Ein Dialog
Περεκράτης
Nun hast Du, Χριστιανος, auch die Erzählung des Σεβαλδος vom Max Aurach bereits verschlungen und etwas Neues darin entdeckt.
Χριστιανος
In der Geschichte des Malers Aurach wendet Σεβαλδος erstmals für alle Leser erkennbar die Methode an, nur aus einer einzigen, ihm vollkommen fremden Quelle eine eigene Geschichte zu entwickeln. Während das fiktive Tagebuch des fiktiven Onkels Ambros noch durch Geschichten aus der eigenen Familie ergänzt wird, stehen die Aufzeichnungen der Mutter des Malers für sich allein. Sie bilden ganz auf sich gestellt und phasenweise auch wohl wörtlich zitiert eine eigenständige Erzählung.
Περεκράτης
Wobei, wie Du völlig zu Recht ausführst, die Geschichte der Luisa Lanzberg, ihr Tagebuch, in der Erzählung vom Max Aurach offen zutage liegt, während später die Geschichte der Susi Bechhöfer nur ein untergründiger Keim für das Έπος vom Austerlitz ist.
Χριστιανος
Die Geschichte von Luisa Lanzberg nimmt am Ende 39 Seiten der insgesamt 138 Seiten der Auracherzählung ein und wird danach noch durch einen Bericht über eigene Recherchen des Σεβαλδος im Heimatort der Luisa ergänzt. Beim Lesen habe ich mich gefragt, welche Absicht hinter der Wiedergabe der Geschichten des jungen Mädchens steht. Manchmal wirkt sie wie eine Bildersammlung aus dem Bürgertum, etwa so, wie man es von Kempowski kennt, allerdings sehr viel unschuldiger und absichtsloser erzählt. Für Σεβαλδος könnte sie, wenn die Aufzeichnungen tatsächlich aus der Familie des berühmten Malers Frank Auerbach stammen, allein schon deshalb von Interesse sein, weil sie Hinweise auf die Quellen seiner rätselhaften Lebensleistung geben könnte. Möglicherweise hat Σεβαλδος auch vorausgesetzt, daß seine Leser in jedem Fall an einem jüdischen Lebenslauf in Deutschland interessiert sein würden, der, wie man vorher weiß, im Holocaust endet.
Beides – das Interesse an Hintergrundwissen zu Auerbach oder die Anteilnahme an einem jüdischen Schicksal – reicht aber nach meinem Eindruck nicht aus, um die Geschichte der Luisa wirklich lesenswert zu machen. Mir ging es jedenfalls so, daß ich erstmals nach Beginn meiner zweiten Lesereise durch die Bücher des Σεβαλδος versucht war, einige Seiten zu überschlagen. Was interessiert mich die Aufzählung der Namen des Bäckers, des Schächters, des Mehlhändlers, des Kaufmanns von Steinach bei Bad Kissingen?
Περεκράτης
Deine Geringschätzung der Tagebucheintragungen der Luisa Lanzberg mag Dein feines Prosagefühl bestätigen, denn es ist in der Tat kein echter Σεβαλδος, der hat, wie ich einst bei einem Gelehrten nachlesen konnte, das originale Tagebuch nur sehr geringfügig retouchiert. Aber auch der Kempowski, den Du anführst, hat ja in weit größerem Umfang noch, man denke nur an sein monumentales Echolot, unveränderte Zeitzeugentexte veröffentlicht. Natürlich fehlt den Aufzeichnungen der Luisa Lanzberg die Dichte und das surrealistische Leuchten der Reiseaufzeichnungen des Ambros Adelwarth, ich lese sie aber gern als ein anrührendes Denkmal einer einfachen, freundlichen und verbrecherisch vernichteten Welt.
Gern weise ich ja immer wieder auf die poetologische Selbstspiegelungen des Σεβαλδος im Maler Pisanello hin, wenn er an ihm rühmt, daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Da mag den Σεβαλδος gerade die Schlichtheit des Berichts der Luisa Lanzberg angesprochen haben. Der Dichter kann noch einen Schritt weiter gehen als der Maler in der Berücksichtigung auch des Geringsten, da für die Sprache die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit, anders als für das bildlich Dargestellte, kaum eine Bedeutung hat, die Vergangenheit also gleichberechtigt neben der Gegenwart stehen kann.
