Sonntag, 18. Dezember 2011

Credo

Nicht selten beschäftigte mich damals die Frage, ob ich mich in dem von einem leisen Summen, Rascheln und Räuspern erfüllten Bibliothekssaal auf der Insel der Seligen oder, im Gegenteil, in der Strafkolonie befand. Neben mir saß meist ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon zur Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Von meinem Arbeitsplatz in der Manuskripten- und Dokumentenabteilung habe ich  oft für eine Stunde oder länger hinübergeblickt auf die hohen Fensterreihen des jenseitigen Trakts, in denen die dunklen Schieferplatten des Daches sich spiegelten, die schmalen ziegelroten Kamine, der strahlend eisblaue Himmel und die blendend schneeweiße Wetterfahne mit de aus ihr ausgeschnittenen, blau wie der Himmel selbst aufwärts segelnden Schwalbe. Die Spiegelbilder in den alten Glasscheiben waren etwas gewellt oder gekräuselt, und nicht selten sind mir bei ihrem Anblick aus irgendeinem unbegreiflichen Grund die Tränen gekommen. Ganz anders stellt sich die Frage der Bücher und des Lesens, wenn man dann am Abend und in der Nacht allein zuhaus mit den Dichtern ist, wenn man eine ihre Lebensgeschichten und Tagebücher liest, so ein Leben überblickt, das sich ohne sich ohne Lücke wieder und wieder höher türmt, so hoch, daß man es kaum mit seinem Fernglas erreicht, da kann das Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Aber es tut gut, wenn das Gewissen breite Wunden bekommt, denn dadurch wird es empfindlicher für jeden Biß. Man sollte überhaupt nur Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch. Damit es uns glücklich macht? – glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.

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