Mittwoch, 30. September 2009

Die angehaltene Zeit

Zeiten und Orte

Ci vediamo a Gerusalemme

Sebald gilt als Dichter der Erinnerung und damit auch als Dichter der Zeit und der Suche nach ihr. Der sebaldnahe Erzähler im Text, Selysses, ist immer unterwegs und auf Wanderschaft zu verschiedenen Orten, also wohl ein Vertreter und Liebhaber des Raums.


In seinem Aufsatz Einbruch der Gegenwart in die Ordnung des Raums, Zum Topographischen in Benjamins Geschichtsdenken zitiert Stephan Braese aus Stephan Zweigs Die Welt von Gestern: Redlich meinten unsere Väter, die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen würden allmählich zerfließen ins gemeinsam Humane und damit Frieden und Sicherheit, diese höchsten Güter, der ganzen Menschheit zugeteilt werden.

In diesem Textstück erscheint eine auf einen säkularen, positiven Endpunkt hin ausgerichtete homogenisierte Zeit, Zeit in der die Form der gemeinen Utopie. Das ist offenbar nicht die Zeit der Erinnerung. Die Utopie verlangt den festen Blick nach vorn und angelangt an dem von ihr bezeichneten Punkt, wer möchte noch zurückschauen. Hinter ihm läge nur Schlimmes und vor ihm ein klares immergleiches Heute. Die Erinnerung lebt nicht in der Zeit, sondern in verschiedenen Zeiten.

Die Grenzen verschwinden ebenfalls in diesem Text, der Raum ist entkonkretisiert und homogenisiert, wohin sollte Selysses da noch reisen und wer wollte ihm folgen auf Wanderungen in dieser topographischen Wüste. Säkulare Heilsversprechen Utopien, die die Zeit gleichrichten und den Raum entleeren, tun der Poesie anscheinend nicht gut. Man könnte meinen, Selysses habe poetologische Gründe für den resoluten Stop der Weltzeit im Jahre 2013. Die Zeit kann nicht weiter entrinnen, die Orte sind bewahrt, die Welt des Dichter besteht.

Anläßlich eines Aufenthaltes des Selysses in Spanien, der nicht sattgefunden hat, wurden Bezüge zu Benjamins Säkularisierungsüberlegungen erahnt. Anders als Carl Schmitt, der das Erbe der heiligen Versprechen in die Politik verlagert, sieht Benjamin Überlebensräume des Sakralen in der säkularisierten, profanen Welt vor.

Ohne das im einzelnen weiter zu verfolgen, ist festzuhalten und auch auf andere Weise evident: die Religion wurde eingangs der Neuzeit und in ihrem weiteren Verlauf offenbar geschwächt. Teile ihres Erbes gingen an die Politik, andere an die Kunst. Wer die Politik als Haupterbin sieht, verlangt wohl auch nach politisch engagierter Kunst. Sebald ist in seinen Prosawerken kein politisch engagierter Autor, auch wenn es in den literaturwissenschaftlichen Aufsätzen oft anders aussehen mag. Auf der anderen Seite hat er nicht wenig vom religiösen Erbe unmittelbar in seine Prosakunst eingebunden. Dem erinnernd Zurückblickenden steht das Heilige sozusagen unübersehbar auf dem Weg. Säkulare Heilsversprechen um den Preis des Vergessens werden zurückgewiesen. - Wie dem im einzelnen auch sei, anders als der Philosoph oder gar der Wissenschaftler muß sich der Dichter keine Klarheit verschaffen über die unklare Welt, als Epiker kann er sie unverändert in seine Erzählwelt übertragen. Der Leser muß diese Erzählwelt als die seine erkennen oder als ihm nicht gemäß zurückweisen, in ihr für mehr Klarheit zu sorgen als der Dichter selbst, ist nicht seine genuine Aufgabe.

Sebald eröffnet sein dichterisches Gesamtwerk mit einem Heiligentableau, Matthias Grünewalds Altar in der Pfarrkirche von Lindenhardt. Die klassischen Heiligen sind verwahrt in den Werken der Hochkunst. Viele der Reisen und Wallfahrten des Selysses gelten den Verwahrorten der Kunstwerke und der Heiligen darin, Isenheim, Verona, Padua, Den Haag, London, diese Stätten nicht zuletzt sind das Ziel seiner Reisen und Wallfahrten. Orte und Städte wie Verona oder gar London blühen in ihrer Gegenwart und Vergangenheit auch auf andere Weise auf in der Prosa, aber nirgends ist die Vergangenheit dichter und heller eingeschlossen, die Zeit zuverlässiger eingekapselt als in den Kunstwerken und zumal in den Heiligenbildern. San Giorgio con capello di paglia ist in der Londoner Nationalgalerie nicht an seinem Platz und zudem nicht an seinem gewohnten Platz, er war wegen Umbauarbeiten in einem schlecht beleuchteten Raum des Untergeschosses aufgehängt worden. Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild hatte man bedauerlicherweise in einen viel zu schweren Goldrahmen aus dem letzten Jahrhundert eingezwängt – anhaben können all diese Unbilden dem Heiligen Georg nichts.

