Sonntag, 6. September 2009

Sebaldos: Die Ringe des Saturn


Περεκράτης
Nun hast Du, Χριστιανος, von Deinen Ausflügen in die Gefilde der Kampf- und Lehrschriften des Σεβαλδος zurückgefunden zum Prosawerk.

Χριστιανος
Ja, über das große Werk von den Ringen des Saturn möchte ich heute mit Euch verhandeln.

Άρκτος
Sehr würde es mir gefallen, Χριστιανος und Περεκράτης wenn ich erneut Euren Gesprächen lauschen könnte und in jedem Fall schon jetzt vielen Dank für Eure ohne Frage wieder scharfsinnige Suche in den Zauberworten des Σεβαλδος.

Χριστιανος & Περεκράτης
Willkommen, Άρκτος, und spitz nicht nur die Ohren, sondern bring Dich wacker ein in die Erörterungen!

Άρκτος
Dank und, was meine Beteiligung anbelangt, qui vivra verra.



Χριστιανος
Die Ringe des Saturn liest man mit dem Gefühl, hier den ganzen Σεβαλδος vor sich zu haben, oder besser gesagt den mitten im Leben stehenden Σεβαλδος. Er zählt achtundvierzig Jahre, wenn er im August 1992 die sehr genau beschriebene Wanderung durch das östliche England unternimmt, er wird einundfünfzig Jahre alt sein, wenn das Buch erscheint, wird dann aber nur noch sechs Jahre zu leben haben, bis in seinem Todesjahr 2001 sein letztes erzählerisches Buch herauskommt, Austerlitz.

Άρκτος & Περεκράτης
Ach, wäre es doch nur nel mezzo di cammin di sua vita gewesen! Der Tod des Σεβαλδος ist für uns ein nicht zu verschmerzender Verlust.

Χριστιανος
Er wandert in einem Gebiet, das ich beim zweiten Lesen ohne viel Anstrengung exakt verfolgen konnte, und das sich auf einer Länge von etwa vierzig μ. und einer Breite von etwa zwanzig μ. südlich von Norwich erstreckt, den Ort, wo er als Gelehrter an einer Hohen Schule beschäftigt ist. Man findet auf Kartenwerken jedes von ihm besuchte Dorf wieder, in vielen Fällen sogar die Häuser, die er beschreibt. Nichts in diesem Buch ist also Fiktion, auch wenn ihn auf den langen Wegen durch teilweise menschenleere Gegenden manchmal ähnlich irreale Schwindelgefühle beschleichen wie in den vorangegangenen Büchern.
Erneut entsteht der Eindruck, daß Σεβαλδος mit einer großen Lust zu fabulieren schreibt und diese Lust auch dem Leser vermitteln will. Man kann dieses Buch wie eine umfangreiche Illustrierte lesen und sich darüber freuen, was man etwa über den Heringsfang, die Geschichte des vorletzten Kaisers von China und die unerfüllbare Liebe des Grafen Chateaubriand zur englischen Pfarrerstochter Charlotte Ives alles erfährt. Die einzelnen Berichte reihen sich an den Stationen der Fußreise auf wie die Perlen auf dem Faden einer Kette. Außerdem sind sie, wie man es bei Σεβαλδος ja kennt, mit Photographien versehen, was die insgesamt natürlich vollkommen falsche Annahme verstärken könnte, hier sei ein Journalist am Werk.

Περεκράτης
Die Lust zu fabulieren will mir nicht so recht behagen, redet man davon doch gern, und gern obendrein geschmückt mit dem έπίθετον unbändig bei Leuten wie dem Grass, dem der Σεβαλδος doch einigermaßen fernsteht. Thomas Browne, Chateaubriand, Conrad, Swinburne et alteri, das hätte auf der Stufe der gelehrten Schriften des Σεβαλδος verharren können, aber aus dem Rauhbrand der Beschäftigung mit Literatur erstellt er in einem zweiten Destilliervorgang der Feinbrand der Prosa. Neben den Verwandten im Schreiben stehen die Verwandten der Auswanderung, die Eremiten, oft zugleich auch Verwandte des Schreibens und der Gelehrsamkeit, Michael Parkinson, Janine Rosalind Dakyns, Alec Garrard und, für mich der König der Ausgewanderten: Wyndham Le Strange. In meinem Kopfbild von den Ringen des Saturn stehen diese Abschweifungen im Vordergrund, und die Wanderpfade des Σελυσσες sind kaum noch sichtbar, überwachsene Pfade wahrlich in ihrem in den Kartenwerken so minutiös nachvollziehbaren Verlauf, gjengrodde stier, um es mit dem großen Hamsun zu sagen.

