Freitag, 4. September 2009

Sebaldos: Moments musicaux

Ein Trilog


Περεκράτης
Liebe Freunde, heute wollen wir über eine kleine Schrift des Σεβαλδος sprechen, die mir gleichwohl zu seinen liebsten zählt. Sie kommt dem, was man eine Autobiographie des Σεβαλδος nennen könnte, am nächsten und gleichzeitig gibt der Autor seinem Hang zum humorvollen Schreiben stärker nach als vielleicht in jedem anderen seiner Werke.

Χριστιανος
Die Moments musicaux, um die geht es, verdanken ihren gedanklichen Eingang der Insel Korsika.




Περεκράτης
Ja, und konkret beginnt es, wirklich nicht untypisch für den Σεβαλδος, in einem Gasthaus, einer Καφετερία. Der einzige Gast, ein alter Mann mit vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. – Die Erzählung beginnt mit dem stummen Takt der Zeit zum Tode hin, aus dem dann die Lebensmelodien der Musik aufsteigen.

Χριστιανος
Aber es sind zunächst grausige Erinnerungen an frühkindliche Musikerlebnisse, die Σεβαλδος in Moments musicaux schildert, und sie konkurrieren in meinem Leben mit einem vollkommen anderen, fast idyllischen Bild. Hier frage ich allerdings, ob Σεβαλδος mit den vielen Schilderungen einer als unerträglich empfundenen Musik nicht in das alte englische Klischee verfällt, man sei auf der Insel insgesamt unmusikalisch, liebe aber an der Musik, den Krach, den sie macht.

Άρκτος
Bei den Moments musicaux halte ich die Antipathien des Σεβαλδος gegen Formen der altbayerischen Volksmusik, die von eingeborenen Musikanten praktiziert und von seinem Vater besonders geliebt wurden, eher für ein privates Trauma, das als Basis für eine Generalisierung nicht ausreicht.

Περεκράτης
Liest man das Stückchen wie ich als an die Musik angelehnten Lebensbericht und ferner als künstlerische Prosa, so ist alles privat und ein generalisierbarer Wahrheitsanspruch außerhalb des Rahmens der Erzählung besteht nicht. - Wie eigentlich immer beim Σεβαλδος wird sein Humor dann, wenn er sich seiner deutschen und vor allem seiner bayerischen Heimat nähert, um einiges drastischer. Mich jedenfalls reizen der Bericht von der heimatlichen Jodlertruppe, den in den Radiowecker eingesperrten Rottachtaler Volksmusikanten sowie auch von den eigenen, erzwungen Bemühungen um das Zitterspiel weitaus mehr zu herzlichem Lachen, als daß mir vor ihnen graust.

Άρκτος
Die kontrastreiche Schilderung der Kirchenmusik ist beeindruckend, wenn auch z.T. wenig nachsichtig formuliert (Geheul) und erinnert vor allem am Schluß etwas an eine Stelle im vierzehnten Kapitel des Manns ohne Eigenschaften unseres großen Musil.

Περεκράτης
Meine eigenen Erinnerungen an den Gemeindegesang lassen mir Geheul durchaus als neutral deskriptiv erscheinen, und der Bericht sowohl von dem im klinischen Sinne einfältigen Adam Herz, der sich allsonntaglich die Seele aus dem Leib singt, als auch von dem Chorregenten, der befreit von der Gemeinde, seinem musikalischen Furor freien Lauf läßt, scheinen mir nicht nur nachsichtig, sondern so liebevoll, daß es mir geradezu die Tränen in die Augen treibt.

Άρκτος
Diese Deine Worte, Περεκράτης, muß ich noch in meinem Herzen bewegen. In jedem Fall ist die Sensibilität des Σεβαλδος für die wunderschönen Stücke und Melodiebögen, die sein geliebter Lehrer Bereyter auf der Klarinette blies, ist für mich überzeugend dargestellt, wird aber im Zusammenhang der musikalischen Momente ein Teil der polarisierenden Bewertung von gut und schlecht. Diese Bewertungen im Bereich der Musik sind nicht immer, aber oft mode- und temperamentsabhängig. Vom Hörensagen sind mir z.B. ziemlich unfreundliche Bemerkungen des Johann Christian Bach über seinen großen Vater, oder von Schumann über Haydn oder von Brahms über Wagner in Erinnerung.

Περεκράτης
Einerseits sagt man ja, daß die wahren Genies zu groß und zu einsam sind, um sich wechselseitig zu verstehen, andererseits kann m an das Gefälle zwischen dem großen Bach und den Rottachtalern vielleicht sogar mit den Mitteln der Naturwissenschaft nachweisen, wie sie unser großer Άριστoτέλης initiiert hat.

