Freitag, 27. November 2009

Selysses

L'aurora acaricia amb dits de rosa
fusellatges que semblen, enlairant-se,
fantasmes d'alumini de la Ilíada.



Von den Lesern wird Sebald unterschiedlich eingeschätzt. Die einen sehen in ihm einen eigentlich nicht weiter erwähnenswerten Epigonen des neunzehnten Jahrhunderts, Adalbert Stifter revidivus, die anderen einen unvergleichlichen Neuerer, wieder andere einen Neuerer zwar aber doch einen vergleichbaren und verweisen etwa auf Claudio Magris. Dessen Wanderungen die Donau entlang können an Sebalds Wanderungen durch den Südosten Englands erinnern, vier Jahre nach Austerlitz hat Magris mit Alla cieca, Blindlings, einen Roman veröffentlicht, in dem die Gegenwart sich in gleicher Weise den Greueln der Vergangenheit verdankt, von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten: lo sguardo attonito e dilatato sul mare e su imminenti catastrofi, und die endgültige Auslöschung nur wünschenswert ist: un volcane enorme dovesse emergere dalle acque e far scoppiare tutto in un rosso mare di fuoco.

Alla cieca ist Autobiographie einer multiplen, die Jahrhunderte durchmessenden Persönlichkeit, Salvatore Cippico, der von den Nazis in Dachau und von den Kommunisten auf Goli Otok interniert wurde, aber auch schon in Port Arthur auf Tasmanien im Zuge der Zivilisierung, sprich völligen Ausrottung der Urbevölkerung, er ist ferner als Jorgen Jorgensen drei Wochen König von Island, und ebenso ist er Jason auf Argonautenfahrt. Es wäre Aufgabe des Lesers, den Fluchtpunkt in der Einheit dieser Person, in diesem Phantasma zu finden und, wenn er will, hinter der fiktiven Person die des Autors.

Mit derartigen Mühen belastet Sebald uns nicht. Sein Gesamtwerk hat einen schlichten als real fiktionalisierten Helden, den sebaldnahen Icherzähler, wir nennen ihn Selysses, obwohl er sich als eher meeresscheu erweist, bei weitem kein Seemann vom Format des Odysseus oder des Argonauten Salvatore Cippico. Selysses ist als real fiktionalisiert aber keine in Intrigen eingespannte Romanfigur, allenfalls in den Schwindel.Gefühlen ansatzweise. Magris Phantasma Salvatore Cippico wirkt greller und insofern „moderner“ als Sebalds Selysses, denn wir haben uns nicht ohne Grund daran gewöhnt, das Grelle mit dem Neuzeitlichen gleichzusetzen. Wir lieben Magris Buch und gönnen ihm den Vorsprung, ohne zu wissen, ob er Wert darauf legt. Sebalds besonderer Charme als Neuerer besteht für die, die diesen Zauber wahrnehmen, in der geradezu aggressiven Unmodernität der Außenhaut seiner Prosa.

Reale Person zwar, bleibt Selysses doch leer, und auch wenn er in seine Kindheit zurückkehrt, so nicht um dort Fülle zu finden: Selysses war lediglich heimgekehrt, um endgültig zu verschwinden und seinen wahren Platz zu finden, als Person sozusagen ausgehöhlt und an den äußeren Rand der Welt gedrückt, um von dort aus zurückzukehren als allgegenwärtige Stimme, als Stil, als Syntax, als Prosa in alemannisch-deutscher Sprache. Selysses ist sebaldnah, erläutert Sebald aber kaum. In der Gestalt des Selysses erschafft Sebald sich als Leerraum für den Tanz wiederkehrender Motive, das Spiel seiner obsessiven Mental- und Sprachmuster. Das kann es als lohnend erscheinen lassen, seine Bücher als ein Buch zu lesen, um die Molekularbewegungen seiner Erzählelemente im derart erweiterten Kontext zu betrachten:

Träume: Aus der Vogelperspektive sah ich eine lichtlose Landschaft, durch die ein sehr kleiner Eisenbahnzug dahineilte, zwölf erdfarbene Miniaturwaggons und eine kohlschwarze Lokomotive unter einer nach rückwärts gewandten Rauchfahne, deren Spitze, wie eine große Straußenfeder, fortwährend hin und her gerissen wurde bei der geschwinden Fahrt. Dann wieder Wolkengebirge am Horizont weit über den Dächern und Windmühlen, deren breite Segel, Schlag für Schlag, das Morgengrauen durchteilte; u.v.m.

