Mittwoch, 1. Februar 2012

Tired Eyes

Erschöpfte Detektive

Im Fernsehprogramm überwiegen die Filme mit kriminalistischem Einschlag gegenüber den verbrechensfreien, in den Buchhandlungen wachsen die mit Kriminalromanen gefüllten Regale ständig an. Mancher wird sich schon gefragt haben, warum in einer Umgebung, die den Frieden als höchstes Gut deklariert, so viele Menschen Mord und Todschlag als liebstes Freizeitvergnügen haben. Die Arten und Unterarten innerhalb der verbrechensgeneigten Film- und Literaturgattung sind ins Unermeßliche gewachsen. Neben den klassischen Detektiv englischer Provenienz, ausgezeichnet durch eine unfehlbare Beobachtungsgabe und eine nicht weniger unfehlbare Kombinatorik, trat schon bald der hard-boiled Private Eye amerikanischer Machart. Holmes und Poirot auf der einen und Marlowe und Spade auf der anderen Seite können sich mittlerweile an einer Unzahl mehr oder weniger verzerrter Spiegelbilder ihrer selbst erfreuen. Es gibt Serien, die eine ganze Polizeiwache oder NYPD-Precinct zum Protagonisten haben. Maigret steht wegen seiner unerschütterlich monogamen Einstellung ein wenig abseits, begründet aber vor allem die auf Einfühlung in das Milieu und, in der Endphase der Recherche, mystischer Versenkung beruhende Fahndungsmethode, ein schwerfälliger und fortwährend Tabakrauch ausstoßender Meister Eckhart im kriminellen Umfeld. Weitere wären zu nennen, insgesamt den Sieg davongetragen hat bis auf weiteres der auf den Hauptstraßen des Lebens gescheiterte, auf die eine oder andere Weise, wie es heißt, gebrochene Ermittler, ein Loser, der den Siegern nichts abgewinnen kann.

Verläßt man in der Buchhandlung das Regal mit den Kriminalromanen und gelangt in der Abteilung Deutsche Literatur zum Buchstaben S und dort zu Sebald, mag man glauben, sich vom Whodunit oder Roman Noir so weit entfernt zu haben wie nur möglich. Der Erzähler der Schwindel.Gefühle nennt aber das, woran er schreibt, und was dann die Schwindel.Gefühle sein werden, einen Kriminalroman. Die Vier langen Erzählungen sind sämtlich Ermittlungsberichte vor einer Wand enormer Verbrechen, ebenso die überlange Erzählung Austerlitz, und gleich zu Beginn der Ringe des Saturn wird eine Fahndung nach dem Totenschädel Thomas Brownes eingeleitet. Weitere Untersuchungen führen den Wanderer im Südosten Englands dann zum Zaun, der das Besitztum des Majors Wyndham Le Strange einfriedet und über den hinweg nur wenig zu erblicken ist.

Die Untersuchungen in Sebalds Büchern werden ganz überwiegend von dem hier Selysses genannten Erzähler durchgeführt, gegen Ende der Erzählung Paul Bereyter wird aber auch der Titelheld selbst investigativ tätig. Zur gleichen Zeit aber werden seine Augen endgültig müde, das Augenlicht droht zu erlöschen. Wyndham Le Strange ist schon bald dem, was er hatte sehen müssen, nicht mehr gewachsen und schränkt sein Gesichtsfeld radikal ein. Nachdem er an der Befreiung von Bergen Belsen teilgenommen hat, zieht er sich in noch jungen Jahren auf sein Landgut zurück, mit einer zum Schweigen angehaltenen Haushälterin und allem möglichen Federvieh, Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln als einzigen Gefährten bis zum Tod. In Jed Martin, dem Protagonisten aus Houellebcques letztem Roman, hatten wir einen Gesinnungsgenossen erkannt. Auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Erfolges als bildender Künstler Jed décida de déménager pour s’installer dans l’ancienne maison de ses grands-parents dans la Creuse. Er arrondiert das Grundstück durch Zukauf auf einen Umfang von nicht weniger als siebenhundert Hektar, zäunt das fortan ungenutzte Gelände ein und baut eine Straße hindurch, die es ihm erlaubt, ohne Berührung mit der umwohnenden Dorfbevölkerung von seinem Versteck aus einen einigermaßen entfernten Supermarkt zu erreichen. Indem sie ihm die biologische Existenz ermöglicht, tritt die Straße bei ihm gleichsam an die Stelle von Le Stranges Haushälterin.