Χριστιανος
Dennoch, mir erscheint viel eindrücklicher das zu sein, was die Ereignisse in Deutschland im Denken und Fühlen des früh als Kind nach England geretteten Sohns der Luisa bewirken. Als die Briefe von zu Hause 1941 seltener werden und schließlich ganz abreißen, reagiert der in einem Internat lebende Junge erleichtert, auf eine mir selbst sträflich erscheinende Art. Später versucht er sich, gegen das Leid der Eltern und auch gegen das eigene Leid zu immunisieren, nur um zu erleben, daß die tiefe Wurzel des Unglücks ein giftiges Blätterdach über sein Leben wölbt und es verdunkelt.
Erneut zeigt sich Sebald nicht an dem Leid interessiert, dessen Ursachen man benennen, dessen Verantwortliche im politischen Bereich man namhaft machen kann. Die Geschichte Aurachs ist keine Holocaustliteratur. Sie erzählt von den verschiedenen Facetten eines größeren, allgemeineren Leidens, dem möglicherweise niemand entkommen kann.
Περεκράτης
Auch ich verwende mich ja immer wieder dafür, in dem Σεβαλδος keinen Holocaustdichter zu sehen, gleichzeitig aber darf man nicht daran zweifeln, daß der Holocaust ihm das hellste und schrecklichste Höllenfeuer seines Jahrhunderts gewesen ist.
Χριστιανος
Im Atelier des Malers Aurach schichten sich die Farbreste auf dem Boden und bilden eine verkrustete Masse, die einem Lavaausfluß gleicht. Diese Farbreste (laut Aurach das wahre Ergebnis seiner fortwährenden Bemühungen) und der allgegenwärtige Staub (für Aurach so ziemlich das Liebste auf der Welt) sind in gewisser Weise das Material, aus denen Aurachs Bilder entstehen, sie werden Schicht um Schicht aufgetragen, verwischt, abgekratzt, erneuert und enthalten schließlich in ihrer endgültigen Form alle ihre Vorstufen in sich.
Der Staub ist auch das Material, das in Sebalds Geschichten eine tragende Rolle spielt. Er ist das Ziel, auf den sich der allgegenwärtige Zerfall hinbewegt, die grandiose Auflösung, die etwa dem ganz aus Holz gebauten Sanatorium Samaria in der Ambrosgeschichte bevorsteht, ein Ende als puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl, oder auch der Zerfall, in dem sich das Jerusalem von 1913 befindet, das Ambros und Cosmo am Ende ihrer Reise besuchen, knöcheltief mancherorts der pudrige Kalkstaub.
Περεκράτης
Gern, Χριστιανος, folge ich Dir über die schöne Brücke, die Du vom zu Staub verfallenden Sanatorium und bis hin nach Jerusalem dann zum Kunststaub des Aurachs schlägst. H σκόνη του χρόνου, der Staub der Zeit, wie das neue Έπος in bewegten Bildern unseres genialen Landsmanns Θόδωρος Αγγελόπουλος heißt, unterlegt wieder mit den sehnsuchtsvollen Sirenenklängen der Ελένη Καραΐνδρου.
Aurach will offenbar auch als Maler offenbar den Unterschied von Gegenwart und Vergangenheit aufheben, wenn er Farbreste und Radierstaub, die beim der Entstehung seiner Werke anfallen und insofern deren Vergangenheit bilden, zum eigentlichen Werk erklärt
Χριστιανος
So wie Aurach diesem Staub Bilder abgewinnt, welche auf den Märkten der Welt Rekordpreise erzielen, so läßt der Σεβαλδος aus einem feinen Wechselspiel von melancholischer Ergebenheit in die Vergänglichkeit aller Dinge und der künstlerischen Kraft, mitten im Staub neue Erinnerungen lebendig werden zu lassen, große Literatur entstehen. Daß daraus ein mythologisches Spiel von Sterben und Auferstehen werden könnte, das läßt Sebalds leise Trauer, die sich durch viele seiner Begebenheiten zieht, nicht zu. Aber daß auch im Verglühen Schönheit gegenwärtig sein kann, das erleben seine Figuren schließlich doch – so wie Cosmo und Ambros beim Blick ins Jordantal zunächst von einer Flut des Lichtes umgeben dann langsam den Abend hereinbrechen sehen und spürten, wie allmählich alles verglomm.
