All’estero
Die englische Wallfahrt wird fast ausschließlich zu Fuß absolviert, All’estero ist Selysses vorwiegend mit Verkehrsmitteln unterwegs, in den Städten legt er allerdings häufig nicht unbedeutende Fußstrecken zurück. In England trifft er vor allem Bekannte, mit denen er sich offenbar verabredet hat, all’estero macht er so gut wie nur Zufallsbekanntschaften.
Wien
Mit drei oder vier Personen hätte er sprechen können, aber die Telefone blieben stumm. Einige hat er getroffen die mit Sicherheit nicht mehr am Leben waren, die Mathild Seelos etwa. Außer mit Kellnern und Serviererinnen hat er mit niemanden ein Wort gewechselt. Nur mit den Dohlen in den Anlagen und mit einer weißköpfigen Amsel hat er einiges geredet. Zurück im Hotel spürte er den fragenden Blick des Nachtportiers im Rücken. Er faßte den Entschluß, mit dem Abendzug nach Venedig zu fahren, vorher aber noch den Tag mit Ernst Herbeck zu verbringen.
Der Tag mit Ernst Herbeck ist eine Geschichte in der Geschichte und der übergreifenden Erzählung nicht wirklich eingepaßt. Man sollte sie gesondert lesen und bei der Lektüre von All’estero dann überspringen. Folgt man dieser Anweisung, bleibt niemand, abgesehen von den Dohlen und der weißköpfigen Amsel, mit dem Selysses in Wien ernstlich gesprochen hätte, niemand, den er getroffen hätte.
Venedig
Unweit entfernt saß ein Mensch, den er sogleich als Ludwig II. von Bayern erkannte. In der Bar an der Riva ist er mit einem Venezianer namens Malachio, Astrophysiker seines Zeichens, ins Gespräch gekommen. In der Ferrovia findet er zwei Augenpaare auf sich gerichtet.
Ludwig II. ergänzt die Reihe der Zombies (Mathild Seelos u.a.) aus Wien. Die Begegnung mit Malachio ist eine der wichtigsten, auch wenn man ihren Ertrag nicht recht deuten kann. Wie ernst die beiden Augenpaare zu nehmen sind, läßt sich nicht klären.
Verona
Indem er sich dem Ausgang des Gartens zuwandte, erwiderte er den Gruß der Pförtnerin, die ihm aus ihrem dunklen Gehäuse heraus zunickte. Den Cicerone in der Arena betrachtet er nur aus der Ferne. Die beiden jungen Männer mit den beiden Augenpaaren finden sich auch hier wieder ein, sie betrachten ihn, wie er glaubt. An einem Gespräch mit der Mesnerin von Sant’Anastasia ist er anscheinend nicht interessiert. In der Pizzeria VERONA vermag er nicht, den Kellner herbeizurufen. Im Zug setzt sich eine alte Tirolerin mit ihrem vielleicht vierzigjährigen Sohn, sie steigen in Bozen aus.
Einen Menschen getroffen: zu einem minimalen beiderseitigen Kontakt kommt es nur mit der Pförtnerin.
Wieder Venedig
Keinen Menschen getroffen, nur eine Masse von Touristen und eine Ratte.
Padua
Begegnung mit Giotto in der Kapelle Enrico Scrovegni.
Desenzano
Er beobachtet, wie ein Carabiniere sein Auto unmittelbar vor dem Bahnhof ins Halteverbot stellt, die versammelten Taxifahrer spielen daraufhin eine Art Komödie mit ihm, um sich die Langeweile zu vertreiben. In den Bus nach Riva steigen zwei Knaben zu, die dem jungen Kafka wie zwei Eier dem dritten ähneln. Ein Versuch, mit dem Elternpaar ins Gespräch zu kommen, scheitert aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse auf desaströse Weise.
Der Carabiniere und seine Quälgeister werden aus sicherer Distanz beobachtet. Die sprachliche Barriere verhindert den Meinungsaustausch mit den Busreisenden.
Limone
Er füllte die Bogen des Schreibblocks, Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, als wolle sie sich vergewissern, daß ihm der Faden nicht abgerissen sei. Der Padrone tritt erst in Erscheinung, als es gilt, das Rätsel des verlorenen Passes zu lösen. Der Brigadiere stellt auf der Polizeistation schwungvoll die nötige Verlustbescheinigung aus.
