Sonntag, 19. Februar 2012

Spinnen und Weben

Hochzeitsgewänder

A wedding dress or something white

In der fünfzigbändigen Sowjetenzyklopädie, in der man, nach Möglichkeit in einer der frühen Ausgaben, aus den unterschiedlichsten Gründen nicht genug lesen kann, waren den einzelnen Sowjetrepubliken umfängliche Kapitel gewidmet, die jeweils auch, veranschaulicht durch entsprechende Abbildungen, auf das als typisch angesehene Kunstschaffen eingingen. Was die bildende Kunst anbelangt, so spiegelten sich die europäischen Republiken  vorwiegend in Bildwerken nach der Art des sozialistischen Realismus, die asiatischen, im Höhenflug noch ein wenig zurück, waren stärker vertreten durch ornamentale Muster, darunter Webwaren, Teppiche, Gewänder. Spinnen wie auch Weben zählen zu den ältesten, bereits im frühen Neolitkikum nachgewiesenen Techniken der Menschheit, die damit weit zurückreichen in die Zeit, als die Kunst noch kein eigener Bereich war, sondern eng verbunden mit den Dingen des Alltags und auch mit dem den höheren Dingen zugewandten Kultus. Zu nicht geringem Teil waren Spinnen und Weben dann Teil der dörflichen, häuslichen Ökonomie, und dabei entstanden Kunstwerke der tiefsten Art.
Sebald hat wiederholt, im Werk und in Gesprächen, auf seine Herkunft und die seiner Literatur gleichermaßen aus einem ländlichen, bilder- und eindrucksarmen Raum erinnert, darin einen Reichtum gesehen – nur wo wenig ist, ist Platz für vieles - und mit dieser reichen Armut unter anderem den Wert begründet, den eine handwerklich saubere, dem Handwerk zugetane Literatur für ihn hatte. Es gibt eine Photographie, die ihn als jungen Mann auf einer landwirtschaftlichen Zugmaschine zeigt, aber das Bild wirkt gestellt und nicht so, als habe er in nennenswerter Weise zum Ernteertrag beigetragen. Bilder von Sebald mit einem Spinnrocken in der Hand oder am Webstuhl kennen wir erwartungsgemäß nicht, gleichzeitig aber ist bezeugt, welche hohe Bedeutung diese uralten Kulturtechniken schon in frühester Jugend für ihn hatten: Mit Hingabe füllte ich meine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welche ich das Fräulein Rauch immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war mir damals, als wüchse ich mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß ich im Sommer bereits mit meiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.

Damit ist nicht nur eine anrührende Begebenheit aus der Kindheit geschildert, sondern auch bereits eine erzählerische Absicht des Dichters offenbart, das dann noch lange Jahre auf die Umsetzung zu warten hatte. In den Ringen des Saturn gibt Sebald sich deutlicher noch als sonst als Textilarbeiter zu erkennen, da das durch das gesamte Buch gesponnene Motiv des Seidespinners das Motiv des Spinnens, also sozusagen sich selbst, als Thema noch einmal in sich trägt, um dergestalt im Muster unterschiedlichster Webstellen des Buches aufzutauchen. Aber auch in anderen Büchern Sebalds ist die Absicht einzuspinnen und zu verstricken ständig spürbar. In den Schwindel.Gefühlen dringen das Gracchusmotiv oder auch das der Zahl Dreizehn immer gleich und immer wieder verwandelt an die Weboberfläche. Die Ausgewanderten sind mit einem dem des Seidenspinners verwandten Faden, nämlich dem des Schmetterlingsjägers Nabokow vernäht und enden mit einem Bild des Spinnens und Webens aus der Textilstadt Lodsch, das ein in Sebalds Texten noch nicht ganz und gar beheimateter Leser vielleicht eher in den Ringen des Saturn suchen würden: Die mittlere der drei jungen Frauen hat hellblondes Haar und gleicht irgendwie einer Braut. Die Weberin zu ihrer Linken hält den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, während die auf der rechten Seite so unverwandt und unerbittlich mich ansieht, daß ich es nicht lange auszuhalten vermag. Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere.