Gebäude: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle; u.v.m.

Schiffe: Später, als die Schlacht ihren Fortgang nahm, als die Pulvermagazine explodierten und einige der geteerten Schiffsleiber bis an die Wasserlinie herabbrannten, wird alles eingehüllt gewesen sein in einen beizenden, gelbschwarzen über die gesamte Bucht sich wälzenden Rauch; u.v.m.

Der Jäger Gracchus: Von ihm, dem Jäger, wird erzählt, daß er beim Verfolgen einer Gemse – und ist das nicht eine der eigenartigsten Falschmeldungen aller Erzählungen, die je erzählt worden sind? – aus einer Felswand zu Tode gestürzt ist und daß der Kahn, der ihn ans andere Ufer hätte bringen sollen, durch eine falsche Drehung des Steuers, einen Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers die Fahrt verfehlt hat, weshalb er, Gracchus, seither ruhelos auf den irdischen Meeren kreuze; u.v.m.

Gärten: Er hatte sich des ziemlich vernachlässigten Gartens angenommen, und tatsächlich war ihm ein wahrhaft einmaliges Verwandlungswerk gelungen. Die jungen Bäume, die Blumen, die Blatt- und Kletterpflanzen, die schattigen Efeubeete, die Rhododendren, die Rosensträucher, die Stauden und Boschen – es war alles am Wachsen, und nirgends gab es eine kahle Stelle mehr; u.v.m.

Flieger: Mir selbst sind Liebesgeschichten, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. Was mich betrifft, so lebe ich nur, um von der Erde abheben zu können; u.v.m.

Lehrer: Er ist einfach zum Unterrichten von Kindern geboren gewesen – ein echter Melammed, der aus einem Nichts heraus die schönsten Schulstunden halten konnte; u.v.m.

Mahlzeiten: Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht; u.nicht.v.m.

Kopulationen: Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, dachte ich mir, ein Mann, ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Und in der eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde, in der dieses Bild mich durchfuhr, kam es mir vor, als sei ein Zucken durch die Füße des Mannes gefahren wie bei einem gerade Gehenkten; u.nicht.v.m.

Heilige: Bei Regensburg überquert er auf seinem Mantel die Donau, macht in der Stadt ein zerbrochenes Glas wieder ganz und entfacht im Herd eines ums Feuer geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Daran schließt Sebald eine seiner schönsten und rätselhaftesten Überlegungen überhaupt an: Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei, die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen; u.v.m.

Uhren: Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr; u.v.m.

Tiere: Zu sagen, Sebald Bücher seien kaum weniger von Tieren als von Menschen bevölkert, wäre, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, eine mörderische Untertreibung; u.v.m.

Gemälde: Er sieht, durch Rembrandt hindurch, den panischen Halsknick an den in Grünewalds Werk überall vorkommenden Subjekten, der die Kehle freigibt und das Gesicht hineinwendet oft in ein blendendes Licht, als den äußersten Ausdruck der Körper dafür, daß die Natur kein Gleichgewicht kennt, sondern blind ein wüstes Experiment macht ums andre und wie ein unsinniger Bastler schon ausschlachtet, was ihr grad erst gelang; u.v.m.

Zahlenspiele: Keineswegs soll hier hinter der Zahl Dreizehn eine Geschichtsphilosophie Sebalds ans Tageslicht gefördert werden. Es ist überhaupt nicht sicher und eher fraglich, ob hinter den Zahlenspielen allzu viel Tiefe steckt. Nach Sebalds Überzeugung ist die Welt sinnlos, und alle wissen das. Umso mehr komme es darauf an alles zu nutzen, was für den Augenblick Sinn verspricht; u.v.m.

Hotelrezeptionen: Eine ganze Zeitlang habe ich in dem leeren Entree gestanden und bin durch die sogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann – völlig verlassenen Räume gewandert, ehe ich auf eine verschreckte junge Frau stieß, die mir nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reichte; u.v.m.

Sehschwierigkeiten: Ich befand mich damals gerade in einiger Unruhe, weil ich beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch bemerkt hatte, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft meines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Die mir bis ins einzelne vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur; u.v.m.

