Donnerstag, 19. Februar 2009

Il Giocondo

Das Lächeln der Sätze


Ein Rezensent glaubt in einem der Gedichte des posthumen Bandes Über das Land und das Wasser Spuren von Humor bei diesem, wie er meint, ansonsten humorfreien Autor festgestellt zu haben, das ist grotesk. Wir haben die Photoserie von Christian Scholz aus dem Jahre 1997, die einen Sebald in verschiedenen Abstufungen des Lächelns zeigt, und wenn er nicht lacht, so zeigen doch die feinen Augenfalten unmißverständlich die Befähigung an. Falls auch nur irgendein Zusammenhang zwischen einem Dichtwerk und seinem Autor besteht, und in radikaler Form ist das bislang nicht bestritten worden, so kann Sebalds Werk gar nicht humorlos sein, und hier soll die unmittelbare Gegenthese vertreten werden, daß bei ihm kaum ein Satz aufzutreiben ist, der nachweislich kein Lächeln enthält. Allerdings ist das Lächeln oft so fein dosiert, daß sich auch der Gegenbeweis nicht eindeutig führen läßt. Die Zahl der ungeschminkt witzigen Stellen aber ist groß. Sebald ist ein, oft unmerklich, lächelnder, bisweilen lachender Autor. Zumal der Prosaerstling Schwindel.Gefühle ist so sehr Komödie, wie es ein ernst zu nehmender Blick auf die Welt nur zuläßt.

Beispiele aggressiven Humor sind eher selten. Zu nennen wäre der Brotzeitmachende auf der Fahrt nach Kissingen in der Erzählung Max Aurach: Schwer vor sich hin schnaufend, wälzte er in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herum. Die Beine gespreizt saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, ob die Körper- und Geistesdeformation meines Mitreisenden ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen. Oder, wohl nicht zufällig wieder die süddeutsche Heimatregion betreffend: So bin ich vor ein paar Jahren nach einer im Hotel Kaiserin Elisabeth in Starnberg verbrachten unguten Nacht aus dem endlich gefundenen Morgenschlaf gerissen worden von einem Radiowecker, in dessem scheppernden Inneren zwei solche Rottachtaler Volksmusiksänger, die ich mir nach den Klängen, die sie hervorbrachten, nur als verwachsen und bresthaft vorstellen konnte, eines ihrer lustigen Stanzllieder sangen, in dem Marder vorkamen und Füchse und allerlei anderes Getier, und von dem jede der zahlreichen Strophen endete mit einem Holadrüjühü, Holladrijo.

Dominierend ist der liebevolle Humor. Greifen wir Ciorans Verehrungstheorie noch einmal auf: Wenn wir jemanden hoch verehren, kommt er uns näher, wenn er etwas seiner Unwürdiges tut. Er gibt uns damit Urlaub von der Last der Verehrung. Und von diesem Augenblick an empfinden wir ihm gegenüber eine echte Anhänglichkeit, und formen sie vereinfachend um: Wenn wir jemand lieben, so zwingen seine Schwächenunserer Anhänglichkeit ein Lächeln ab.

Falls das zutrifft, ist Kafka vielleicht der Mensch, den Sebald am meisten geliebt hat. Die ganze Erzählung Dr. K.s Badereise nach Riva spielt sich ab im Medium eines feinen liebevollen Spotts. Dr. K. entwickelt eine fragmentarische Theorie der körperlosen Liebe, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Annäherung und Entfernung. Darum hielten fast alle Liebenden, und es gäbe ja fast nur solche, in der Liebe die Augen geschlossen, oder sie hätten sie, was dasselbe ist, weit aufgerissen vor Gier. Auf dem See seien sie ja tatsächlich fast körperlos und hätten eine naturgemäße Einsicht in die Geringfügigkeit ihrer eigenen Bedeutung. Entsprechend diesen aus dem Wunschdenken des Dr. K. sich ergebenden Ausführungen vereinbarten sie beide, daß keiner den Namen des anderen weitergeben dürfe, daß kein Bild, kein Fetzchen Papier, kein geschriebenes Wort ausgetauscht werden solle. Manchmal nimmt die Fröhlichkeit bedenkliche Ausmaße an, so wenn zu einem Bild von Desenzano bemerkt wird, die dort zusehenden Menschen hätten sich zum Empfang des Vicesekretärs der Prager Arbeiterversicherung auf dem Marktplatz versammelt. Nicht bekannt ist, wie lange sie an diesem Nachmittag nach dem Prager Vicesekretär noch Ausschau gehalten haben und wann sie enttäuscht wieder auseinander gegangen sind.