Aber es ist nicht nur Schönheit, die da aus dem alles verdeckenden Staub entsteht, es ist mehr. Der letzte Blick des Buches geht in die Augen dreier Frauen, die im Ghetto von Litzmannstadt in einer großen Weberei arbeiten. Σεβαλδος betrachtet ihr Photo (und gibt es, gegen seine sonstige Gewohnheit, im Buch nicht wieder) und erkennt in ihnen die drei Schicksalsgöttinnen, die Parzen der römischen Mythologie. In ihrem Bild werden aus Opfern mögliche Rächer und aus der Vergangenheit erwachsen nicht nur Bilder sondern neue Kräfte, die unser Leben heute schicksalhaft bestimmen und bedrohen.
Περεκράτης
Welche Bilder der Σεβαλδος seinen Worten beigibt und welche nicht, ist schwer zu sagen und noch schwerer vorherzusagen. Ich will dem demnächst eine eigene Schrift widmen, kann aber nicht behaupten, ich würde klarsehen. Es dürften sich auch allenfalls schwache systematische Linien nachzeichnen lassen.
Gern schließt der Σεβαλδος seine Werke oder Teile seiner Werke mit einem überbordenden Satz oder Absatz, der sich wie ein Kelch öffnet und Schönheit und endlose, sich gleichsam befreiende, nicht mehr zu bestimmende Bedeutung zu einer Einheit fügt. Sehr gefällt mir die von Dir freigelegte Bedeutungsmöglichkeit, wonach aus der Vergangenheit nicht nur Bilder erwachsen, sondern neue Kräfte, die unser Leben heute schicksalhaft bestimmen und bedrohen.
Du deutest an, Χριστιανος, daß Du daran denkst, als nächstes das Buch des Σεβαλδος vom Krieg, der aus den Lüften auf die Erde getragen wird, zu lesen. Es ist eine Kampfschrift, die ich keinesfalls auf einer Ebene mit seinen großen Prosabüchern sehe, aber natürlich können wir auch dieses Werk zum Gegenstand unserer Gespräche erwählen. Χαίρε, und auf bald!
Χριστιανος
Χαίρε!
Περεκράτης
Nun hast Du, Χριστιανος, auch die Erzählung des Σεβαλδος vom Max Aurach bereits verschlungen und etwas Neues darin entdeckt.
Χριστιανος
In der Geschichte des Malers Aurach wendet Σεβαλδος erstmals für alle Leser erkennbar die Methode an, nur aus einer einzigen, ihm vollkommen fremden Quelle eine eigene Geschichte zu entwickeln. Während das fiktive Tagebuch des fiktiven Onkels Ambros noch durch Geschichten aus der eigenen Familie ergänzt wird, stehen die Aufzeichnungen der Mutter des Malers für sich allein. Sie bilden ganz auf sich gestellt und phasenweise auch wohl wörtlich zitiert eine eigenständige Erzählung.
Περεκράτης
Wobei, wie Du völlig zu Recht ausführst, die Geschichte der Luisa Lanzberg, ihr Tagebuch, in der Erzählung vom Max Aurach offen zutage liegt, während später die Geschichte der Susi Bechhöfer nur ein untergründiger Keim für das Έπος vom Austerlitz ist.
Χριστιανος
Die Geschichte von Luisa Lanzberg nimmt am Ende 39 Seiten der insgesamt 138 Seiten der Auracherzählung ein und wird danach noch durch einen Bericht über eigene Recherchen des Σεβαλδος im Heimatort der Luisa ergänzt. Beim Lesen habe ich mich gefragt, welche Absicht hinter der Wiedergabe der Geschichten des jungen Mädchens steht. Manchmal wirkt sie wie eine Bildersammlung aus dem Bürgertum, etwa so, wie man es von Kempowski kennt, allerdings sehr viel unschuldiger und absichtsloser erzählt. Für Σεβαλδος könnte sie, wenn die Aufzeichnungen tatsächlich aus der Familie des berühmten Malers Frank Auerbach stammen, allein schon deshalb von Interesse sein, weil sie Hinweise auf die Quellen seiner rätselhaften Lebensleistung geben könnte. Möglicherweise hat Σεβαλδος auch vorausgesetzt, daß seine Leser in jedem Fall an einem jüdischen Lebenslauf in Deutschland interessiert sein würden, der, wie man vorher weiß, im Holocaust endet.
