Samstag, 12. September 2009

Sebaldos: Schwindel.Gefühle

Ein Dialog

Χριστιανος
Angeregt durch Deine Schriften, Περεκράτης, habe ich mich entschlossen, das Werk des Σεβαλδος zur Gänze ein weiteres Mal zu lesen. Die Bände Nach der Natur und Schwindel.Gefühle konnte ich nun schon schließen, nicht ohne ein Glücksgefühl.

Περεκράτης
Das freut mich für beide Seiten, Χριστιανος, denn so wie der Σεβαλδος jeden guten Leser verdient, verdient auch jeder gute Leser den Σεβαλδος.

Χριστιανος
Ich habe die Schwindel.Gefühle jetzt zum dritten Mal gelesen und fühle mich vom Autor gut behandelt, würde ihn sicherlich auch mögen, wenn ich ihm begegnen könnte.

Περεκράτης
Über den Σεβαλδος wissen wir nicht viel, jedes Buch ist natürlich das Werk eines Autors, eines Menschen, aber vom Menschen als Autor können wir nicht ohne weiteres auf den Menschen im Leben schließen, denke ich.


Χριστιανος
In Nach der Natur lese ich, daß die Natur kein Gleichgewicht kennt, sondern blind ein wüstes Experiment macht ums andere und wie ein unsinniger Bastler schon ausschlachtet, was ihr gerade erst gelang Aber es ist ja auch eine Erlösung in der Nähe – die Kranken des Isenheimer Stifts werden in die Nähe der grausamen Bilder gebracht, um heil zu werden. Das ist ein christliches Motiv.

Ich selbst teile heimlich die Autoren nach dem Kriterium auf, ob sie den Glauben des Updeikos an den grundsätzlich guten Urgrund der Welt teilen oder nicht. This world is not a horror-show, hat Updeikos als junger Mann, sich selbst tröstend, ins Tagebuch geschrieben und daraus gefolgert: Therefore God exists. Natürlich würde Σεβαλδος dies nie schreiben. Er läßt sein Schwindel.Gefühle in einem apokalyptischen Großfeuer enden, dessen Beschreibung er dem Tagebuch Samuel Pepys entnimmt. Es handelt sich um das Great Fire of London aus dem Jahr 1666, aber Σεβαλδος läßt die Worte Pepys so in die Schilderung einer 1987 stattfindenden Zugfahrt aus London heraus einfließen, daß man am Ende nicht mehr recht weiß, ob sich hier nicht Vergangenheit und Gegenwart mischen, möglicherweise sogar unter Einbeziehung der Zukunft, denn ganz am Ende steht rätselhaft die Jahreszahl 2013 unter dem Kapitel.

Περεκράτης
Ob der Updeikos sein Lebtag an seiner frühen Setzung unverrückt und unverzagt festgehalten hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Was den Σεβαλδος / Σελυσσες anbelangt, so teilt er auf der Fahrt nach Mailand das Zugabteil mit einer Franziskanerin, die in ihrem Brevier, sowie mit einem jungen Mädchen, das in einem Photoroman liest. Σελυσσες zieht daraufhin seinerseits den Beredten Italiener hervor, ein im Jahre 1878 in Bern erschienenes Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache. In diesem Büchlein ist alles auf das beste geordnet gewesen, so als setze die Welt sich tatsächlich bloß aus Wörtern zusammen, als wäre dadurch auch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge ein Stück Wahrheit. Σεβαλδος schaut, so muß man annehmen, mit Rührung und Sehnsucht auf die in dem Büchlein bewahrte, längst verflossene schlichte Welt und macht sich sogleich an die Arbeit, das schon vergessene Versprechen zu erneuern, an die Stelle des beredten Italieners den äußerst beredten, durch seine Italienreisen geschulten Alemannen Σελυσσες zu stellen, der die Welt in seinen perfekt ausbalancierten Sätzen in der Waage hält. Das könnte ihm nicht gelingen ohne die Hilfe der in der großen christlichen Kunst unzerstörbar für uns aufbewahrten Wahrheiten, wie immer es um die eigene Religiosität des Σεβαλδος bestellt gewesen sein mag.

Χριστιανος
Ganz besonders gefällt mir auch das Netz an Bezügen und Verweisen, das Σεβαλδος spinnt. Ich sah einmal meinem Vetter Χριστόφορος beim Malen zu, und er erklärte mir, daß er die nach meinem Eindruck immer eher zufällig auf der von Farben überquellenden Palette entstehende dicke Farbwurst auf seinem Pinsel oft an drei oder vier unterschiedlichen Stellen des Bildes nacheinander verwendet. Es wächst dann zusammen, sagte er mir.

Περεκράτης
Wobei man bei Σεβαλδος wohl weniger an eine dicke Farbwurst als an feine Fäden denkt. In den Schwindel.Gefühlen heißt es: Ich füllte mit Hingabe meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen in welches ich das Fräulein Rauch für immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Der Umstand, daß er bei dem Fräulein Rauch naturgemäß scheitern mußte mit seinem Vorhaben, hat den Σελυσσες nicht weiter entmutigt - so wie ihn auch die Schlichtheit des Beredten Italieners nicht entmutigt hatte - und vielmehr angestachelt, dann eben gleich die ganze Welt und uns alle einzuspinnen und schwindelig zumachen. Σεβαλδος späteres Werk Die Ringe des Saturn ist von vorn bis hinten mit den feinen Fäden des Seidenwurms verwebt.