Die Stelle in den Ringen des Saturn zu suchen, liegt umso näher, als die Parzen dort tatsächlich ein weiteres Mal auftreten: In einem der Nordzimmer, wo sie Unmengen von Stoffresten angehäuft hatten, verbrachten die drei Schwestern Catherine, Clarissa und Christina jeden Tag ein paar Stunden damit, vielfarbige Kissenbezüge, Bettüberwürfe und dergleichen mehr zusammenzunähen. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder saßen die drei ledigen, beinahe gleichaltrigen Töchter auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiteten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort. Die Bewegung, mit der sie nach jedem Stich seitwärts den Faden in die Höhe zogen, erinnerte mich an Dinge, die so weit zurücklagen, daß es mir bang wurde um die wenige noch verbleibende Zeit. Was sie an einem Tag genäht hatten, trennten sie in der Regel am nächsten oder übernächsten wieder auf. Möglich, daß ihnen in ihrer Phantasie etwas von solcher außergewöhnlichen Schönheit vorschwebte, daß die fertigen Arbeiten sie unfehlbar enttäuschten, dachte ich, als sie mir bei einem meiner Besuche in ihrer Werkstatt ein paar der Zertrennung entgangene Stücke zeigten, denn eines davon zumindest, ein aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetztes, mit Seidenfäden besticktes oder vielmehr spinnennetzartig überwobenes Brautkleid, das an einer kopflosen Schneiderpuppe hing, war ein beinahe ans Lebendige heranreichendes Farbenkunstwerk von einer Pracht und Vollendung, daß ich damals meinen Augen so wenig traute wie heute meiner Erinnerung.
Dieses aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetzte, mit Seidenfäden bestickte oder vielmehr spinnennetzartig überwobene Brautkleid hatte Selysses wohl für das Fräulein Rauch im Sinn gehabt, aber über das für die Herstellung notwendige Vermögen verfügte er im damaligen frühen Stadium seiner Entwicklung noch nicht. Die Situation ist märchenhaft und mythenreich. Drei Schwestern, Tri Sestry, drei Parzen, Nähwerke, die am nächsten Tag wieder aufgetrennt werden, so wie Penelope am Totentuch des Laertes in der Nacht immer das wieder auftrennte, was sie den Tag über gewebt hatte. Das überwältigte Staunen des Dichters Selysses angesichts des gewobenen Kunstwerks ist ganz dasjenige des Malers Aurachs, als der in einer Traumsequenz Frohmann aus Drohobycz mit dem Modell des Jerusalemer Tempels vor sich sieht, sich über das Tempelchen beugt und zum ersten Mal in meinem Leben weiß, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Nicht nur, daß der Dichter sein Handwerk dem der Weberinnen vergleicht, von einem Webwerk findet er all seine eigenen Ambitionen übertroffen. Das allem Anschein nach sinnlose tägliche Arbeiten der drei Schwestern ist ein Inbild der Kunst, deren Daseinsbedingung offenbar die Sinnlosigkeit ist: I think all our philosophical systems, all our systems of creed are built in order to make some sort of sense, which there isn’t, as we all know. Dem Leser aber wird, während er noch Gedanken dieser Art nachhängt, immer deutlicher, daß das Hochzeitsgewand für ihn bestimmt ist, daß er mit dem Text nicht nur vertraut, sondern getraut sein soll, und wie und mit welcher Begründung wollte er sein Jawort verweigern.

Das Hochzeitsgewand ist aus Hunderten von Seidenfetzchen zusammengesetzt und mit Seidenfäden bestickt. Die Seidenspinnerei steht nicht am Anfang der Zeit, führt aber in große Ferne, noch über die orientalischen ehemaligen Sowjetrepubliken hinaus, bis an das äußerste Ende der Seidenstraße, nach China. Bis in die höchsten und allerhöchsten Kreise war das Leben der Chinesen eng mit dem der Seidenwürmer verwoben: Hingebungsvoll lauschte die Kaiserin auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das aus dem Hintergrund von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam. Diese blassen, beinahe transparenten Wesen, die bald ihr Leben lassen würden für den feinen Faden, den sie spannen, betrachtete sie als ihre wahren Getreuen, sie erschienen ihr als das ideale Volk, dienstfertig, todesbereit, in kurzer Zeit beliebig vermehrbar, ausgerichtet nur auf einen einzigen ihnen vorbestimmten Zweck, völlig das Gegenteil der Menschen, auf die grundsätzlich kein Verlaß war, auf die namenlosen Massen draußen im Reich so wenig wie auf diejenigen, die den innersten Kreis bildeten um sie und die, wie sie ahnte, jederzeit imstande waren, sie fallen zu lassen.

