Donnerstag, 24. September 2009

Dr. Henry Selwyn

Το βλέμμα του Σελυσσέα

Ist der Dichter tot und sein Nachlaß vollständig herausgegeben, bleibt den Verlagen zur Anfachung und Befriedigung des Leseeifers noch die Möglichkeit eines Neuarrangements der Texte. Zu Thomas Bernhard sind im letzten Jahr eine Reihe kleiner Bändchen herausgegeben worden mit Titeln wie Naturgemäß, Ehehölle &c., und tatsächlich konnten die durchweg bekannten, über das Werk verstreuten Texte in der thematischen Zusammenfassung einen Schein des Neuen abwerfen. Von Sebald möchte man sich in dieser Art ein Brevier Erste Blicke des Selysses wünschen. Zwar wirkt das Prosawerk wie ein Spiegelkabinett zweiter und weiterer Blicke, aber es ist ein Kabinett mit einem großen Fenster nach draußen auf das unmittelbar mit dem Auge wahrnehmbare, Landschaften, Gärten, Städte. Gäbe es nur diese Fensterblicke, würden sie auch schon glücklich machen. Der als Spiegelkabinett eingerichteten Sebaldausstellung im Literaturarchiv Marbach fehlte also ein wichtiges Element, aber sie war thematisch auf die Unterwelt eingeengt und daher ganz sinnvoll im Untergeschoß des Archivs untergebracht.

Die einleitenden Seiten der Erzählung Dr. Henry Selwyn, die Landschaft, der Garten, der Küchengarten, müßten in jedem Fall Aufnahme finden in das Brevier. Allerdings ist der erste Blick des Selysses, wie eigentlich immer, durchwachsen. Schon auf der zweiten Seite kommt ein Landhaus in der Charente in den Sinn, in dem zwei verrückte Brüder in jahrzehntelanger Arbeit die Vorderfront des Schlosses von Versailles errichtet hatten, eine ganz und gar zwecklose, aus der Entfernung allerdings sehr eindrucksvolle Kulisse, deren Fenster geradeso glänzend und blind gewesen waren wie die des Hauses, vor welchem wir jetzt standen. Obendrein ist die Eingangspassage mit zwei Merkmalen versehen, die eigentlich nicht statthaft sind in Sebalds Erzählwelt: Selysses ist in profaner Zweckhaftigkeit und Zielgerichtetheit unterwegs, es geht um Wohnungssuche, so daß der gedankliche Ausflug in die Charente mit ihrer rettenden Verrücktheit wie Flucht und Entschuldigung wirkt; - und, noch schlimmer, Selysses ist nicht allein, sondern in Begleitung von Clara, offenbar seine Frau. Clara rutscht aber mit in den toten Winkel der subjektiven Sprachkamera hinein und bleibt so schemenhaft und weitgehend unsichtbar wie Selysses selbst.

Henry Selwyn tritt auf im Feld des ersten Blicks als Eremit, umgeben von Pferden und Eichkatzen. Ähnlich wie Stendhal Kafkas Jäger Gracchus ankündigt, kündigt Selwyn den Major George Wyndham Le Strange an, der, in den Ringen des Saturn, als Eremit in einer Wolke aus von Federvieh dem zweiten Blick, konkret: einem Zeitungsartikel, womöglich noch glanzvoller entsteigt. Könnte man urteilen, daß Sebald, ohne Zweifel ein Meister des ersten Blicks bei Landschaften, Gärten und Städten, sich bei der Menschendarstellung mit dem zweiten Blick leichter tut? Auch Menschen wie Paul Bereyter oder Fritz Binswanger, die dem Selysses aus der Kindheitserinnerung des Selemach, der ein anderer ist, übertragen werden, sind Gestalten des zweiten Blicks. Virtuos aber vereinnahmt der erste Blick in jedem Fall die äußere Erscheinung eines Menschen: Edward Ellis war von sehr schmächtiger Statur und stand, während Dr. Selwyn stets leicht vornübergebeugt war, immer hochaufgerichtet. Der Hemdkragen war ihm um seinen faltigen Hals, der wie der mancher Federtiere oder einer Schildkröte harmonikaartig aus- und einfahren konnte, zu weit geworden, der Kopf war klein, wirkte irgendwie prähistorisch oder zurückgebildet, die Augen darin aber glänzten von einer blanken, ja wunderbaren Lebendigkeit.

Das Haus der Selwyns, in dem Selysses und Clara dann tatsächlich Unterkunft finden, ist so gut wie unbewohnt. Mrs. Selwyn befand sich oft wochenlang auf Reisen. Dr. Selwyn hielt sich in einer aus Feuerstein gemauerten kleinen Einsiedelei auf, in der er sich mit dem Nötigsten eingerichtet hatte. In der Küche machte sich zu jeder Stunde des Tages eine weibliche Person unbestimmten Alters meist über dem Ausguß zu schaffen. Welchen Arbeiten sie in der Küche tagaus, tagein oblag, blieb sowohl mir als auch Clara unverständlich. Das Haus ist der Besichtigung der und dem Nachdenken über die Vergangenheit freigegeben. Ich versuchte mir oft auszudenken, wie das Innere der Köpfe der Leute beschaffen gewesen sein mußte, die mit der Vorstellung leben konnten, daß hinter den Wänden der Zimmer irgendwo immer die Schatten der Dienerschaft am Huschen waren.