Χριστιανος
Weil Sebalds Welt beständig von Apokalypsen bedroht ist, sind seine Menschen oft furchtsam und schwermütig. Er müsse „zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet“ werden, wird von dem am Ende freiwillig aus dem Leben scheidenden Dr. Rambousek in Sebalds Heimatdorf berichtet. In diesem Dorf seufzen selbst die Uhren, bevor sie ihr Läuten erklingen lassen, „der Regulator tickte, und immer eh er zu schlagen anhob, ächzte er lange auf, als brächte er es nicht über sich, den Verlust einer weiteren Viertelstunde anzuzeigen“. Auch der untröstliche Franz Kafka erscheint und begleitet über ein Kapitel den Weg Sebalds entlang des Gardasees. Auch hier vermischt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart und zwar in einer Weise, daß man beim späteren Nachlesen einzelner Stellen diese erst einmal nicht wiederfindet, weil die Erinnerung sie in einem jeweils anderen Kapitel untergebracht hat.

Auch Kafka ist ja ein klassisch Schwermütiger, aber gerade bei ihm kommen erste Zweifel an der Diagnose einer melancholischen Krankheit auf, die offenbar alle Leute in diesem Buch ergriffen hat. Kafka lacht nämlich auf dem Foto, das in ihm Buch zeigt, und dieses nach meinem Eindruck verräterische Lachen überträgt sich später auf einige der derb-bukolischen Figuren, die da zunächst scheinbar trübsinnig und kaum einer vernünftigen Regung fähig im Wirtshaus von Sebalds Dorf sitzen. Immerhin werden sie von zwei ausgesprochen witzigen, beständig auf Achse befindlichen Motorradfahrern auf das Sorgfältigste betreut – den von außen nicht zu unterscheidenden Herren Dr. Piazolo und Wurmser, Arzt der eine, Pfarrer der andere. Bei Ihnen sehen sich selbst die Rucksäcke so ähnlich, daß eine lustige Vertauschung möglich ist und der Arzt sich mit dem Besteck für die letzte Ölung auf dem Weg macht und der Priester mit dem Arztkoffer. Dies ist also kein Land, in dem es keinen Witz und keine Freude gibt. Selbst der ewig stumme Jäger Hans Schlag bekommt am Ende die Gelegenheit, sich mit der schönen Kellnerin Ramona zu vereinigen, und wie die beiden es unter freiem Himmel und bei knirschender Kälte hinter dem Wirtshaus treiben – der Jagdhund „Waldmann“, am Rucksack des Jägers angebunden, wenige Schritte von den beiden entfernt – das ist ernst und komisch zugleich. Tags drauf hat der Wirt das Mobiliar der eigenen Kneipe zertrümmert, und der Jäger stürzt im verschneiten Wald zu Tode. Da ist die Welt dann wieder in ihrer traurigen Ordnung, allerdings auch nicht ganz, denn der Dr. Piazolo darf sich noch anhören, wie aus des toten Jägers Hose die Melodie „Üb immer Treu und Redlichkeit“ erklingt, gespielt von dessen Repetieruhr. Über einer Welt, in der solche komödienhaften Situationen möglich sind, steht für mich am Ende schließlich doch noch: „not a horror-show!“ Vielleicht ist es das sogar, was Sebald uns sagen will, wenn alles andere gesagt ist: man kann diese Welt überleben, ja man kann aus ihr sogar unterhaltsame Reiseberichte versenden.

Περεκράτης
Σεβαλδος ist ohne Zweifel ein lächelnder Autor. Wenn es um Stendhal oder Kafka geht, so ist es ein Lächeln der Liebe, das seine Kraft aus deren Schwächen gewinnt und aus dieser Kraft heraus Σεβαλδος/Σελυσσες befähigt, auch über die eigenen Schwächen und das eigene Unglück zu lächeln. Besonders in den Schwindel.Gefühlen finden sich daneben aber auch Elemente des Schwanks nach Art unseres Aριστοφάνης oder auch des Plautus. Du nennst das ärztlich-seelsorgerische Kradfahrergespann, man könnte auch an die Kafkazwillinge im Bus oder an die auf dem Marktplatz in Erwartung Kafkas versammelte Bewohnerschaft Desenzanos denken.

Χριστιανος
Beim Gracchusthema habe ich den Eindruck, daß Sebald sich weitestgehend an die Kafkavorlage hält, die ich übrigens eigenartig kunstlos erzählt finde. Schwieriger wird es mit der Frage nach der Barke bei Stendhal. Ist sie derjenigen Kafkas gleich?

Περεκράτης
Beim Stendhal bin ich auch nicht hinreichend bewandert, um sagen zu können, auf welche Vorlagen Σεβαλδος im einzelnen zurückgegriffen hat. Die karge Art Kafkas fällt naturgemäß im Kontrast zu der durchaus – wenn man gegenüber diesem Begriff keine unangebrachten Vorurteile hat - als manieristisch zu bezeichnenden Schreibweise des Σεβαλδος besonders auf. Ich möchte aber behaupten, wenn von Kafka nur der Tagebucheintrag zur Barke des Gracchus und vielleicht noch die mehr als kurze Erzählung Das nächste Dorf überliefert wäre, wüßten wir doch, daß er ein großer Dichter war, so wie wir vom Ηρακλειτος aufgrund weniger Sätzen wissen, daß er ein großer Philosoph war.

Ich danke Dir von Herzen für dieses Gespräch, Χριστιανος, und will Dich zugleich anspornen, nicht nachzulassen in Deinem Eifer, so daß wir uns schon bald zur Besprechung weiterer Werke des Σεβαλδος wieder hier treffen können.

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