Montag, 7. September 2009

Sebaldos: Nabokow

Περεκράτης
Nun hast Du Dich an die gelehrten Schriften des Σεβαλδος begeben, Χριστιανος, und zuvörderst an die den Nabokow betreffende.


Χριστιανος
Am Ende der Adelwartherzählung gibt es einen überraschenden Perspektivenwechsel. Σεβαλδος ersetzt den bisher vorherrschenden zeitlichen Blick zurück durch einen räumlichen Blick nach unten. Aus großer Höhe schauend, von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren, ergreift den Betrachter ein Schwindel. Dieser stellt sich ganz ähnlich ein, wenn man sich – was eine Art von Dummheit ist, wie Adelwarth sagt – mit der Erinnerung beschäftigt. Denselben Blick von oben entdeckt Sebald nun auch bei Nabokow, und er entsteht bei dem russisch-amerikanischen Schriftsteller, der vielen seiner Kollegen Lehrmeister und Vorbild war, zunächst aus seiner eigenartigen Geistergläubigkeit, die Sebald ausführlich untersucht. Nabokow macht Literatur in gewisser Weise wie aus einer Séance heraus.
Περεκράτης
Σεβαλδος, Proust und Nabokow werden von den Gelehrten als große Erinnerungsdichter gehandelt. Nabokow hält, ähnlich wie der Jäger Gracchus die Schwindel.Gefühle oder die Seidenwürmer die Ringe des Saturn, die Ausgewanderten zusammen und hat mit seinem Schmetterlingsnetz auch einen Auftritt in der Adelwartherzählung ähnlich wie nach meiner Auslegung auch der Proust, wenn auch verdeckt, in der Deauvilleepisode.
Mit dem Turmbild in der Adelwartherzählung hast Du ein Motivfeld mit besonderer Qualität beim Σεβαλδος am Wickel, das der Höhe, des Bergsteigens, der Vögel und Flieger, der Levitation. Neben der von der ungeschmälerten Daseinsberechtigung auch des Geringsten beim Pisanello findet Σεβαλδος seine zweite große Selbstspiegelung beim Thomas Browne: Zwar gelingt es Thomas Browne, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Zweifellos spiegelt sich der Σεβαλδος nicht nur im Thomas Browne, sondern auch im Nabokow, wenn er schreibt: Das Schreiben, wie es Nabokow betreibt wird in die Höhe getragen von der Hoffnung, daß sich, bei genügender Konzentration, die hinter den Horizont schon herabgesunkenen Landschaften der Zeit in einem synoptischen Blick noch einmal erfassen lassen. – Hier fallen der zeitliche und der räumliche Blick in eins. Die gelehrte Schrift vom Nabokow endet damit, daß der Vater des Dichters von seinen Pachtbauern dreimal in die Luft geworfen wird, ein wunderbarer Fall von Levitation, den der Dichter als Knabe von seinem Platz am Tisch aus durch das Westfenster erleben konnte.

Χριστιανος
Ich habe mehrfach nachgelesen, wo die Stelle zu finden ist, an der die Magie der aus dem Totenreich wiederkehrenden Gestalten umschlägt in die Magie einer perfekt gestalteten Erzählung. Σεβαλδος verbindet dies in einer Erwähnung des Heiligen Thomas von Aquin, der gelehrt hat, daß eine Epiphanie sich immer durch eine besondere claritas kennzeichnet. Solchen visionären Augenblick sich entgegenzuschreiben ist nun Nabokows beständige Mühe, sagt Σεβαλδος. Sie wird belohnt, wenn am Ende etwas steht, von dem Nabokow sagt, es sei blendend in seiner Pracht und beinahe gemütlich in seiner perfekten Einfachheit.

Περεκράτης
Dabei hat Vorgang der Erinnerung, mit Ernst betrieben, zunächst nichts Gemütliches, wirft er uns doch, das wird gleich zu Beginn der gelehrten Schrift verdeutlicht, zur anderen Seite hinaus aus unserem Leben, in den Tod vor unserer Geburt. Geben wir die übliche Vorstellung auf, daß wir auf der Seite der Geburt fest verankert sind, und nur auf der Seite der Zukunft in die Ungewißheit des Todes schauen, dann sind wir wahrhaft Exilierte im Leben, bloße Gespenster schon fast, ein Exil, das im Fall des Nabokow durch das leibhaftige Exil aus Rußland nur noch verstärkt wurde, und ihn zum Grenzgänger machte zurück in das mit der Oktoberrevolution spurlos verschwundene Reich seiner Kindheit, von dem er sich bisweilen fragen mochte, ob es wahrhaft existiert hatte dereinst.

Χριστιανος
Die Mühe des Schreibers, eine solche blendende Wahrheit in Worte zu fassen, vollzieht sich laut Σεβαλδος mit einem geistigen Ruck, der unsere Gedanken entläßt in ein Universum in dem, wie in einem ordentlichen Satz, alles am rechten Ort und gut aufgehoben ist. Eine solche Ordnung, die ja gewissermaßen das Regelwerk des Universums unmittelbar an die vernünftige Reihung der Worte eines Satzes bindet, entsteht nun am sichersten, wenn man aufsteigt und die Dinge – wie Adelwarth – aus großer Höhe betrachtet. Aus dieser Höhe wird nicht nur die Ordnung der Welt sichtbar, es erscheint dort oben sogar möglich zu sein, daß Dinge wieder auftauchen, die dem Betrachter am Boden längst aus den Augen verschwunden sind.

Περεκράτης
Ja, die Vorstellung von einer Rettung aus dem Exil, einer Rettung vor der Rätselhaftigkeit und dem Grauen der Welt in den perfekten Sätzen einer Erzählung, einer Neuordnung der Welt mithin, das ist wohl das innerste Movens der Kunst des Σεβαλδος.

Χριστιανος
Von Landschaften der Zeit spricht Σεβαλδος – Du hast es schon erwähnt - und läßt in diesem Wort den Blick nach unten und den Blick zurück ineinander übergehen. Es erscheint ein gleichzeitig magisches und in seiner Wort- und Satzbezogenheit vollkommen rationales Bild der Welt, das sich jedem erschließt, der einen vernünftigen Satz lesen und verstehen kann. Das kann dann sogar beinahe gemütlich wirken, so übersetzt Sebald das almost homely des englischen Originals und holt es damit tief in den deutschen Sprachgebrauch hinunter.

Περεκράτης
Die Verwendung des deutschen Wortes gemütlich in einer Übersetzung ist immer ein Wagnis, freilich eins, das sich lohnen kann. Das englische homely hat den Vorteil, daß es das Bedeutungsmolekül der Heimkehr enthält, der Rettung vor dem Exil des Lebens.

Χριστιανος
Die Sehnsucht, die uns beim Lesen guter Texte überfällt, ist möglicherweise nicht nur auf das Ziel gerichtet, in der ungeordnet erscheinenden Welt schließlich doch eine Ordnung zu finden. Vielleicht wünschen wir uns, es wäre möglich, sie über die Ordnung der Worte sogar neu zu schaffen.

Περεκράτης
Das ist vielleicht der Punkt, an dem unsere weltlichen Worte beginnen, geistlich zu werden. Sehr gespannt bin ich, Χριστιανος, welchem Werk des Σεβαλδος Du Dich nun zuwenden wirst, es sollen nach Deiner letzten Nachricht die Ringe des Saturn sein. Ich freue mich schon auf unsere nächste Begegnung. Χαίρε!

Χριστιανος
Χαίρε!



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