Χριστιανος
Ja, natürlich, das Buch ist alles andere als eine große Zeitung. Der übergeordnete Sinn des Ganzen, der bald erkennbar oder zumindest zu erahnen wird, macht es dem Leser schwer, sich an den einzelnen Episoden des Buches in der unschuldigen Art zu erfreuen, mit welcher man die Berichte einer Illustrierten zur Kenntnis nimmt. In diesem Buch ist alles auf eine geheimnisvolle Art und Weise untereinander verbunden, und auch wenn die verschiedenen Berichte aus weit voneinander entfernt liegenden Orten und Zeiten stammen, ist ihnen allen etwas gemeinsam. Dieses Gemeinsame hat mit dem Staub zu tun, der gleich zu Beginn erwähnt wird, nämlich dem Staub, aus dem die Ringe des Saturn bestehen.

Περεκράτης
Selbst verfüge ich nicht über die Gabe, mich an den Berichten bebilderter Zeitungen sonderlich zu erfreuen, weder unschuldig noch überhaupt, dagegen versetzen mich, wenn ich es recht bedenke, die Berichte des Σελυσσες in gewisser Weise in einen Zustand der Unschuld, darüber muß ich noch nachsinnen, das geht tief, ich danke Dir, Χριστιανος. Die dichten Verhältnisse und Bewegungen in den Bedeutungsfeldern des Σεβαλδος führen zu den seltsamsten Zuständen und Ergebnissen.
Das Thema des Staubes beim Σεβαλδος fasziniert Dich zu recht, und völlig zu recht siehst Du es kulminieren in den aus nichts als Staub bestehenden Saturnringen, soweit hatte ich nicht gedacht.

Χριστιανος
Viele der Gebilde, von denen Σεβαλδος erzählt, sind auf dem Weg, zu Staub zu zerfallen, und so bildet konsequenterweise der dramatische Staubsturm, den Σελυσσες am Rand des Waldes von Rendelsham erlebt, einen der Höhepunkte des Buches. Staub überzieht den Fußboden des alten Herrensitzes der Ashburys in Irland, den Σελυσσες früher einmal besichtigt hatte und den er jetzt noch einmal in einem Traum sieht. Zu schwefelgelbem Staub verfallen andere Häuser, deren Bewohner fortziehen mußten, nachdem die Lebensgrundlage für einen ganzen Landstrich oder eine ganze Epoche entfallen war. Staub bedeckt den Boden der kaiserlichen Zimmer in China.

Άρκτος
Oh Asien, Land endloser Steppen, über denen die Stimmen des Buddha und des Laotse leise im Winde wehen und, noch leiser, das gleichmäßige eigentlich schon vegetabile, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kommt!

Περεκράτης
Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Paulus wird die Taufe mit einer Beerdigung vergleichen und andererseits wird das Grab zum Ort der natürlichen Rückverwandlung allen irdischen Lebens.

Χριστιανος
Σελυσσες findet überall die Spuren einer vergangenen, mittlerweile längst verfallenen Größe. Er gewinnt diesem Verfall aber nicht nur traurige sondern auch durchaus komische Aspekte ab, etwa wenn ein englischer Adliger als Schaffner auf einer kleinen Eisenbahn mitfährt, die er zur Belustigung der zahlenden Gäste durch seinen Schloßpark fahren läßt. Wie Seehunde sieht Sebald die Touristen auf der kleinen Bahn sitzen, und vorneweg als Chef der dressierten Tiere der jetzige Lord Somerleyton.
An dieser Stelle kehrt sich die deprimierende Erkenntnis, daß nichts in dieser Welt Bestand hat und daß am Ende wohl auch der Besitz des Lord Somerleyton nicht mehr zu halten sein wird und ebenfalls zu Staub zerfallen muß, schließlich doch in eine feine, lebenszugewandte Ironie um. Σεβαλδος ist aus demselben Antrieb ein Erzähler, aus dem heraus Generationen anderer Erzähler geschrieben haben: er möchte gegen das ankämpfen, was er aus den Memoiren des Grafen Chateaubriand wörtlich übernimmt, daß nämlich ohne unsere Erinnerungen gelten würde: Wir wären nicht imstande, den einfachsten Gedanken zu ordnen, das gefühlsvollste Herz verlöre die Fähigkeit, einem anderen sich zuzuneigen, unser Dasein bestünde nur aus einer endlosen Abfolge sinnloser Augenblicke, und es gäbe nicht die Spur einer Vergangenheit mehr.
Der Graf Chateaubriand quält sich mit seinen Erinnerungen und nennt die Arbeit daran ein verdammenswertes Geschäft. Diesem Urteil dürfte Σεβαλδος sicherlich häufig zustimmen, was einen Teil der Melancholie ausgemacht, die über seinen Büchern liegt. Und trotzdem liest man aus allem, was er schreibt, doch heraus, daß es ihm um die Bewältigung des Lebens in der Gegenwart geht, und daß die Bewältigung gelingen kann.