Die in den Kunstwerken wohnenden Heiligen sind Leuchttürme im Meer des zu Erinnernden, ihr Licht fällt auf die seltsamen Heiligen, die ohne sie womöglich gar nicht als solche erkennbar wären. Sie aufzusuchen an den Orten, wo sie leben oder lebten, sei es im Staat New York, in der Ortschaft W. im Allgäu, in Norditalien und, in übergroßer Zahl, im englischen Südosten, ist der häufigste Reiseanlaß des Selysses. Die klassischen Heiligen strahlen hell aus der dunklen Vergangenheit und ihn ihrem Widerschein glimmt das immer unschuldiger werdende Leben der seltsamen Heiligen der Gegenwart, ihr Abglanz fällt auf den Text und uns. Dieses Scheinen ist Widerpart der ganz und gar und in allen ihren Details auf dem Prinzip der Verbrennung beruhenden, unaufhaltsam verglosenden zivilisatorischen Neuzeit. Stilistisch wird dieses Scheinen zum Lächeln der Sätze, die uns so freundlich empfangen und betreuen. Die Idee der Prosa aber fällt, wie Benjamin uns versichert, mit der messianischen Idee der Universalgeschichte zusammen, zeigt sich als Sprache, die von allen Menschen verstanden wird, wie die Sprache der Vögel von den Sonntagskindern.

Die Zeit fließt nicht dahin, angelagert an Orte kommt sie zum Stillstand. Die verschiedenen Zeiten schieben sich als Bilder über- und ineinander. In W. ist Selysses er selbst, sein eigener knabenhafter Vorgänger und auch der eigene Großvater: Wenn er es sich recht überlege, sei es natürlich nicht das Kind gewesen, an das er sich erinnert habe, sondern der Großvater der denselben Gang gehabt habe wie ich und beim Herauskommen aus seiner Haustür gerade so wie ich zuerst stehengeblieben sei, um nach dem Wetter zu schauen. - Während einserseits also ein Ort die Zeit in verschiedenen ihrer Zustände an sich binden und damit anhalten kann, vermag die Zeit ihrerseits die Orte überblenden und zwischen ihnen verschwinden: Meine Halluzinationen und Träume spielen häufig in einer Umgebung, deren Merkmale teilweise auf die Weltstadt Berlin, teilweise auf das ländliche Suffolk verweisen. Ich stehe beispielsweise an einem Fenster unseres Hauses, aber der Blick geht nicht auf die vertrauten Marschwiesen, sondern auf eine Schrebergartenkolonie, durch die eine schnurgerade Autoverkehrsstraße hindurchführt, auf der schwarze Droschken stadtauswärts sausen in Richtung Wannsee.

Wenn die Orte mit ihren Heiligen und Seltsamen Heiligen sich zu Seltsamen Attraktoren der Zeit entwickeln, so bildet das Jahr 2013 als eine Art Staumauer, die die Zeit sammelt und die leeren und falsch laufenden Utopien der Politik unterbricht. Offenbar aber ist diese Mauer nicht das Ende, dafür ist Sebalds Erzählwelt, die uns an diese Grenze führt, zu freundlich. Bei Sebald hat man das Gefühl, das Bild könne sich jederzeit drehen, alles könne neu anlaufen und uns in eine Welt versetzen, die nicht die der Vergangenheit aber auch keine Verlängerung der gegenwärtig laufenden ist. Es müßte sich vermutlich um kaum weniger als ein Reich Gottes, um das neue Jerusalem handeln.

Das wahre Jerusalem freilich ist nur eine große, niederschmetternde Enttäuschung. Über den Dächern kein Laut, kein Lebenszeichen, nichts. Nirgends, soweit das Auge ausschweift, erblickt man ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur den kleinsten Vogel im Flug. On dirait que c’est la terre maudite. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten. Neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint. Jahrelang ist dann das Projekt der Niederlegung des Lebens von den Cäsaren planmäßig betrieben worden, und auch später hat man Jerusalem wiederholt heimgesucht, befreit und befriedet, bis endlich die Verödung vollendet und von dem unendlichen Reichtum des Gelobten Landes nichts mehr übrig war als der dürre Stein und eine ferne Idee in den Köpfen seiner inzwischen weit über die Erde hin verstreuten Bewohner.

Seltsamen Heilige, Alec Garrad im Leben und Frohmann, aus Drohobycz gebürtig, im Traum basteln an einem neuen Jerusalem im kleinen Format. Frohmann erläuterte, wie er den Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Das wahre Kunstwerk restituiert alte und wahre Verheißungen als Miniatur, durch rückwärts gewandtes, verkleinerndes Sakralbasteln als Gegenlauf zur gigantomanischen Technik.

Das sind Stimmen, die aus dem Text zu uns sprechen wollen, sie murmeln in their different ways, wir können ihnen lauschen in our different ways, sie verkünden keine erlernbaren Wahrheiten und schon gar nicht erteilen sie uns Lebensratschläge oder Wegweisungen.

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