Im Mittelpunkt des weiteren Verlaufs der Erzählung stehen zwei Bild- und Blickveranstaltungen. Zunächst ist es eine Diavorführung als Höhepunkt einer Abendeinladung für Selysses und Carla. Es ist reines Schauen ohne Worte: Das leise Surren des Projektors setzte ein, und der sonst unsichtbare Zimmerstaub erglänzte zitternd im Kegel des Lichts als Vorspiel vor dem Erscheinen der Bilder. Während die Bilder auf der Leinwand zitterten, herrschte eine nahezu völlige Stille im Raum. Zuvor aber hatte Selwyn von seinem Leben in der Schweiz erzählt: Die meiste Zeit sei er im Berner Oberland gewesen und dort mehr und mehr der Bergsteigerei verfallen. Das Motiv des Bergsteigens ist offenbar dem der Fliegerei verwandt, eine Abwendung von der Welt, ein Auswandern nach oben. Die Diavorführung zeigt dann allerdings keine Schweizer Landschaften, sondern die Hochebene von Λασίθι auf Kreta. Ein paarmal sah man Dr. Selwyn in knielangen Shorts, mit Umhängetasche und Schmetterlingsnetz. Eine der Aufnahmen glich bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Photo von Nabokov, das ich ein paar Tage zuvor aus einer Schweizer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Der Blick des Selysses gleitet ab und bleibt auch auf Kreta in der Schweiz. Nabokow, der auch in den Erzählungen Ambros Adelwarth, in Amerika, und Max Aurach wieder seinen Auftritt hat und als gleichsam führender Ausgewanderter und Schmetterlingsjäger an die Stelle des Jägers Gracchus in den Schwindel.Gefühlen tritt.

Die zweite Blickfolge sind erinnernder Blicke Selwyns zurück in seine Kindheit in einem Dorf nahe der weißrussischen Stadt Grodno. Ich sehe, sagte Selwyn, und mit seinen Augen sieht auch Selysses, wie mir der Kinderlehrer im Cheder die Hand auf den Scheitel legt. Ich sehe die ausgeräumten Zimmer. Ich sehe mich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen, sehe die Kruppe des Pferdes. Ich sehe die auf- und niedersteigenden Telegrafendrähte vor den Fenstern des Zuges, sehe die Häuserfronten von Riga, das Schiff im Hafen, die hohe See, die Fahne des Rauchs, die graue Ferne. - Letztlich wandern wir alle fort vom Ort unserer Geburt und niemand findet den Weg zurück.

Inzwischen, so Selwyn später, habe er längst seine letzten Kontakte mit der sogenannten wirklichen Welt gelöst. Es ist die Lehre der Heiligen, daß wir die Welt schon vor unserem Tod verlassen sollten. Die Heiligen sind Ausgewanderte aus der Welt, sind die Ausgewanderten Heilige? Cioran spricht von Aufwachen und, in schöner Verdrehung, von Emanzipation: Ce serait exiger de l'homme qu'il s'éveille  
-->à l'absolu, qu'il devienne uniquement animal métaphysique. Un tel effort d'émancipation, un tel bond hors de nos vérités de dormeurs, peu en sont susceptibles. - Handelt es sich bei diesen wenigen, die es denn doch gibt, um Stendhals Happy Few in der Auslegung Sebalds?
Und sie wandern noch einen Schritt weiter aus, in den Tod, den alle vier Helden der langen Erzählungen auf die eine oder andere Art selbst herbeirufen. Das Schreiben, wir wissen es von Bernhard oder Cioran, und auch bei Sebald klingt es immer wieder an, ist eine andere Form des Suizids oder, wenn man so will, seine Zurückstellung, eine andere Weise des Aufnahmebegehrens in das Kollegium der Happy Few, die ja keineswegs glücklich sind, man schaue sich Julien Sorel oder Fabrizio del Dongo nur an.

Das Bergsteigen hatte Selwyn in Begleitung des Bergführers Johannes Naegeli betrieben, dem er von Anfang an sehr zugetan gewesen sei. Naegeli ist dann bald auf dem Weg von der Oberaarhütte nach Oberaar verunglückt und seither verschollen. Gerald Fitzpatrick, prominenter Vertreter des verwandten Fliegerthemas, startet mit seiner Cessna von Genf in der Schweiz aus und stürzt in den Savoyer Alpen zu Tode. Selysses hat noch einen zweiten Blick auf Naegeli. In einer Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1986 wird von dem seit dem Sommer 1914 als vermißt geltenden Bergführer berichtet, dessen Überreste jetzt geborgen wurden. So kehren sie wieder, die Toten. Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe. Die Schuhe, Werkzeug unserer Wanderungen, die Knochen, ihr einziges Ergebnis, auch und gerade bei den Heiligen.


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