U.v.m. Die einzelnen Motivstränge werden in den kleinen Sebaldstücken angehoben, beleuchtet – auch Verborgenes kann dabei ins Auge springen - und möglichst unversehrt und unbehelligt von Deutung und Auslegung wieder zurückgegeben in ihre Umgebung. An Wahrheiten, die außerhalb ihres Kontextes überleben können, besteht kein Interesse.


Alle Prosaarbeiten Sebalds fiktionalisieren also die reale Realität des sebaldnahen Erzählers, Selysses, aber nur flüchtige Blicke ergeben sich auf dessen Lebensrealität, seine reale Realität besteht überwiegend aus Zusatzrealitäten, aus anderen Realitäten als der seines Lebens und aus der Realität anderer. Selysses versenkt sich in die Erinnerung seiner Kindheit, in der er sich als einen ganz anderen vorfindet, ihm wird erzählt von seinen Verwandten in Amerika über andere Verwandte und deren leben, von Selwyn, von Austerlitz. Dem Leben seines Volksschullehrers Bereyter steigt er mit ähnlicher Intensität nach wie Austerlitz seinen verschwundenen Eltern. Ihm werden Tagebücher anvertraut, das des Ambros Adelwarth oder das der Mutter Max Aurachs, er refiktionalisiert Gelesenes, Stendhals Leben, Kafkas leben, Joseph Conrad in Afrika und in der Ukraine, die Kaiserin von China. Er träumt, ihm werden Träume erzählt. Er schreibt alles auf, was er erfährt. Selysses verläßt seine reale Welt vollständig, um sich rückhaltlos in Bilder der Hochkunst zu vertiefen, oder, mit nicht geringerer Intensität und Leidenschaft, in Atlanten oder läppische Postkarten. - Eine Sehnsucht mag uns ankommen, so zu sein wie Selysses, dermaßen absehen zu können von uns selbst, um so offen und fähig zu sein für das andere, ein Rezeptorium und Rezeptakulum bloß für die Welt ohne viel eigene Interessen in ihr. Aber Selysses ist eine Kunstfigur, und die Qual der Transfiguration von Leben in Kunst ist in Sebalds Werk nun wirklich nicht verschwiegen, wir sehen den am Schreibzwang zugrundegehenden Rousseau, wir sehen Casanova, sein Haar schwebt, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt, die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort, wir sehen Stendhal und Kafka, wir sehen Grünewald, immer dieselbe Sanftmut, dieselbe Trübsal, dieselbe Unregelmäßigkeit der Augen, verhängt und versunken, seitwärts ins Einsame hin.

In seiner vom Autor in Mühe und Entsagung geschaffenen, für uns so bequemen Leere, ist uns Selysses ein Wegbegleiter, den wir nicht wieder missen wollen. Wir stellen uns hinter ihn und machen uns als ein Selysses der zweiten Reihe seine Welt zueigen. Wir schauen auf vom Buch und beim Fenster hinaus, schon mag uns scheinen, als schauten wir wie er.


Mittwoch, 25. November 2009

Sebald

Scriptor post Scriptum

Le lapidi sono romanzi concentrati.
I romanzi sono lapidi dilatate.


Winfried Georg Sebald wurde am 18. Mai 1944 in Wertach als Sohn des gelernten Schlossers Georg Sebald und dessen Ehefrau Rosi geboren. Seine Vornamen, so heißt es, haßte er und nannte sich selbst Max oder auch Bill. Am 14. Dezember 2001 kam Sebald bei einem Verkehrsunfall in Norfolk ums Leben.

Einiges mehr wissen wir schon über Sebalds Leben, seine Wohnorte, die Stationen seiner Ausbildung und seines Werdegangs als Hochschullehrer. Er hatte eine Schwester und den über alles geliebten Großvater mütterlicherseits, Dorfgendarm in Wertach. Sebald war verheiratet, wir lernen seine Frau flüchtig kennen in der Erzählung Dr. Henry Selwyn und in die Ringe des Saturn schaut sie auch kurz hinein. Sebald bezog in den 1970er Jahren mit Frau und Tochter ein viktorianisches Pfarrhaus und trotzte der gestrüppartigen Wildnis eine weitläufige Gartenanlage ab; es entstand ein musterhaft schöner ostenglischer Blumengarten. Die Augen seiner Tochter Anna kennen wir aus Unerzählt, unerzählt bleibt die Geschichte der abgewandten Gesichter. Eine größere, detaillierte Biographie Sebalds ist bislang, soweit ersichtlich, nicht im Handel.