Und ähnlich Stendhal in der Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe: Er kaufte sich einen neuen gelben Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, einen extrahohen Velourshut und ein paar grüne Brillen, und in dieser Aufmachung ging er in Volterra herum und versuchte, Métilde, sooft als nur möglich, wenigstens aus der Distanz zu sehen. Beyle glaubte sich zunächst tatsächlich unerkannt, stellte dann aber mit noch größerer Befriedigung fest, daß Métilde ihm vielsagende Blicke zuschickte. Er beglückwünschte sich selbst zu dem patenten Arrangement, Métilde hingegen, die sich, wie man sich leicht denken kann, durch diese Veranstaltung Beyles als kompromittiert empfand, bedachte ihn mit einem sehr trockenen Billet, das seinen Hoffnungen als Liebhaber ein ziemlich abruptes Ende setzte.

Nicht nur die Dichterkollegen, längst nicht alle, aber auch nicht wenige, erfahren das liebevolle, von Spott nicht ganz freie Lächeln, sondern auch die Lehrer, bei weitem nicht alle, aber doch einige wenige. Tatsächlich ist der Paul Bereyter oft über unsere Begriffsstutzigkeit in Verzweiflung geraten. Er griff sich dann mit der linken Hand ins Haar, so daß dieses gleich einem dramatischen Akzent nach oben stand. Nicht selten nahm er dabei auch sein Sacktuch heraus und biß, vor Zorn über unsere, wie er vielleicht nicht zu Unrecht meinte, vorsätzliche Dummheit in es hinein. Dann putzte er hingebungsvoll seine Brille, als sei er froh, uns eine Weile nicht sehen zu müssen. – Ein neben der Tür angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde vom Paul, wie ich mehrfach gesehen habe, rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Gießkanne bis zum Rand gefüllt. Nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche, die er stets in einer schwarzglänzenden, schweinsledernen Aktentasche bei sich führte, zum Einsatz zu bringen.

In Austerlitz ist es der Lehrer Hilary, der des öfteren, wahrscheinlich wegen eines Bandscheibenleidens, an dem er laborierte, auf dem Rücken am Fußboden liegend seinen Stoff uns vortrug, was wir in keiner Weise als komisch empfanden – eine Negierung des komischen Elements, die es nur zusätzlich unterstreicht.

Im Ritorno in Patria hofft der kleine Selysses das Fräulein Rauch mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen in seine Schulhefte für immer einzuspinnen und zu verstricken. Auch war ihm damals, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können. Das Lächeln betrifft hier allerdings mehr den kleinen Selysses als die Lehrerin, und die Stelle wurde vor allem erwähnt um überzuleiten zu der Beobachtung einer Verbindung des Humors mit dem Element der unerfüllten Erotik des flüchtigen Augenblicks, wie man es von Proust gut kennt, dort allerdings ohne viel Gelächter.

Die Beispiele sind gesammelt bei den Empfangsdamen. Das ausführlichste und schönste Beispiel ist die Begegnung mit der Wirtin Luciana Michelotti im Hotel Sole in Limone (SG). Bei der Schilderung des verlorenen Passes nimmt die Komik durchaus offene Züge an. Im Zuge der Beschaffung eines provisorischen Notdokumentes wiederholt sich dann gleichsam die Trauung mit dem Fräulein Rosa: Als ich, diese Bescheinigung in der Hand, mit Luciana wieder im Auto saß, war es mir, als seien wir von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo wir wollten. Die mich mit einem Gefühl der Glückseligkeit erfüllende Vorstellung hielt allerdings nicht lange an.

Das erotische Element, ob man es nun glaubt oder nicht – grad wie der Humor wird es bei Sebald gern bis an die Wahrnehmungsschwelle zurückgetrieben -, ist auch im Spiel bei der Begegnung mit der verschreckten jungen Frau im so gut wie verlassenen Hotel in Lowestoft, wird aber alsbald überlagert von einem geradezu wuchtigen Stück Spaßes: Dieselbe verschreckte Person ist es auch gewesen, die später in dem großen Speisesaal, in dem ich an jenem Abend als einziger Gast saß, meine Bestellung entgegennahm und die mir bald darauf einen gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer ich dann die Zinken meiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es mir solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandung bestehenden Gegenstandes vorzudringen, daß mein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die ich aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips (RS).


