązka Jabłoni, Apfelbaumzweiglein, in ekstatischer Weise beschwört. Alle Wünsche nach metaphysischer Untermalung des Liebesverhältnisses sind erfüllt, bis hin zum Zweifel, ob es das Mädchen überhaupt gibt und nicht vielmehr reine Metaphysik waltet.*

Der Held des Romans Tschewengur, Kopenkin, hat drei Idole, zum einen sein Pferd, das auf den Namen Пролетарская сила (Proletarische Kraft) hört und dann die Revolution. Mit weitem Vorsprung den ersten Platz aber belegt die bereits tote Rosa Luxemburg. Irgendwann, davon ist er überzeugt, werden seine Irrwege ihn zu ihrem Grab führen. Ein metaphysisches Arrangement, wie man es sich reiner nicht wünschen kann.

* Tatsächlich feiert Stachura seine Ehefrau Zita. Das wiederholt auftretende Abrakadabra: Zawsze i teraz absolutnie służy tobie emanuel delawarski führt zu dem Akromym: Zita Sted.



Mittwoch, 5. September 2018

Lady Early Morning

Verblüffende Ähnlichkeit

Bardzo ładną ma twarz, choziaż nie jest młoda, tylko starsza, sie hat ein sehr schönes Gesicht, obwohl sie nicht jung ist, nur schon älter. Die zahlreichen Anhänger einer Prosa ohne sogenannte unnütze Worte, kein Wort zuviel! - werden den letzten Satzteil ohne Umstände oder Bedenken streichen, es versteht sich, wer nicht mehr jung ist, ist älter. Diese Sicht orientiert sich am Mitteilungscharakter der Sprache, mit dem künstlerische Prosa wenig zu tun hat. Tatsächlich ist es das variierende Aufrechterhalten des Tons, nicht mehr jung, älter schon, das Einkreisen, das die Schönheit der Frau für uns leibhaftig hervorzaubert und wahr sein läßt. Die ältere Frau ist nicht piękna, nicht von plakativer Schönheit, sondern ładna, von verdeckter, bleibender Schönheit, someone who had lines in her face, auch wenn es nicht Lady Midnight ist, sondern eine Lady Early Morning, Mitglied der Säuberungsbrigade der Polskie Koleje Państwowe, die Szerucki, den Mann aus Chéruy, aufgeweckt hat aus dem rechtswidrigen Schlaf in einem Waggon auf dem Abstellgleis.

Mary Frances Fitz-Gerald war eine Dame von mächtigem Format, mit starken, abfallenden Schultern und einer geradezu furchteinflößenden Büste, die in ihrem ganzen Erscheinen für viele Zeitgenossen eine verblüffende Ähnlichkeit aufwies mit dem Herzog von Wellington. Wenn man eine häßliche Frau kennzeichnet, sind alle nicht gekennzeichneten schön. Und schön sind sie alle, Luciana Michelotti, Marie de Verneuil, Adela Fitzpatrick ohnehin, Mme Landau, Mathild, Seelos, andere noch, auch die beiden Trinkerinnen. Eingebettet in die schönen Sätze sind alle schön, sofern nicht ausdrücklich widersprochen wird. Es geht auch anders, Stifter etwa beschreibt die Frauenschönheit so umständlich und lang, bis nichts davon mehr übrig ist.

Dienstag, 4. September 2018

Beweglichkeit der Toten

Воскресение

Requiescat in pace, ein frommer Wunsch und mehr nicht. Überall ziehen sie auf Korsika herum, die Toten, in kleinen Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. Kaum anders ist es im keltischen Wales. Dort gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. Aber auch wenn sie in den Gräbern verharren, sind die Toten beweglich. Von den Zuständen auf irischen Friedhöfen, lebensnah vor Augen geführt in dem Meisterwerk Cré na cille, wollen wir hier erst gar nicht reden. Generell gilt, daß die Toten gerade wie die Lebendigen, wenn es ihnen zu eng wird, nach draußen in eine weniger dicht besiedelte Gegend ziehen. Auf Dauer hilft das allerdings wenig, denn es kommen ja immer neue hinzu, in unendlicher Folge. In jedem Kubikmeter Abraum, den man aus einer Grube entfernt, mögen die Gerippe von durchschnittlich acht Menschen gefunden werden. Über die solchermaßen mit dem Staub und den Knochen zusammengesunkenen Leiber versetzte Erdschicht hinweg wächst dann eine neue Stadt, oft in einem immer verwinkelter werdenden Gewirr fauliger Gassen und Häuser, zusammengebacken aus Balken und Lehmklumpen und jedem sonstigen verfügbaren Material. Hier nun setzt der naturwissenschaftlich orientierte Venezianer Malachio ein mit seinen Überlegungen. In der letzten Zeit hatte er viel nachgedacht über die Auferstehung und insbesondere über die Bedeutung des Satzes, demzufolge unsere Gebeine und Leiber dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Lösungsansätze, die in einer Fachzeitschrift veröffentlicht weden könnten, hat er naturgemäß bislang keine gefunden.

