Er könne es nicht lassen, in der ersten Feierabendstunde, wenn er endlich der Tageshast entkommen sei, ein Buch sich vorzunehmen, selbst dann nicht, wenn er wie heute seine Lesebrille vergessen habe. Zwar könne er aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit ohne Lesebrille die einzelnen Worte kaum geschwinder als ein Erstkläßler enträtseln, aber seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen. Am Feierabend rette er sich in die Prosa wie auf eine Insel, und wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, so komme es ihm jedesmal vor, als rudere er weit auf das Wasser hinaus. Einzig allein dank dieser allabendlichen Lektüre sei er bis heute halbwegs zurechnungsfähig. Marc Aurel sei es, den er lese im Augenblick, er schiebe ihn nur schwer zur Seite. Er glaube, er könne jetzt ohne ihn nicht leben, denn schon zwei, drei Sprüche machten ihn gefaßter und straffer, wen auch das ganze Buch nur von einem erzähle, der mit klugem Wort und hartem Hammer und weitem Ausblick sich zu einem beherrschten, ehernen, aufrechten Menschen machen möchte. Aber man müsse gegen einen Menschen ungläubig werden, wenn man immerfort hört, wie er zu sich redet: Sei doch ruhig, sei doch gleichgültig, gib die Leidenschaften dem Wind, sei doch standfest. Gut sei es, wenn man sich vor sich selbst mit Worten zuschütten kann, aber noch besser sei es, wenn man sich mit Worten ausschmücken und behängen kann, bis man ein Mensch wird, wie man es sich von Herzen wünscht.
Mittwoch, 7. Dezember 2011
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