Χριστιανος
Natürlich gibt es auch in den Erinnerung des Σεβαλδος schöne Musik, den Lehrer, der auf Wanderungen Brahms auf der Klarinette spielt, aber die Musik bleibt am Ende doch in einer engen Funktionalität gefangen, die auf Sigmund Freud zurückgeht: sie soll uns helfen zur Abwehr der Paranoia. Diese Definition aus dem Negativen heraus sieht nicht – wie könnte es bei Freud aber auch anders sein – den göttlichen Funken in jeder guten Musik und den offenen Himmel und die kosmische Harmonie über jeder gelungenen Komposition. Das englische Understatement, was die Liebe zum Krach betrifft, wird übrigens in der Realität von unzähligen guten Kompositionen widerlegt und von einer langen Ahnenreihe großer Komponisten, zu denen nicht zuletzt auch John Lennon und Paul McCartney gehören.

Άρκτος
Ausgehend von der nicht ganz ernst gemeinten These, daß z.B. die Laienmusik an Humor gewinnen kann, was sie an Ästhetik verliert, und meiner Ansicht, daß die Musik insgesamt vor allem prophylaktische und therapeutische Funktionen hat, beschäftigt mich besonders folgende Formulierung im Text des Σεβαλδος , auf die auch Χριστιανος schon angesprochen hat: Ich denke nicht, daß ich damals, als Zwölfjähriger, habe erahnen können, was ich viel später in einer der Studien Sigmunds Freuds, wenn ich mich nicht täusche, gelesen habe und was mir sogleich einleuchtete, nämlich daß das innerste Geheimnis der Musik eine Geste sei zur Abwehr der Paranoia, daß wir Musik machten, um uns zu Wehr zu setzen gegen die Überflutung durch die Schrecken der Wirklichkeit. Ich habe versucht, den Zusammenhang dieser Stelle in Freuds Werken , vor allem in denen, die sich durch ihren Titel auf die Paranoia beziehen, in der Sammlung Gutenberg zu finden, leider ohne Erfolg. Auch verschiedene Wortkombinationen in der sinnreichen Guggelmaschine haben nichts Konkretes erbracht. Vielleicht seid Ihr geschickter. Wenn man überlegt, was die Paranoia in der Weltgeschichte und den Privatgeschichten schon alles angerichtet hat, könnte man vielleicht aus Ansichten Freuds und des Σεβαλδος ein allgemeines friedensförderndes Musikalisierungsprogramm ableiten.

Περεκράτης
Ein Gedanke, der mir schon seit langem im Sinn liegt, ist dieser: Leute, die, wie Ihr beiden, einen wahren Zugang zur Musik haben und darin ihr Genügen finden, sind gegenüber den musikalischen Eigenschaften von Sprachkunstwerken vielleicht weniger aufmerksam als diejenigen, für die, wie es bei mir der Fall ist, die Musik hinter einem verschlossenen Tor liegt. Σεβαλδος wäre nicht Σεβαλδος, wenn er eine musikalische Erzählung nicht musikalisch gestaltet hätte. Es beginnt mit dem lautlosen Takt des Glases und schließt mit der lautlosen Stille beim Tode des großen Τζιουζέπε Βέρντι, auf den Ihr beide zu meiner Überraschung gar nicht eingegangen seid - Άρκτος hat sogar, wider alle seine Gewohnheit, den allerletzten, dem großen Wittgenstein zugewandten Satz unbesehen gelassen - und dazwischen liegt viel Dur und Moll. Was nun die Stelle beim alles in allem doch großen Freud anbelangt, so würde ich einerseits dem Σεβαλδος zutrauen, daß er sie sich ausgedacht hat – wahrscheinlich ist das aber nicht – und andererseits scheint sie mir in der Erzählung keineswegs von enger Funktionalität. Die Paranoia ist für jeden Einzelnen von uns das Einfallstor für das Grauen der Welt, das für den Σεβαλδος, wir wissen es aus seinen großen Büchern, immer gegenwärtig ist, und gegen das er sich - und wir mit ihm – mit den Mitteln der Kunst und den göttlichen Funken in ihr stemmt.
An ihren äußersten Endpunkten ist die Erzählung aufgehängt zwischen einem Gewitter auf Korsika und einem Gewitter über Bregenz. Der leere Takt der Zeit und der Gewitterlärm, der Krach, von dem Du, Χριστιανος, sprichst, von unseren Vorfahren gedeutet als Drohung einer aufgebrachten Gottheit, überformt und gebannt in der Musik.

Χριστιανος & Άρκτος
Περεκράτης, diese Deine Worte müssen wir noch bedenken und in unsere Herzen bewegen. Χαίρε!

Περεκράτης
Χαίρετε und auf bald!


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