Sonntag, 2. September 2018

Webwaren im Wind

Kapitulation

Bleibt man vor einem vor einem dieser anscheinend unbewohnten Häuser stehen, so tut sich seltsamerweise fast jedesmal einer der geschlossenen Fensterläden auf, und es erscheint eine Hand, die mit auffallend langsamer Bewegung ein Staubtuch ausschüttelt, so daß man unweigerlich bald denkt, ganz Deauville bestehe aus dusteren Interieurs, in denen zu ewigem Abstauben verurteilte Frauenpersonen lautlos herumgehen und darauf lauern, daß sie einem zufällig vor ihrem Gefängnis stehenbleibenden und an der Fassade hinaufblickenden Passanten mit ihren Staubfetzen ein Zeichen geben. – Gern hält der Dichter der in der modernen Welt verbreitet auftretenden Stauballergie seine Staubwischphobie entgegen, aber damit ist die Szenerie nicht erschöpfend geklärt. Auch ein feministischer Ansatz zur Befreiung der Frau von der Hausarbeit läßt sich nicht erkennen oder ist zumindest nicht dominant. Eher gilt es, verlorene Seelen zu retten, Untote womöglich, vielleicht auch signalisieren letzte Menschen die Kapitulation. Zur gleichen Zeit, am sechsten Juni also, in einer kleinen Stadt in Niederschlesien, in Pieńsk vielleicht oder in Piława Górna, in der Kościuszko-Straße jedenfalls, gelangte durch das weit geöffnet Fenster eines Gebäudes mit einer vom Schwarzwasser ganz und gar übergossenen gelblichen Außenwand die Gardine, ein großes weißes Netzgewebe, nach draußen und wehte im starken Wind dieses unbeschreiblichen Tages, eines Tages, der sich nicht anders beschreiben läßt, als wie die Gardine ihn beschrieb, indem sie mit Schwung großzügige und gleichzeitig verwehte weiße Zeichen eines unbekannten piktographischen Briefes in die Luft zeichnete, oder vielleicht eines bekannten aber vergessenen Briefes, ja von irgendwoher bekannt, aber woher. Szerucki, der Mann aus Chéruy, saß auf den Eingangsstufen der für die Mittagszeit geschlossenen Apotheke, rauchte eine Zigarette und schaute mit leicht erhobenen Blick auf die im Winde flatternde weiße Gardine, die aus dem Inneren des Zimmers nach draußen drängte, in die Weite des Raum. Er schaute in Richtung der Gardine, absolut magnetisiert konnte er nirgends sonst hinschauen. Schon an sich war in dem Bild etwas Magisches, etwas Bewegendes, Reines, Jungfräuliches (Coś dziewicznego), aber er spürte, das war nicht alles, damit war die Geschichte noch nicht vorbei, vielleicht deswegen nicht, weil er hier ist und schaut.

Frauen schütteln am Fenster ihre Staubtücher aus, und ein Wind verweht eine Gardine, damit könnte man sich zufriedengeben und es gut sein lassen, warum geben sich die Dichter nicht zufrieden? There is more than meets the eye. Die von rätselhaften Händen bewegten kleinflächigen Tücher, die einzigen Lebenszeichen im sonst verlassenen Deauville scheinen auf das Ende hinzudeuten. Auch in Schlesien scheint der Erzähler, Szerucki, unterwegs in einer menschenleeren Stadt, selbst das schmutzig gelb gefärbte Haus mag unbewohnt sein, die weiße Gardine handelt eigenständig. Szerucki sitzt vielleicht noch immer vor der Apotheke in Pieńsk oder in Piława Górna, denn er allein ist der Adressat der Botschaft, die sich nicht entziffern läßt, die er, als der Adressat des verlorenen Briefes, gleichwohl entziffern muß.