Braucht man die Person des Dichters zum Studium seiner Bücher? Offenbar nicht. Wir lesen die Odyssee und die Ilias ohne näheres zu wissen über Homer oder auch nur sicher sein zu können, daß es ihn gegeben hat. Und dennoch, wir schauen Bildnisse und Büsten an, die Homer darstellen sollen und versuchen, in den blinden Augen sein Wesen zu ergründen.

Umso weniger möchten wie die Photos missen, die Christian Scholz 1997 von Sebald gemacht hat. Die Falten in den Augenwinkeln lassen eine Interpretation seines Werkes als durchweg schwermütig und freudlos nicht zu. Offenbar auch hat ihm der einsetzende Erfolg gut getan. Die halbgeschlossenen Augen schauen gleichermaßen nach innen und auf uns, die untere Gesichtshälfte ist von der die Zigarettenspitze haltenden Hand verdeckt. Unverkennbar ist die souveräne, provokante Herausforderung: Ja, ich könnte jedes beliebige Eck und Ende der Welt inhalieren und Euch als den Rauch schwereloser Sätze wieder entgegenblasen, und wie könntet Ihr schöner Euren Tod finden als durch dieses Gift. Wir freuen uns, Sebald auf einem Bild Jan Peter Tripps in Tongeren beim Billard zuschauen zu können. Wenn wir jemanden hoch verehren, kommt er uns näher, wenn er etwas seiner Unwürdiges tut. Er gibt uns damit Urlaub von der Last der Verehrung. Und von diesem Augenblick an empfinden wir ihm gegenüber eine echte Anhänglichkeit. – So unwürdig ist das Billardspiel nun allerdings nicht, denn auch Maler und Dichter lassen sich bei ihrem Geschäft auf ein risikoreiches Spiel ein, bei dem mit einer falschen Bewegung leicht alles vertan ist.

Seine Magisterarbeit hat Sebald über Carl Sternheim verfaßt, in der Beurteilung von Thea Sternheim das mit Eifer und Geifer zusammengetragene Elaborat eines fünfundzwanzigjährigen Bayern. Eifer und Geifer, innerhalb von Sebalds Essayistik gibt es Stellen, die an diese Kennzeichnung denken lassen mögen, beim Lesen seiner Prosa liegt keine Wortgruppe ferner als diese, der ausgelegte Samtuntergrund ist lückenlos und ohne Webfehler. Offenbar ist also ein Dritter im Spiel, der lebende Sebald, der erzählte Sebald, Selysses, und der selyssesnahe erzählende Sebald, der in Vorbereitung auf und im Vollzug des späten Dichtertums geboren wurde.

Die Dichter verwandeln sich, wenn sie zum Dichter werden, aber keineswegs alle auf die gleiche Art. Bei Proust hat es den Anschein, als habe er das ernsthafte Schreiben hinausgezögert, um lebend das Material für sein großes Werk zu erweitern und zu vervollständigen, hinausgezögert fast wie in einem Kriminalfilm zur Erhöhung der Spannung bis zum allerletzten Augenblick, um sich dann in ein wie rasend aufzeichnendes Schreibgerät zu verwandeln und fieberhaft alle Momente des gelebten Lebens in Buchstaben und Sätzen neu zu entrollen. Sebald schildert diese Verwandlung in ein menschliches Schreibgerät am Beispiel Casanovas, der als das Beispiel eines vollen und tollen Lebens gilt: Ich sah den altgewordenen Roué, umgeben von den goldgeprägten Rängen der mehr als vierzigtausend Bänden umfassenden Bibliothek ganz für sich allein über einen Schreibsekretär gebeugt an einem trostlosen Novembernachmittag. Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt und sein eigenes schütteres Haar schwebte, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort.

Bei Kafka tritt eine derartige zeitliche Zäsur zwischen Lebensbeschreibung nicht auf, er hat unablässig lebensbegleitend geschrieben, Briefe, Tagebücher und die literarischen Verwandlungen in riesenhafte Käfer, in Hungerkünstler, in den Jäger Gracchus, in Gefolterte und in unschuldig Gerichtete, Ausgesperrte, nicht Zugelassene. Fast alles ist Fragment geblieben, weniges nur hat sich als Werk vom Leben abgeschnürt.