Die Szene beim Engelwirt in Wertach, wohin Selysses gleichsam als der Jäger Gracchus zurückkehrt, grenzt für Sebalds Verhältnisse fast schon an Pornographie, so als wäre mit knapper Not nur eine Vergewaltigung vermieden worden: Die Rezeptionsdame blätterte vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber.

Nicht den Regeln des flüchtigen Augenblicks unterworfen ist die langjährige Kollegin Janine Rosalind Dakyns an der University of East Anglia und mithin die Schilderung in den Ringen des Saturn der wahrhaften Papierlandschaft ihres Arbeitszimmers mit Bergen und Tälern sowie Gletschern und Endmuränen ein über mehrere Seiten bis hin zur Dürerschen Melancholie sich stetig steigernder liebevoller humoristischer Ritt ganz ohne erotische Abirrung RS).

Humor kann sich, auch dann wenn er Frauen betrifft, ebenso gut mit dem Gegenteil von Erotik verbinden, was immer das dann im einzelnen sein mag, verliert in diesem Fall aber alle Freundlichkeit: Mary Frances FitzGerald, die Mutter Edward FitzGeralds, war zweifellos eine der finanzkräftigsten Frauen des Königreichs und hatte eingedenk des Familienwahlspruchs stesso sangue, stessa sorte ihren Vetter John Purcell geehelicht. Überlieferte Porträtdarstellungen zeigen sie als eine Dame von mächtigem Format, mit starken, abfallenden Schultern und einer geradezu furchteinflößenden Büste, die für viele Zeitgenossen eine verblüffende Ähnlichkeit aufwies mit dem Herzog von Wellington (RS).

Nicht zuletzt trifft das Lächeln Sebald selbst in der Gestalt des Selysses, wir hatten schon das Beispiel des Fräulein Rosa. Ein weiteres Beispiel zum kleinen Selysses: Das Zitherspiel ist für mich eine schlimme Plage gewesen und die Zither selbst eine Art Folterbank, an der man sich vergebens verrenkte und die einem die Finger krumm werden ließ (CS).

Und der Heranwachsende: Es folgte eine kurze Phase der inneren Amerikanisierung meiner Person, während der ich streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen durchquerte, und die ihren Höhepunkt erreichte zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr, als ich die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an mir auszubilden versuchte, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Der erwachsene Selysses schließlich: Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht (SG).

Und wie ist es mit Sebald selbst? Könnte es ein, daß die Freude, la joie, die bei Cioran nicht oft, dann aber umso überraschender Einzug in sein finsteres und wüstes Dunkel hält, beim ebenfalls für dunkel geltenden Sebald als ein feines Leuchten über den Sätzen liegt? Freude über das Gelingen, Freude am endlosen Spiel der Anspielungen, eine gewisse Form der Selbstverliebtheit womöglich und mithin eine Eigenschaft, die, wie auch die Arroganz, gern zu leicht und unzweideutig der Schadensseite zugewiesen wird, ohne daß zuvor groß nach ihrem Recht gefragt worden wäre. Wenn wir schon den schreibenden Sebald unterscheiden vom erzählten Selysses und beide vom unbekannten Sebald in ihrem Rücken, warum dann vom schreibenden nicht noch einmal den sich selbst lesenden und hörenden unterscheiden, und warum sollte dem ersten Leser seiner Bücher das Recht des Lächelns verwehrt sein, das wir so gern in Anspruch nehmen. Die Sätze würden ein Lächeln des Autors hervorrufen, und sein Lächeln würde zum festen Teil der Sätze werden. Sollte denn nicht über dem ersten Satz von Austerlitz, um nur dieses Beispiel zu nehmen, ausgehend von dem Einschub „teilweise aus anderen, mir selbst nicht recht erfindlichen Gründen“ ein feines Lächeln sich legen? Das alte Rätsel des Lächelns des Giocondo wäre damit gelöst und endgültig zurückgewiesen wären Untersuchungen, die auf eine Fazialislähmung als mögliche Ursache hinweisen, oder auch, als Ergebnis einer anderen Forschungsanstrengung, auf den Verlust der Schneidezähne. Die kleinen Sebaldstücke wiederum sind so konzipiert, daß allein vom spöttischen Teil des Lächelns ein schwacher Abglanz sie treffen kann.


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