Beides – das Interesse an Hintergrundwissen zu Auerbach oder die Anteilnahme an einem jüdischen Schicksal – reicht aber nach meinem Eindruck nicht aus, um die Geschichte der Luisa wirklich lesenswert zu machen. Mir ging es jedenfalls so, daß ich erstmals nach Beginn meiner zweiten Lesereise durch die Bücher des Σεβαλδος versucht war, einige Seiten zu überschlagen. Was interessiert mich die Aufzählung der Namen des Bäckers, des Schächters, des Mehlhändlers, des Kaufmanns von Steinach bei Bad Kissingen?
Περεκράτης
Deine Geringschätzung der Tagebucheintragungen der Luisa Lanzberg mag Dein feines Prosagefühl bestätigen, denn es ist in der Tat kein echter Σεβαλδος, der hat, wie ich einst bei einem Gelehrten nachlesen konnte, das originale Tagebuch nur sehr geringfügig retouchiert. Aber auch der Kempowski, den Du anführst, hat ja in weit größerem Umfang noch, man denke nur an sein monumentales Echolot, unveränderte Zeitzeugentexte veröffentlicht. Natürlich fehlt den Aufzeichnungen der Luisa Lanzberg die Dichte und das surrealistische Leuchten der Reiseaufzeichnungen des Ambros Adelwarth, ich lese sie aber gern als ein anrührendes Denkmal einer einfachen, freundlichen und verbrecherisch vernichteten Welt.
Gern weise ich ja immer wieder auf die poetologische Selbstspiegelungen des Σεβαλδος im Maler Pisanello hin, wenn er an ihm rühmt, daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Da mag den Σεβαλδος gerade die Schlichtheit des Berichts der Luisa Lanzberg angesprochen haben. Der Dichter kann noch einen Schritt weiter gehen als der Maler in der Berücksichtigung auch des Geringsten, da für die Sprache die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit, anders als für das bildlich Dargestellte, kaum eine Bedeutung hat, die Vergangenheit also gleichberechtigt neben der Gegenwart stehen kann.
Χριστιανος
Dennoch, mir erscheint viel eindrücklicher das zu sein, was die Ereignisse in Deutschland im Denken und Fühlen des früh als Kind nach England geretteten Sohns der Luisa bewirken. Als die Briefe von zu Hause 1941 seltener werden und schließlich ganz abreißen, reagiert der in einem Internat lebende Junge erleichtert, auf eine mir selbst sträflich erscheinende Art. Später versucht er sich, gegen das Leid der Eltern und auch gegen das eigene Leid zu immunisieren, nur um zu erleben, daß die tiefe Wurzel des Unglücks ein giftiges Blätterdach über sein Leben wölbt und es verdunkelt.
Erneut zeigt sich Sebald nicht an dem Leid interessiert, dessen Ursachen man benennen, dessen Verantwortliche im politischen Bereich man namhaft machen kann. Die Geschichte Aurachs ist keine Holocaustliteratur. Sie erzählt von den verschiedenen Facetten eines größeren, allgemeineren Leidens, dem möglicherweise niemand entkommen kann.
Περεκράτης
Auch ich verwende mich ja immer wieder dafür, in dem Σεβαλδος keinen Holocaustdichter zu sehen, gleichzeitig aber darf man nicht daran zweifeln, daß der Holocaust ihm das hellste und schrecklichste Höllenfeuer seines Jahrhunderts gewesen ist.
Χριστιανος
Im Atelier des Malers Aurach schichten sich die Farbreste auf dem Boden und bilden eine verkrustete Masse, die einem Lavaausfluß gleicht. Diese Farbreste (laut Aurach das wahre Ergebnis seiner fortwährenden Bemühungen) und der allgegenwärtige Staub (für Aurach so ziemlich das Liebste auf der Welt) sind in gewisser Weise das Material, aus denen Aurachs Bilder entstehen, sie werden Schicht um Schicht aufgetragen, verwischt, abgekratzt, erneuert und enthalten schließlich in ihrer endgültigen Form alle ihre Vorstufen in sich.