Περεκράτης
Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Erinnerung, persönliche Erinnerung und kulturelle Erinnerung scheinen mir beim Σεβαλδος wahrlich zu einer unauflöslichen Einheit verwoben; Leben und Erinnerung, insgesamt vielleicht ein verdammenswertes Geschäft, in jedem Fall aber verdammenswert das eine ohne das andere et vice versa. Alle bewältigen wir schließlich das Leben auf die eine oder andere Weise, und können hoffen, aber auch annehmen, daß der Σεβαλδος sich selbst dabei ebenso sehr helfen konnte, wie er uns hilft.

Χριστιανος
Am Ende der Reise kehrt er in sein Haus im Dorf Poringland südlich von Norwich zurück. In gelehrten Schriften kann man nachlesen, daß er dort ursprünglich einen vollkommen verwahrlosten Garten vorgefunden, ihn aber in einen der schönsten Blumengärten weit und breit verwandelt hat. Sicherlich hat er sich vorstellen können, daß eines Tages auch dieser Garten dem allgemeinen Verfall preisgegeben sein wird. Aber er hat gegen den Verfall an gearbeitet, in seinem Garten wie in seinem Buch.

Άρκτος
Der große Wittgenstein hat seinen sommerlichen Aufenthalt als Klosterhilfsgärtner in einer Gerätehütte als besonders glückliche Zeit angesehen.

Περεκράτης
Paul Bereyter und Jacques Austerlitz sind Verwandte des Wittgenstein im Werk des Σεβαλδος und beide werden tätig als Gärtner oder auch, im Falle des Austerlitz, als Hilfsgärtner. In einer meiner Schriften habe ich versucht, die Bedeutung der Gartenarbeit für ihr Leben zu erfassen.

Χριστιανος
Das letzte Bild des Buches entsteht scheinbar zufällig aus dem Kapitel über die früher einmal in der Gegend von Norwich betriebene Seidenspinnerei. Mit schwarzer Seide werden die Spiegel im Hause eines Toten verhängt. Man erfährt Genaueres über diese bekannte Sitte: auch die Bilder nach der Natur werden verhängt. Und auch der Grund dafür wird genannt: am Ende soll die Seele bei ihrem Fortgang nicht abgelenkt werden, weder von ihrem eigenen Bild noch von den Bildern ihrer bald auf immer verlorenen Heimat. Ich dachte hier an Montaigne, der gesagt hat, er wolle aus Büchern lernen, gut zu leben und gut zu sterben. Σεβαλδος entläßt uns mit einem Hinweis auf vernünftiges Sterben, und mir scheint, daß auch seine Darstellungen von Verfall und Verlust auf eine ebenso vernünftige Weise dazu beitragen wollen, uns die Blumengärten unseres Lebens noch eine Weile lieb zu machen.

Άρκτος
Über den Montaigne könnte ich einiges erzählen, will aber die Auen Eures Redeflusses nicht schwemmen.

Περεκράτης
Man möchte meinen, daß es den Σεβαλδος in seinem Leben nicht zufällig in den verlorenen Osten Englands verschlagen hat, daß er diesen kargen Boden brauchte für den Reichtum seines Werkes, Tod und Leben.

Χριστιανος Ja, er ist der Mann solcher Gegensätze, die sich bei ihm nicht stoßen im Raum. Χαίρετε!

Περεκράτης
In jedem Fall werden wir noch das große letzte Buch des Σεβαλδος, das vom Austerlitz erörtern, von dem ich weiß, daß auch Άρκτος es gelesen hat, so daß er mit seinem Urteil nicht hinterm Berge halten wird. Χαίρετε!

Άρκτος
Qui vivra verra. Χαίρετε!


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