Niemand wird die Ansichten der Kaiserin teilen oder sich auf ihre Seite stellen wollen, aber der Bericht ist doch seltsam zurückhaltend und gleichmütig vorgetragen. Wenn in dem Buch den verschiedensten Aspekten des Seidenbaus, seiner splendeur et misère, nachgegangen wird, so verliert der Dichter für keinen Moment aus den Augen, daß es hier um Tiere geht, die, um die Seidenernte zu ermöglichen, ihren Lebenszyklus nicht durchlaufen dürfen. Wie sollte er es auch vergessen, nachdem er der Spur des Entomologen Nabokow gefolgt ist, in Andromeda Lodge in einer Wolke von Faltern gestanden und in Austerlitz’ Wohnung auf die in kleinen Bakelitsärgen andächtig aufbewahrten toten Motten gestoßen ist, mit ihren zusammengefalteten Flügeln aus einem man weiß nicht wie gewobenen Stoff. Die vorletzte Zwischenüberschrift des zehnten und letzten Kapitels der Ringe des Saturn lautet: Das Tötungsgeschäft: Und endlich die Abtötung, die dadurch geschieht, daß man die Kokons über einen beständig am Sieden gehaltenen eingemauerten Waschkessel schiebt. Drei Stunden müssen die in flachen Körben ausgebreiteten über dem aus dem Schaff aufsteigenden Wasserdampf liegenbleiben, und wenn man mit einer Menge fertig ist, so fährt man mit der nächsten fort, so lange, bis das ganze Tötungsgeschäft vollendet ist. Von der massenhaften Tötung der Larven wird rückerinnert an die massenhafte Tötung der Heringe weiter vorn im Buch: Im Gegensatz zu dem ungeheuer dunklen, fast mitternächtlichen Heringsfilm war der Seidenbaufilm erfüllt von einer wahrhaft blendenden Helligkeit Männer und Frauen in weißen Laborkitteln hantierten da in lichtdurchfluteten, frischgeweißelten Räumen mit schneeweißen Spinnrahmen, schneeweißen Papierbögen, schneeweißer Abdeckgaze, schneeweißen Kokons und schneeweißen leinenen Versandsäcken. - Die Heringe waren ihrerseits in einen motivischen Zusammenhang - dem des Eisenbahntransports an die Stätten, an denen sich ihr Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird, wie es im blumig-schnarrenden Kommentarton des Films heißt - zum Holocaust gestellt; von den Heringen ablassend wird der Blick überdies unmittelbar auf den Major Wyndham Le Strange und auf Bergen Belsen gelenkt.

Nun sollte niemand auf die Idee kommen - es ist allerdings schon zu spät für diese Warnung, das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen, der Vorwurf wurde erhoben -, daß innerhalb des politisch-ethischen Sprachbezirks ein egalisierender Vergleich zwischen Holocaust, Heringsfang und Larvenvernichtung angestellt ist. In der großen Klage aber über die von einem schlechten Demiurgen oder einem teuflischen Nichts falsch, nämlich auf dem Prinzip unablässiger Vernichtung errichtete Welt ist all das miteinander verwoben. Gleich anschließend an den Bericht vom Tötungsgeschäft, wird zum Abschluß des Buches ein aus lauter Kalamitäten wirr zusammengewebter Teppich der Geschichte ausgebreitet, Ausschußware, zu nichts gut, als von den Parzen verworfen und wieder aufgetrennt zu werden. Uns aber muß es nicht kümmern, solange wir in der stillen Muße eines Landhauses in Sebalds Prosabücher lesen, vier aus bunten Flicken vernähte, von den strengen Parzen ohne jeden Einwand gebilligte Webstücke, vier ans Lebendige heranreichendes Sprachkunstwerke voller Pracht und Vollendung, vier Gewänder, die dem Leser übergeworfen werden mit der Absicht, ihn einzuspinnen und zu verstricken. 
 


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