Freitag, 16. Dezember 2011

Gespräche

Auf ungeheuer dünnem Eis

Wenn auch schon der Nachlaß eines Autors, den man geschätzt hat und mehr, geschlossen scheint, und dann doch noch ein weiteres Buch von ihm erscheint, ist die Freude naturgemäß groß. So war es bei Bernhards Preisreden, und jetzt wieder, zum zehnten Todestag bei: W.G. Sebald, Auf ungeheuer dünnem Eis. Ähnliche Sammlungen von Gesprächen des Dichters in englischer Sprache, durchsetzt allerdings mit Aufsätzen über ihn, sind als Sekundärliteratur erschienen, aber im Grunde sind wir dankbar für die kleine Täuschung und sei es auch nur, weil sich die so beklagenswert kurze Reihe der Bücher mit dem Namen des Dichters auf dem Rücken im Regal ein wenig weitet. Der erste Blick in das Inhaltsverzeichnis findet zwanzig Gespräche aus dreißig Jahren, und auf die eine oder andere Weise, so viel ist schon sicher, werden wir erneut unserer Lieblingsbeschäftigung nachgehen können, die schlanke Gestalt des Dichters auf Abschnitten ihrer Lebenswanderungen zu begleiten.
 
 Das erste Gespräch ist aus 1971, zwei weitere noch sind aus den siebziger Jahren, zwölf aus den neunziger Jahren, ein Gespräch ist aus 2000 und vier sind aus dem Todesjahr 2001. Kein Gespräch ist aus den achtziger Jahren, also aus der Zeit, in der sich die Verwandlung vom beachtenswerten Germanisten zum Magier der Prosa vollzogen hat. Nach einem kurzen Augenblick der Enttäuschung ist man es zufrieden, wahren Sebaldlesern geht es ohnehin nicht darum, Geheimnisse zum Verschwinden zu bringen, sie wissen, auch der einzige Kriminalroman dieses Dichters ist, genreunüblich, ohne eindeutige Auflösung geblieben.

In den Gesprächen wird dann doch verschiedentlich Licht auf die Wandlung geworfen. Am greifbarsten ist die verheerende Wirkung der Metamorphose auf das nahe Umfeld: Besonders beliebt macht man sich bei den Personen, mit denen man das Leben teilt, dadurch nicht und selbst der Hund findet das eigenartig – da sitzt dieser Typ da oben, und unter der Tür qualmt es heraus. Irgendwann kriecht er, der Dichter, dann ramponiert zum Abendessen hervor. - Für den Hund ist das besonders tragisch, hatte er doch erst, wie wir bereits wissen und wie uns im Verlauf der Gespräche erneut versichert wird, Sebald leichtfertig und, wie nun zu sehen ist, zum eigenen Schaden, das Handwerk des Schreibens gelehrt: immer mit der Nase oder Schnauze am Boden, so geht das. Den schönsten Niederschlag dieses Erlebens der Asozialität des Dichtens findet sich im Werk wohl in der Gestaltung des Calvinistenpredigers Emyr Elias, der, wie es seine (und Sebalds) unabänderliche Gewohnheit war in seinem Studierzimmer saß und sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt ausdachte. Völlig niedergeschlagen kam er (wie Sebald) jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen (wie Sebald) wieder in ihr zu verschwinden. Am Sonntag führte er dann der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen – schön zu erleben, wie von dort her nun wieder ein grader Weg zu Thomas Bernhard führt: Ich sehe ihn, immer wenn ich an in denke, irgendwie auf einer Kanzel, wie er also das Sonntagspublikum sozusagen fix und fertig macht, bis sie also nicht mehr schnaufen können.

Das Ausmaß der Persönlichkeitsveränderung wird auch insofern deutlich, als in den Gesprächen ab den neunziger Jahre der Sebald der siebziger Jahre kaum wiederzuerkennen ist. 1971 nimmt er mit Karasek und anderen an einer Gesprächsrunde über Sternheim teil. Möglicherweise haben er und Karasek sich dann nicht mehr getroffen bis zu der denkwürdigen Lesung in Klagenfurt 1990, bei der unter Karasek Jurorenschaft ungefähr alle außer Sebald einen Preis erhalten haben. Man kann sich gut vorstellen, Karasek habe im wörtlichsten Sinne des Wortes seinen Ohren nicht getraut bei dem, was er aus dem Munde dessen hörte, den er als einigermaßen hölzern argumentierend und ihm selbst unterlegen aus der Diskussion in Erinnerung hatte. Er hat wohl zunächst die Stille seines Lesezimmers aufsuchen müssen, bevor er dann 1993 die Ausgewanderten im Literarischen Quartett mit einiger Leidenschaft gegen die Ignoranz Reich-Ranickis verteidigen konnte.