Ich war nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinweg zu kommen, berichtet Selysses, der in einem nie ganz klaren Verhältnis für Sebald spricht. Die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeit nun nicht mehr ausgefüllten Tage wurden mir ungemein lang, und ich wußte tatsächlich nicht mehr, wohin mich wenden. Schreib- und damit verbunden natürlich auch Lesetätigkeit und Gartenarbeit also als Füllung der Tage und nicht näher benannte Interferenzen aus dem Leben, die die Zeit ins Ungute wenden.

Als Sebald seinen ersten Prosaband, die Schwindel.Gefühle, veröffentlichte, befand er sich im gleichen Lebensabschnitt, in dem Proust die Arbeit an der Recherche aufnahm, und auch die noch verbleibende Lebensfrist war ähnlich. Die Erzählung Il Ritorno in Patria hat den Charakter einer miniaturhaften Recherche du temps perdu, aber Wertach ist beileibe nicht Combray. Wertach steigt aus keinerlei einer Madeleine verwandtem Allgäuer Gebäckstück auf, sondern wird erreicht über den inzwischen Sebaldweg genannten Wanderweg vom tirolischen Oberjoch aus. Combray rotiert geradezu um den allabendlich heiß ersehnten und dann doch immer wieder auf katastrophale Weise ausbleibenden Gutenachtkuß der Mutter und auch der Vater, der Großvater und vor allem die Großmutter sind ständig parate Bestandteile eines ebenso tiefen wie leidvollen Kindheitsglücks. Von den Wertacher Eltern erfahren wir nur das allerkargste, ein weniges mehr vom Großvater und auch der Knabe Selysses rückt eigentlich nicht ins Blickfeld. Grad wie der erwachsene Selysses ist er bereits ein Vermittler der Geschichten anderer ein ständiger Wanderer, unterwegs vom Engel- zum Ochsenwirt, zur Praxis des Doktor Rambousek, auf dem Weg am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, unterwegs zum Café Alpenrose. Die verlorene Zeit wird, soweit es die eigene ist, nicht in ihrer Tiefe erforscht. – Proust und Casanova, so scheint es, haben sich aufgegeben, um ihre Erzählfiguren mit ihrem eigenen Leben zu füllen. Sebald stellt die Leerform des Selysses zur Verfügung, um andere Lebensgeschichten einzufangen, was mit ihm selbst geschieht dabei, bleibt im Dunklen.

Die Schwindelgefühle des Selysses sind wohl auch die ihres Autors, entlarvende Verwandlungen wie bei Kafka finden aber nicht statt, umso interessierter aber schaut er Kafka über die Schulter: Also wahrhaftig ein Engel, den ganzen Tag fliegt er auf mich zu, und ich in meinem Unglauben weiß es nicht. Jetzt wird er gleich zu mir sprechen, dachte er und senkte den Blick. Aber als er ihn wieder hob, war zwar noch der Engel da und hing ziemlich tief unter der Decke, die sich wieder geschlossen hatte, aber es war kein lebendiger Engel, sondern nur eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen unter der Decke hängen.

Wir kennen den zugunsten der Geschichten anderer entleerten erzählten Doppelgänger Sebalds, Selysses, und wir kennen die Dichterperson als Stimme, Tonfall, Stil. Natürlich würden wir von dem Dritten im Spiel, den Sebald hinter dem schreibenden Sebald, noch einiges mehr erfahren, am besten seiner Unwürdiges, um ihn, nach dem referierten Muster Ciorans, noch tiefer verehren zu können.

Man kann die kleinen Sebaldstücke als einen frevelhaften Versuch ansehen, die Position des selyssesnahen Erzählers zu usurpieren, um für einen Augenblick selbst zum sciptor post personam scriptam zu werden, wohl wissend, daß Selysses in dieser unguten Lage sogleich in Atemnot gerät und nur für die kürzeste Dauer überleben kann. Vermutlich aber ist alles bei weitem harmloser und in einem milderen Licht zu sehen und die Sebaldstücke nur ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers, das die Geschichten der Dichter, nach Sebalds eigenen Worten, für ihr Gelingen in jedem Fall benötigen.