Der Staub ist auch das Material, das in Sebalds Geschichten eine tragende Rolle spielt. Er ist das Ziel, auf den sich der allgegenwärtige Zerfall hinbewegt, die grandiose Auflösung, die etwa dem ganz aus Holz gebauten Sanatorium Samaria in der Ambrosgeschichte bevorsteht, ein Ende als puderfeines, blütenstaubähnliches Holzmehl, oder auch der Zerfall, in dem sich das Jerusalem von 1913 befindet, das Ambros und Cosmo am Ende ihrer Reise besuchen, knöcheltief mancherorts der pudrige Kalkstaub.
Περεκράτης
Gern, Χριστιανος, folge ich Dir über die schöne Brücke, die Du vom zu Staub verfallenden Sanatorium und bis hin nach Jerusalem dann zum Kunststaub des Aurachs schlägst. H σκόνη του χρόνου, der Staub der Zeit, wie das neue Έπος in bewegten Bildern unseres genialen Landsmanns Θόδωρος Αγγελόπουλος heißt, unterlegt wieder mit den sehnsuchtsvollen Sirenenklängen der Ελένη Καραΐνδρου.
Aurach will offenbar auch als Maler offenbar den Unterschied von Gegenwart und Vergangenheit aufheben, wenn er Farbreste und Radierstaub, die beim der Entstehung seiner Werke anfallen und insofern deren Vergangenheit bilden, zum eigentlichen Werk erklärt
Χριστιανος
So wie Aurach diesem Staub Bilder abgewinnt, welche auf den Märkten der Welt Rekordpreise erzielen, so läßt der Σεβαλδος aus einem feinen Wechselspiel von melancholischer Ergebenheit in die Vergänglichkeit aller Dinge und der künstlerischen Kraft, mitten im Staub neue Erinnerungen lebendig werden zu lassen, große Literatur entstehen. Daß daraus ein mythologisches Spiel von Sterben und Auferstehen werden könnte, das läßt Sebalds leise Trauer, die sich durch viele seiner Begebenheiten zieht, nicht zu. Aber daß auch im Verglühen Schönheit gegenwärtig sein kann, das erleben seine Figuren schließlich doch – so wie Cosmo und Ambros beim Blick ins Jordantal zunächst von einer Flut des Lichtes umgeben dann langsam den Abend hereinbrechen sehen und spürten, wie allmählich alles verglomm.
Aber es ist nicht nur Schönheit, die da aus dem alles verdeckenden Staub entsteht, es ist mehr. Der letzte Blick des Buches geht in die Augen dreier Frauen, die im Ghetto von Litzmannstadt in einer großen Weberei arbeiten. Σεβαλδος betrachtet ihr Photo (und gibt es, gegen seine sonstige Gewohnheit, im Buch nicht wieder) und erkennt in ihnen die drei Schicksalsgöttinnen, die Parzen der römischen Mythologie. In ihrem Bild werden aus Opfern mögliche Rächer und aus der Vergangenheit erwachsen nicht nur Bilder sondern neue Kräfte, die unser Leben heute schicksalhaft bestimmen und bedrohen.
Περεκράτης
Welche Bilder der Σεβαλδος seinen Worten beigibt und welche nicht, ist schwer zu sagen und noch schwerer vorherzusagen. Ich will dem demnächst eine eigene Schrift widmen, kann aber nicht behaupten, ich würde klarsehen. Es dürften sich auch allenfalls schwache systematische Linien nachzeichnen lassen.
Gern schließt der Σεβαλδος seine Werke oder Teile seiner Werke mit einem überbordenden Satz oder Absatz, der sich wie ein Kelch öffnet und Schönheit und endlose, sich gleichsam befreiende, nicht mehr zu bestimmende Bedeutung zu einer Einheit fügt. Sehr gefällt mir die von Dir freigelegte Bedeutungsmöglichkeit, wonach aus der Vergangenheit nicht nur Bilder erwachsen, sondern neue Kräfte, die unser Leben heute schicksalhaft bestimmen und bedrohen.
Du deutest an, Χριστιανος, daß Du daran denkst, als nächstes das Buch des Σεβαλδος vom Krieg, der aus den Lüften auf die Erde getragen wird, zu lesen. Es ist eine Kampfschrift, die ich keinesfalls auf einer Ebene mit seinen großen Prosabüchern sehe, aber natürlich können wir auch dieses Werk zum Gegenstand unserer Gespräche erwählen. Χαίρε, und auf bald!
Χριστιανος
Χαίρε!
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