Worte werden mit Luciana nur wenige gewechselt, aber es herrscht ein tiefes Einverständnis. Einmal hat sie möglicherweise sogar seine Schulter berührt. Der Padrone und der Brigadiere sind flüchtige, wenn auch einprägsame Erscheinungen
Mailand
Ihm gegenüber im Zug nach Mailand saßen eine Franziskanerschwester von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchenmit mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schulter. Von vollendeter Schönheit waren sie beide. Am Ausgang des Bahnhofs kommen zwei junge Männer, heftig aufeinander einredend auf ihn zu, und plötzlich spürte er ihre Hände unter seiner Jacke. Mit dem Taxifahrer tauscht er sich während der Fahrt zum Hotel über die Gefährlichkeit des Mailänder Pflasters aus. Im Hotel Boston hält die Signora, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen, skeptisch ihren Vogelblick auf ihn gerichtet. Im Wartesaal des deutschen Konsulats trifft er auf eine Artistenfamilie, bestehend aus dem Oberhaupt, einer nordländisch wirkenden jungen Frau, der Nonna und drei Töchtern. Ein zwergwüchsiger Konsulatsbeamter stellt ihm den neuen Paß aus. Von der obersten Galerie des Domes sieht er die Menschen über die Piazza hasten, lauter Mailänder und Mailänderinnen.
Unmittelbar nach der Trennung von Luciana findet er Trost in den beiden schönen Mitreisenden, die Härte des Lebens trifft er dann in Gestalt der beiden Raublustigen. Der Taxifahrer mit dem Medaillon Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen beeindruckt ähnlich wie zuvor der Brigadiere mit der Rolexuhr und der Goldkette, die Signora in der Rezeption ist kein rechter Trost, umso mehr die Artistenfamilie im Wartesaal des Konsulats. Der Konsulatsbeamte verrichtet still seine Pflicht. Die Mailänder und Mailänderinnen sind auch bei aufkommendem Sturm unterwegs.
Wieder Verona
Im Hotel wird er vom Portier und dann von der Geschäftsführerin mit ausgesuchter Zuvorkommenheit behandelt. Obzwar die Bibioteca Civica offiziell geschlossen ist, sieht der Bibliotheksangestellte keine Schwierigkeit, ihn einzulassen. Als er am späten Nachmittag die Uferpromenade des Adige entlangspaziert, schließt sich ihm ein herrenloser hellfarbiger Hund an. Zwei Männer in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen tragen aus einem Hinterhaus eine Bahre heraus, auf der unter einem blumengemusterten Tuch offensichtlich ein Mensch lag. Der Photograph gegenüber der geschlossenen Pizzeria VERONA stellt sich taubstumm. Das aus der Erlanger Gegend stammende Paar macht auf seinen dringenden Wunsch hin ein Photo der Pizzeria, weigert sich aber, ein zweites zu machen. Salvatore Altamura berichtet über drei Dinge, über das Buch, das er gerade liest, dann, auf Wunsch des Erzählers, über die GRUPPE LUDWIG und schließlich über die Aufführungsgeschichte der Oper Aida.
Liste der Begegnungen:
Wien
Mögliche Telefonkontakte
Mathild Seelos u.a. Zombies
Kellner und Serviererinnen
Dohlen
Nachportier
Ernst Herbeck
Venedig
Ludwig II
Malachio
Zwei Augenpaare
Verona
Pförtnerin
Cicerone
Zwei Augenpaare
Mesnerin
Kellner
Mutter und Sohn
Desenzano
Carabiniere und Taxifahrer
Zwei Knaben und ihre Eltern
Limone
Luciana Michelotti
Il Padrone
Il Brigadiere
Mailand
Die zwei Schönen
Zwei Unholde
Taxifahrer
Signora im Hotel Boston
Artistenfamilie
Konsulatsbeamter
Mailänder und Mailänderinnen
Verona
Portier und Geschäftsführerin
Bibliotheksangestellter
Hellfarbiger Hund
Zwei Männer mit Bahre
Photograph
Paar aus Erlangen
Salvatore Altamura
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Begegnungen, denen eine gewisse Prominenz zukommt, sind unterstrichen. Die wortreichste Begegnung ist die mit Salvatore Altamura. Aber auch wortlose Begegnungen, wie die mit den zwei Schönen im Zug nach Mailand, können Prominenz erlangen. Die Begegnung in Limone hat die Besonderheit, daß der Erzähler hier womöglich mehr spricht als Luciana Michelotti. Alle Begegnungen sind flüchtig und wiederholen sich nicht. Klang und Rhythmus der Prosa sind davon entscheidend bestimmt, dem ruhigen Fluß der Sätze widerspricht ständig die Rastlosigkeit der Begegnungen. Der Prosaerstling steht in dieser Hinsicht in einem krassen Gegensatz zu Austerlitz, dem letzten Werk des Dichters. Hier trifft sich der Erzähler im Prinzip nur mit einer Person, Austerlitz, und das immer wieder. Wäre der Dichter bei den betörenden, flüchtigen Nichtigkeiten der Schwindel.Gefühle geblieben, hätten wir womöglich noch mehr Grund ihn zu bewundern.