Erstaunlich ist, daß ein ähnliches Verhalten inzwischen auch bei den Detektiven auftritt. In Peter Temples Buch Broken Shore (An Iron Rose, ein anderes Buch des Autors, hat ein ganz ähnliches Szenarium) hat Cashin, nach einem mißglückten Einsatz als homicide detective bei der Mordkommission Melbourne körperlich und seelisch erheblich lädiert, sich auf den Polizeiposten seines Heimatortes, einem kleinen Küstenflecks, versetzen lassen. Seine beruflichen Verpflichtungen sind kaum spürbar, vor allem anderen beschäftigt ihn der Wiederaufbau einer von seinem Großvater hinterlassenen einsamen Bauruine, eine Aufgabe, die seine Fähigkeiten im Grunde bei weitem übersteift, die er aber gleichwohl beharrlich verfolgt. Die Stelle des Federviehs bei Le Strange nehmen bei ihm zwei Königspudel ein. Der endgültige Übertritt ins Emeritenleben, eingemauert, ohne weitere Teilnahme an der Welt, hat sich bereits so gut wie vollzogen, als er dann doch in ein kriminalistisches Geschehen einbezogen wird, das der Autor mit viel Geschick aber gleichsam als Nebenhandlung präsentiert. Nur ein Schritt, nur ein Wimpernschlag der müden Augen, die nichts mehr sehen wollen, trennen den Detektiv vom säkularen Mönch.
Die offenliegenden Strukturen des Kriminalromans setzen verborgene Strukturen bei Sebald besser ins Licht. Der Kriminalroman ist ein legitimes Kind der Aufklärung. Die Wahrheit über das Verbrechen soll nicht länger durch ein Gottesurteil offenbart oder durch Folter erzwungen, sondern vom Detektiv mit dem Verstand eben: aufgeklärt werden. Aufklärung im philosophischen Sinn hat aber einen doppelten Sinn. Zum einen geht es um die Erhellung der Verhältnisse, mehr aber noch um die Erwartung, daß die geklärten Verhältnisse sich als klarer und heller erweisen, als zuvor vermutet, so als müsse das Licht alles, worauf es fällt, zum Guten verwandeln, als habe alles, was bislang im Dunklen lag, nur ungerecht beurteilt werden können, als habe jedes Vorurteil einen finsteren, jedes Urteil aber notwendig einen lichten Kern. Innerhalb dieses Erwartungshorizonts hätte dem Kriminalroman von Rechts wegen nur eine kurze Lebensdauer beschieden sein können, in einer gänzlich hellen Welt wäre ihm der Stoff ausgegangen. Offenbar aber ist der Vorrat an Dunkelheit unerschöpflich. Dem klassischen Detektiv war das nur recht, Holmes verfiel ohne zu lösenden Fall nach sehr kurzer Frist schon in Depressionen, Nero Wolfe war für seine aufwendige Haushaltung auf eine nicht abreißende Kette von Mandaten angewiesen. Immerhin, so konnte man glauben, wurde die Welt durch ihr Tun immer wieder für ein spürbares Stück zurechtgerückt. Dieses Gefühl ist den modernen Detektiven mehr und mehr abhanden gekommen und Sebald naturgemäß noch gründlicher. Von dem Kindheitstraum aber will auch er nicht lassen, dem Traum einer Welt, in der alles auf das beste geordnet war, so als setze sie sich tatsächlich bloß aus Wörtern zusammen, als wäre auch das Entsetzlichste in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit - ein Traum, der in all seiner Schlichtheit auch noch der elaboriertesten Erzählkunst zugrunde liegen kann, so als könne er hier, durch eine kleine Verschiebung nur, wahr werden. Viele, die das haltlos sich ausbreitende Dunkel spüren, versuchen, es durch Kriminalgeschichten notdürftig in Schach zu halten. Open up the tired eyes - aber nicht zu sehr.

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