Im Gespräch aus dem Jahre 1975 beleuchtet Reiner Kunze mit bitterstem Ernst, wie es immer sein Los war, das eigene Dichtertum, vom Interviewer, dem jungen Sebald, dabei im gleichen Tonfall assistiert. In den Gesprächen ab 1990 ist Sebald von der Seite des Fragenden auf die des Befragten gewechselt, immer wieder wird er fortan, durchaus beifällig, für seine oft nonchalante Tiefstapelei gerügt. Naturgemäß erreicht er in den Gesprächen nicht die Gipfelhöhen seiner veröffentlichten Prosa und strebt sie auch nicht an. Wenn er schon zuhause jeden Abend ramponiert und niedergeschlagen zur Arbeitskammer herauskam, wollte er wenigstens, so kann man sich denken, die Aufnahmestudios und Veranstaltungsräume einigermaßen unversehrt verlassen. Gern räumt man ein, daß die in einem Gespräch geäußerten Wahrheiten schlichter sind als die nur schwer fixierbaren im Werk, ist aber gerade darum versucht, ihnen einen handfesteren und verläßlicheren Charakter zuzuschreiben. Hinter dem schemenhaften Erzähler soll ein Autor aus Fleisch und Blut mit vermeintlich klaren Eigenschaften hervortreten, antiklerikal, liberal, Wähler dieser oder jener Partei oder auch das Gegenteil. Garcia Marquez hat diese Erwartung einmal karikiert mit der Bemerkung, falls er kein Kommunist wäre – also nicht geschlagen mit diesem ebenso rätselhaften wie unheilbaren Leiden – würde er genau so denken wie sein Landsmann Gomez Davila, der von diesem Leiden, wie jeder weiß, ganz und gar frei war.

Wer war dieser Sebald? Diese Frage stellt sich dem Leser seiner Bücher auf fast jeder Seite, so beginnt Torsten Hoffmann sein Nachwort. Sie stellt sich dem Leser einmal auf der Grundlage der gemeinen Neugier (curiositas communis sive vulgaris), von der niemand frei ist und zu anderen auf der Grundlage des wohl ältesten und mit gutem Grund nicht totzukriegenden literaturwissenschaftlichen Ansatzes, der die wesentlichen Antworten in der Rückführung des Werkes auf den Autor sucht. Aber wenn der Weg vom Werk zum Autor auch verheißungsvoll ist, so bleibt der Weg zurück zum Werk doch nicht ohne Tücken, und außerdem geht jeder Leser ohnehin seinen eigenen Weg. Wer, obwohl ungefähr gleichen Alters, in seiner Kindheit andere Eindrücke hatte als Sebald in seinem Allgäuer Winkel und in der späten Jugend und Studienzeit weitaus mehr polnische Literatur als deutsche gelesen hat - also weniger Peter Weiss und Jean Améry als Aleksander Wat und Gustaw Herling-Grudzinski - kann an vielen persönlichen Obsessionen Sebalds nicht teilnehmen, ohne daß es ihm irgend den Zugang zu seiner Literatur erschweren würde. Falls dadurch etwas in den Hintergrund tritt, was andere weiter vorn sehen, bleibt das folgenlos, da ohnehin den Hauptdarstellern und  den Komparsen und jedem einzelnen Blatt am Baum die gleiche ungeschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen ist.* Auch ihm, diesem Leser, ist klar, daß in einer umfassenden Weltklage, wie Sebald sie anstimmt, soll sie denn nicht gänzlich gehaltlos und unbestimmt sein, der Klagegrund Holocaust nicht fehlen kann, anders als mancher andere aber nimmt er am Klagegrund Heringe keinen Anstoß. Befremdlich wird er finden, wie sehr einige der späten Gespräche sich auf Holocaust und Luftkrieg verengen, so als würden sie mit einem Historiker und nicht mit einem Dichter geführt. Niemand interessiert sich für Andromeda Lodge, das Paradies mit anderen Worten, das es auch gibt, oder für Marie de Verneuil. Kein Wort, nirgends. Fast könnte einem der bedauernswerte Papst in den Sinn kommen, der nie zum Geheimnis des Kreuzes, sondern immer nur zum Zölibat und noch schlimmeren Dingen befragt wird. Der Vergleich ist weniger fernliegend als es scheinen mag, denn bei Licht besehen verwaltet Sebalds Prosa ein Mysterium, das dem in der Zuständigkeit des Vatikans nicht unähnlich ist: daß wir uns so gern aufhalten in in dieser Sprache, obwohl sie so viel Schreckliches berichtet, daß wir getröstet sind.
Auf ungeheuer dünnem Eis besteht die Probe für ein weiteres Sebaldbuch mit authentischem Buchrücken: Ist man am Ende angelangt, möchte man gleich wieder vorn beginnen.

* So jetzt auch bei John Burnside Deutung der Pisanellopassage als Selbstbeschreibung Sebalds, FAZ 14.12.2011

Dem Exemplar der schon seit ewigen Zeiten bezogenen FR, die den Todestag hat passieren lassen, es gibt ja Wichtigeres, lag an diesem 14.12.2011 erstmalig, versehentlich und jedenfalls völlig unerklärlich der Feuilletonteil der FAZ mit dem schönen Aufsatz über den Koinzidenzdichter Sebald bei. Schwindelgefühle.




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